Schöne neue Welt?

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Wir schreiben eine unbekannte, postapokalyptische Zeit, in der zum Wohle der Menschheit alles gleichgeschaltet ist. Gefühle sind nicht zugelassen, damit kein Neid entsteht, keine Missgunst, keine Aggressionen, denn nur das schützt vor Armut, Hass und Krieg. Äußerlich sieht man das an den absolut gleichförmigen Siedlungen und Wohneinheiten, in denen die Menschen sich strikten Regeln unterwerfen wie „in 15 Minuten ist Ihre Abendfreizeit beendet“. Dies kommt über Lautsprecher in den Wohnungen an. Dann heißt es Licht aus und Schlafen – für alle.


Jonas hat mit den anderen jungen Leuten seinen großen Tag. Es ist der Tag der Bestimmung. Jedem wird in einer feierlichen Zeremonie seine Berufung mitgeteilt. Jeder Einzelne wird mit dem Satz „vielen Dank für deine Kindheit“ in die Zukunft verabschiedet. Meryl Streep gibt hier die strenge weißhaarige Grande Dame des Ältestenrats. Jonas ist der letzte, der erfährt, wofür er vorgesehen ist: Er soll die Ablösung des jetzigen Hüters der Erinnerung (Jeff Bridges) sein, weil er etwas ganz Besonderes ist mit sehr außergewöhnlichen Gaben: Wenn es das hier überhaupt gäbe, dann würde ich es Empathie nennen. Er wird also Azubi des jetzigen Hüters der Erinnerung, muss sich jeden Tag bei ihm einfinden und seine Erinnerungen kennenlernen, sie verwahren in seinem Innersten.
Und so wie Jonas‘ Welt bislang schwarz-weiß war, so kommt allmählich Farbe mit den Erinnerungen in sein Leben. Aufregung, Spaß, Tanzen, Musik, Literatur, Empfindungen, Liebe. Das ist sehr schön gemacht, wie nach und nach die Dinge Farbe bekommen.
Es fängt mit der Farbe Rot an: Das Morgenrot am Himmel, rote Äpfel in einem Korb, manche Bücher in der Bibliothek bekommen einen roten Buchrücken.
Aber die Erinnerungen sind nicht nur positiv: Ob er schon reif ist dafür oder nicht, er bekommt auch Kriege mit, sinnloses Abschlachten von Tieren, Ängste und Hungersnöte. Und weil er auch nicht mehr die täglichen Injektionen zu sich nimmt, die jeder morgens ganz automatisch beim Verlassen der Wohneinheit bekommt (er hält einen Apfel an das Injektionsgerät), ist er bald ganz Herr seiner Sinne und sieht und fühlt klarer als alle anderen. Er sieht Dinge, die unstimmig sind und für ihn nicht in Ordnung, und so fängt Jonas bald an zu rebellieren, seine beiden besten Freunde anzustiften, alles zu hinterfragen. Jonas tritt nun eine ganz besondere Reise an, mit einem kleinen Bündel im Arm, das der nächste Hüter der Erinnerung werden könnte.

Ob er es schafft? Ob er die sichere aber langweilige schwarz-weiße Welt erlöst und ihr Farben und Gefühle zurückgibt?

Das Drehbuch entstand nach einem Roman von Lois Lowry, 1937 geboren, und ihrem Kinderbuch Hüter der Erinnerung aus dem Jahr 1993. Ein bisschen merkt man dem Film an, dass die Geschichte nicht mehr taufrisch ist. Aber eigentlich finde ich es schön, dass nicht geballert, geblutet und gesplattert wird, dass die Erzählweise recht ruhig ist und sich in schöner alter 70er-Jahre-Manier eine Geschichte entwickelt, die einfach zu Ende erzählt wird, ohne einen Teil 2, 3 und so weiter zu provozieren.
Der Schauspieler Jeff Bridges bemühte sich um eine Option auf die Filmrechte an dem Roman, mit seinem Vater Lloyd Bridges als Hüter der Erinnerungen. Er fand aber keine Geldgeber für die Verfilmung. Mittlerweile war er selbst alt und reif genug, um den Hüter der Erinnerungen spielen zu können.
The Giver hat mich an ein paar andere Filme erinnert: Die allmähliche Verwandlung von schwarz-weiß zu bunt wurde vortrefflich in Pleasantville gezeigt. Die Bestimmung, wie sie es in diesem Film (oder Roman) nennen, gibt es ebenso in Die Bestimmung, The Divergent, letztes Jahr bei uns in den Kinos erschienen, nur in rasanterem Tempo. Ja, und das Thema der „Erlösung“an einem Lebensende, und sei es noch so jung, wurde meines Erachtens nie so schonungslos und überraschend dargestellt wie in Jahr 2022 – Die überleben wollen (Soylent Green).
Und wer denkt bei Babys am Fließband nicht an Schöne neue Welt?

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Originaltitel: The Giver
Deutscher Titel: Hüter der Erinnerungen
In Deutschland erschienen: 2.10.2014
Länge: 97 Minuten
Regisseur: Phillip Noyce
Darsteller:
Jeff Bridges, Hüter der Erinnerung / Geber
Meryl Streep: Chefälteste
Brenton Thwaites: Jonas
Alexander Skarsgard: Vater
Katie Holmes: Mutter
Odeya Rush: Fiona

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