Pitchblacks Prosa: Klassiker III

 

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Es lebt!

Es ist wohl eine der Geschichten, die man niemandem mehr groß zu erklären braucht. In Grundzügen kennt sie jeder, ob nun in einer seiner besten Verfilmungen der Moderne, mit Robert De Niro oder in der Persiflage The Munsters. Es ist die Rede von Frankenstein, der wohl zu den zeitlosesten Monsterklassikern gehört. Allerdings geht es hier um keinen Film, sondern um das Buch, im Jahre 1816 von der gerade mal 19-jährigen Mary Shelley geschrieben.

Es beginnt alles ganz harmlos, völlig ohne schauerliche Monster und dergleichen. Der erste Teil der Geschichte wird in Form eines Briefromans vorgetragen, in dem Robert Walton an seine Schwester schreibt. Er plant von St. Petersburg aus eine Expedition, um eine Route zum Nordpol zu entdecken. Auf der Reise wird das Schiff vom Eis eingeschlossen, und der Mannschaft bleibt wenig mehr übrig als abzuwarten. Währenddessen beobachten sie einen Hundeschlitten, gesteuert von einer riesenhaften Gestalt, der gen Norden fährt. Tags darauf nehmen sie den Führer eines zweiten Schlitten an Bord, welcher den Riesen offenbar verfolgt hatte. Er ist am Ende seiner Kräfte, schwer krank und wird von Walton gepflegt. Als er sich langsam erholt, beginnt er seine Geschichte zu erzählen und nennt seinen Namen: Er ist Viktor Frankenstein.

Ab diesem Punkt schwenkt das Buch weg von Waltons Briefen zu der Sicht Frankensteins. Er wächst in Genf auf und zeichnet sich schon in seiner Kindheit durch eine hohe Intelligenz und einen schier unstillbaren Wissensdurst aus. Früh bekommt er Werke von Cornelius Agrippa, einem Alchemisten des 15./16. Jahrhunderts, und dessen Gesinnungsgenossen Albertus Magnus und Paracelsus in die Hand. Zunächst maßlos begeistert von den Alchemisten erkennt er bald, dass deren Werke veraltet und überholt sind. So zieht er mit nur 17 Jahren nach Ingolstadt, um an der damals berühmten dortigen Universität die Naturwissenschaften zu studieren. Er saugt das Wissen geradezu in sich auf und findet auch bald wieder einen Zugang zu den Werken der Alchemisten, seinen „alten Mentoren“, und meint in ihnen das Geheimnis zu finden, wie man toten Dingen Leben einhauchen kann.

Leben aus der Leblosigkeit

Diese Erkenntnis erschüttert das Leben des jungen Frankenstein. Er beschließt, sich ein eigenes menschliches Wesen zu erschaffen. Ein perfektes Wesen soll es werden, doch als nach Monaten die Arbeit vollendet ist, ekelt sich Frankenstein schon beim ersten Atemzug vor seiner Schöpfung. Von riesiger Statur und atemberaubender Hässlichkeit ist sie, geradezu furchteinflößend. So flieht Frankenstein aus seinem Labor. Am nächsten Morgen ist das Monster verschwunden, seine Werkstatt leer. Erschöpft von der Überarbeitung und mitgenommen von dem Schock erkrankt Frankenstein an einem Nervenfieber, von dem er sich nur langsam wieder erholt. Mittlerweile ist er dazu übergegangen, die Erinnerung an seine Schöpfung zu verdrängen.

Im Sommer darauf reist Frankenstein zurück nach Genf, um seine Familie zu besuchen. Kurz vor seiner Abreise jedoch erreicht ihn die Nachricht, dass sein jüngster Bruder Wilhelm ermordet wurde. Natürlich eilt Frankenstein sofort nach Hause und sieht noch in derselben Nacht, in der er Genf erreicht, eine riesenhafte Gestalt, und er kommt zu der Überzeugung, dass seine Schöpfung wohl immer noch existiert und auch der Mörder sein muss. Allerdings schafft es das Monster, dass statt seiner das Hausmädchen der Frankensteins beschuldigt, schließlich verurteilt und hingerichtet wird.

