Schuld und Sühne

Die Murphys sind eine amerikanische Killing of a Sacred DeerBilderbuchfamilie: Vater Steven (souverän und charismatisch: Colin Farrell) ist erfolgreicher Herzchirurg, seine Frau Anna (von kühler Schönheit: Nicole Kidman) leitet eine Augenklinik, auch ihre Kinder, die 14-jährige Kim (Raffey Cassidy) und der 12-jährige Bob (Sunny Suljic) sind in jeder Hinsicht vorbildlich, wohlerzogen und Musterschüler. Dieser Idylle und Harmonie tut auch das etwas emotionslose Miteinander der Familienmitglieder keinen Abbruch, das darin gipfelt, dass die Eheleute eine skurrile sexuelle Praktik namens „Vollnarkose“ ausüben: Auf dieses Stichwort hin muss sich Anna bewegungslos aufs Bett legen, als habe sie gerade eine Totalanästhesie erhalten.
Außerhalb dieses familiären und des nicht minder sachlich-nüchternen beruflichen Kosmos pflegt Steven jedoch noch eine zunächst seltsam anmutende Freundschaft zu dem 16-jährigen Martin (mit einer Mischung aus teenagertypischer Verstocktheit und unterschwelliger Bedrohlichkeit grandios verkörpert von Barry Keoghan).

Die beiden treffen sich regelmäßig und reden über persönliche und persönlichste Themen. Steven schenkt ihm eine teure Armbanduhr – man könnte an ein sexuelles Interesse des Arztes an dem Teenager glauben, bis sich jedoch allmählich herausstellt, dass Martin der Sohn eines Patienten von Steven ist, der während einer von ihm durchgeführten Operation gestorben ist. Doch Martin scheint mehr zu wollen als väterlich tröstende, fürsorgliche Gesten. Er sucht Steven immer öfter auch ungebeten auf, drängt sich in dessen Familienleben und versucht ihn sogar mit seiner Mutter zu verkuppeln. Das mutet zunächst wie eine Stalker-Geschichte an, doch nun nimmt der Film die Wendung zu einem veritablen Mystery-Psychothriller.

Denn Martin will nichts anderes als Rache (der Tod seines Vaters ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Murphy während der Operation nicht nüchtern war) und erpresst Steven eines Tages mit einer wahrhaft irren Drohung: Er soll eines seiner Kinder opfern, sonst werde die gesamte Familie nach und nach elend und qualvoll sterben. Und tatsächlich zeigt Bob schon bald das erste der von Martin angekündigten Symptome: Von einem Tag auf den anderen sind, medizinisch nicht zu erklären oder zu behandeln, seine Beine gelähmt. Kurz darauf erleidet Kim das gleiche Schicksal … Wie der nun sich entfaltende kafkaeske Horror sich weiterentwickelt und welches Ende das alles nimmt, soll hier nicht verraten werden. Auf jeden Fall ist es teilweise nichts für schwache Nerven, so viel sei gesagt.

Doch der Film von Regisseur Yorgos Lanthimos ist weit mehr als ein surrealer Psychothriller, und zu Recht ist sein und Efthymis Filippous Drehbuch 2017 in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt worden. In perfekt arrangierten, unterkühlt wirkenden Bildern (Kamera: Thimios Bakatakis) wird hier ein griechischer Mythenstoff in die Jetztzeit transponiert: Agamemnon wurde von Göttin Artemis gezwungen, seine Tochter Iphigenie zu opfern, nachdem er einen heiligen Hirsch getötet hatte – daher der Filmtitel. Und so hat The Killing of a Sacred Deer, weit über manchen Schockeffekt hinaus, die emotionale Wucht einer altgriechischen Tragödie, bei der die Protagonisten unentrinnbar ihrem Schicksal ausgeliefert sind.
Unbedingt zu erwähnen ist auch der Soundtrack, der mit Chorälen von Schubert und Bach aufwartet, aber auch mit atonalen, zeitgenössischen Kompositionen z.B. von György Ligeti oder der Russin Sofia Gubaidulina, und der die mythologisch-religiöse Grundkomponente einerseits und die beklemmende Stimmung andererseits passend untermalt.

Großes Kino, intelligent, spannend, von enormer atmosphärischer Dichte und brillant gespielt.

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The Killing of a Sacred Deer
USA 2017
Buch: Efthymis Filippou / Yorgos Lanthimos
Regie: Yorgos Lanthimos
Darsteller: Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan, Raffey Cassidy, Sunny Suljic
Länge: 121 Minuten
Start in Deutschland: 28.12.2017

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