Das große Geheimnis

Aus Angst als irrsinnig bezeichnet zu werden, erzählt Frankenstein niemandem von dem Monster, er unternimmt stattdessen Streifzüge in die Berge, um auf andere Gedanken zu kommen. Auf einem dieser Wanderungen begegnet er ihm, seiner Schöpfung. Hoch oben auf einem Gletscher, wie er sich mit unmenschlicher Schnelligkeit und Sicherheit über das Eis bewegt. Doch das Wesen will seinen Schöpfer nicht ebenfalls ermorden, es möchte reden. Es erzählt nun seinerseits seine kurze Lebensgeschichte, die von Ablehnung, Abscheu und Hass seitens der Menschen, denen er begegnete, geprägt ist. Einstmals naiv und grundlegend von herzensguter Natur hat eben dieses Verhalten der Menschen ihm gegenüber, obwohl er doch nichts für sein Aussehen kann, den Hass in ihm entfacht. Deswegen bittet er Frankenstein, ihm eine Frau zu erschaffen, ein Wesen wie er selbst, ebenso hässlich, von dem er sich Liebe erhofft. Nach langem Zögern willigt Frankenstein ein und begibt sich dazu auf eine Reise nach England, zusammen mit seinem Kindheitsfreund Henri. Auf einer abgelegenen Insel der Orkneys will er sich schließlich an sein Werk machen.

Kurz vor der Vollendung der Frau für das Monster stürzt Frankenstein in tiefe Zweifel, dass dieses neue Wesen ebenso von Hass erfüllt sein könnte, und vernichtet den unfertigen und noch unbelebten Körper. Zu seinem Unglück hat das Monster ihn beobachtet und ermordet, während Frankenstein den Heimweg antritt, Henri. Die Kreatur versucht dies seinem Erschaffer in die Schuhe zu schieben, was jedoch misslingt. Daheim angekommen möchte Frankenstein trotz allem seine Jugendliebe Elisabeth heiraten. Jedoch ermordet seine nun vollends vom Bösen erfüllte Kreatur die Braut noch in der Hochzeitsnacht. Dies ist ein Schock, der auch Frankensteins Vater nur wenige Tage später dahinrafft. Nun schwört Viktor seinerseits Rache und macht sich auf zu einer Jagd, um seine Kreatur zur Strecke zu bringen. Dieser ist sich dessen bewusst und lockt ihn auf einer langen und zehrenden Reise immer weiter nach Norden, wo schließlich Frankenstein, dem Tode nahe, von Waltons Schiff aufgesammelt wird.

Tod im ewigen Eis

Nachdem er seine Geschichte berichtet hat, stirbt Frankenstein bald, und auch Walton bricht seine Expedition ab, um seine Mannschaft im ewigen Eis nicht weiter zu gefährden. Doch eines Nachts, das Schiff ist schon auf dem Heimweg, findet Walton das Monster in seiner Kabine, über den Leichnahm seines Vaters gebeugt und ihm die letzte Ehre erweisend. Nun selbst durch seine Taten mit Ekel vor sich selbst erfüllt kehrt die Kreatur ins Eis zurück, um dort sich selbst auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen.

Wer ist hier das Monster?

Legt man dieses Buch beiseite, so ist man sich nicht sicher, wer in dieser Geschichte nun das Monster ist. Sicherlich, da ist auf der einen Seite die hässliche und monströse Kreatur, die mordet. Auf der anderen Seite ist ein einst strahlendes Genie, der sich aufschwingt ein wenig Gott zu spielen und selbst einen Menschen zu erschaffen. Lässt man alles Revue passieren, so erkennt man: Das wahre Monster ist Viktor Frankenstein. Er ist es, der die düsteren Pfade des Wissens beschreitet, die ihn schließlich zur Erschaffung des Wesens bringen. Er sucht die Teile aus, die die Kreatur letzten Endes entstellen. Und er ist derjenige, der Leben erschafft, es aber in dem Moment, in dem es erwacht, von sich stößt. Er ignoriert die Verantwortung, die er gegenüber seiner Schöpfung hat, läuft davon und versucht es zu ignorieren. Tatsächlich hat das Wesen in der ganzen Geschichte noch nicht einmal einen Namen bekommen. Hätte er seine Pflichten als Erschaffer oder Vater des Wesens wahrgenommen, es erzogen und ihm Zuneigung entgegen gebracht (im Grunde ist dies das Einzige, das es möchte), wären die grausamen Dinge der Geschichte vielleicht nie geschehen. Mehrmals deutet Shelley in der Geschichte an, dass das sogenannte Monster eigentlich ein gutes Wesen war und auch immer sein wollte. Als jedoch Frankenstein ihm die in seinen Augen einzige Chance auf Liebe und Zuneigung zunichte macht, entschließt sich die Kreatur, dass auch Frankenstein selbst Einsamkeit und Verzweiflung kennenlernen soll. Hier muss man beachten, dass das Monster ja noch sehr jung war. Auch wenn es durch die Lektüre von Büchern durchaus gebildet erscheint, ist es am Ende der Geschichte nur wenige Jahre alt. Wegen seiner Andersartigkeit steckt er allerdings in einer tiefen Identitätskrise, die er schlicht nicht verarbeiten kann. Frankensteins Ablehnung lässt das Gefühlsleben des Monsters am Ende endgültig ins Böse abkippen, weil er bisher nichts anderes als negative Gefühle erlebt hat. Sein Schöpfer bleibt ein gebrochener Mann, der nach dem Himmel griff, um durch sein eigenes Versagen in tiefste Tiefen zu stürzen, eben der moderne Prometheus, wie der Originaltitel schon besagt.

Damals, 1816

Nach so einer schaurigen Geschichte möchte man durchaus glauben, dass Mary Shelley selbst mit einigen psychologischen Problemen zu kämpfen hatte, immerhin war sie erst 19 Jahre alt. Tatsächlich aber war der Anreiz zu schreiben ein völlig harmloser: Im Jahr 1816 verbrachte Mary Shelley (damals noch Mary Godwin) einen Sommer mit Freunden in der Nähe des Genfer Sees. Da allerdings der Ausbruch des Vulkans Tambora ein Jahr zuvor beinahe nur schlechtes Wetter verursachte, quasi den Sommer ausfallen ließ, konnten die Anwesenden nicht sehr oft vor die Tür gehen. Also beschloss man, zum Zeitvertreib eine Gruselgeschichte zu schreiben und den anderen vorzutragen.
Inhaltlich muss man wissen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts die „Galvanisten“ recht viele Anhänger hatten, darunter auch Mary Shelleys Ehemann Percy Bysshe Shelley. Diese beschäftigten sich unter anderem mithilfe der ersten elektrischen Batterie (einem Klotz von einem halben Meter Höhe, der 100 Volt erzeugen konnte) mit Experimenten, bei denen Muskeln toter Körper zum Zucken gebracht wurden, teilweise so stark, dass Anwesende an Wiederbelebung glaubten. Durch Percy bekam die junge Mary natürlich die ganzen Ereignisse brühwarm berichtet. Es ist also kein Wunder, dass damals aufregende und spannende wissenschaftliche Entdeckungen eine junge, offenkundig talentierte Schriftstellerin inspirierten. Somit scheint nur harmlose Langeweile, eine blühende Phantasie, Talent und eine für die Naturwissenschaften turbulente Zeit für das Buch Frankenstein verantworlich zu sein, nicht jedoch eine Geisteskrankheit.

„Alsbald ward er von den Wogen hinweggetragen …“

Zum Schluss bleibt zu sagen, dass dies ein Klassiker ist, den jeder mal gelesen haben sollte, sofern er der fantastischen Literatur wenigstens auch nur ein bisschen zugetan ist. Für heutige Verhältnisse ist die Sprache des Buches recht blumig und gestelzt, aber man gewöhnt sich sehr schnell daran. Auf eine faszinierende Weise schafft es Shelley in ihrer wohl berühmtesten Geschichte, Spannung und auch Gänsehaut zu erzeugen, ohne große, offensichtliche Grusel- oder Ekeleffekte, mehr durch die menschlichen Abgründe, die sich auftun. Und eine große Erkenntnis bleibt nach allem noch zusätzlich: Frankensteins Monster war ein Bayer!

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Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus
Verlag (rezensierte Ausgabe): Anaconda, VÖ.: Original 1818, rezensierte Ausgabe 2009
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