Seit 2009 erkundet Wolfram Bange mit seinem Projekt Phasenmensch die Grenzen elektronischer Musik und vereint Geräusche, Klänge, Farben, Rhythmus, Zeit, Textfragmente und Bilder zu einem sehr persönlichen Sound und einzigartigen Klangräumen, die lange nachwirken. 2019 feierte das Projekt mit dem Album „Haunted [The Gentle Indifference Of The World]“ (Rezension hier) sein zehnjähriges Jubiläum.  Ein neues Album ist bereits in Planung!

In unserem Interview blickt der Künstler zurück auf seine Kindheit, Jugend und die ersten musikalischen Erinnerungen und spricht über den Sound von Phasenmensch, Klang, Stille,  Kreativität, die Bedeutung von Natur für das musikalische Schaffen, seinen Podcast „Phasenmensch im Gespräch…“ und blickt auf das neue Album, das im Frühjahr erscheinen wird.  Herzlichen Dank, Wolfram!

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Wie bist du aufgewachsen? Gab es einen besonderen Moment, der dich dazu inspiriert hat Musik zu machen?
Ich stamme zwar nicht aus einer Musiker:innenfamilie, habe aber schon sehr früh eine ausgeprägte Begeisterung für Musik an den Tag gelegt. Insbesondere als Jugendlicher war Musik für mich, wie wahrscheinlich für viele andere auch, ein wichtiges emotionales Ventil. Sie half mir dabei, Gefühle zu katalysieren oder wirkte kathartisch.
Darüberhinaus habe ich bereits in meiner frühen Jugend, wahrscheinlich zum Leidwesen meiner Eltern, immer auch gerne schon frei mit Instrumenten experimentiert und entsprechende „Ergebnisse“ oft über die vorhandene Kompaktanlage auf Kassette aufgenommen.
Irgendwann überreichte mir ein Schulfreund auf dem Schulhof eine gebrannte CD mit einer frühen Version der DAW „Fruity loops“, die er aus dem Internet heruntergeladen hatte und der ich mich zunächst autodidaktisch näherte. Das empfand ich als herausfordernd und war fasziniert davon. Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis ich das Unterfangen des Musizierens wirklich ernsthaft angehen konnte.
In meiner Studienzeit habe ich im Jahr 2009 damit begonnen, mit einem Freund Parties („Electronic Avengers“) in Düsseldorf zu organisieren und elektronische Musik aufzulegen. Auch das war ein wichtiger Schritt im Hinblick auf alles, was danach folgte, weil ich beim Auflegen mit Stücken experimentieren konnte, die ich gut kannte und mochte.
Ein weiterer Schlüsselmoment in dieser Zeit war die Auseinandersetzung mit der DIY-Kultur der Industrial- und Noise-Szene, der ich im Rahmen von Veranstaltungen wie dem „Forms of Hands“, dem „Maschinenfest“ und auch dem „Elektroanschlag“ originär begegnet bin. Jenseits der großen kommerziellen Festivals wirkte diese Welt des intensiven und ungefilterten musischen Ausdrucks plötzlich deutlich authentischer und nahbarer als alles, was ich zuvor kennengelernt hatte. Diese Veranstaltungen zeigten mir die Demokratisierung des Mediums und machten mir Mut, das Musizieren selbst einmal konsequenter ausprobieren zu wollen. Parallel zu den Festivalerfahrungen und unseren Parties fasste ich im Jahr 2009 dann den Entschluss, das Projekt „Phasenmensch“ ins Leben zu rufen und begann zunächst mit einem ersten Synthesizer und einer Trial-Version von Cubase. Dabei habe ich, nach intensiver Einarbeitung, schnell bemerkt, dass das Musizieren für mich etwas Meditatives und Reinigendes hat. Ich trat durch das Musizieren in einen Dialog mit mir selbst und lernte ganz neue Seiten und Facetten meiner Persönlichkeit kennen. Diese Form des kreativen Ausdrucks schaffte stets einen wichtigen Ausgleich zum fordernden Studienalltag, und parallel dazu produzierte ich in der Zeit von 2011 bis 2013 zusammen mit Freund:innen Dokumentationen über entsprechende Festivals, um diese Erfahrungen mit anderen zu teilen. Viele der Künstler:innen und der Label-Vertreter:innen sind inzwischen gute Bekannte und/oder sehr gute Freund:innen geworden.

Was sind deine ersten musikalischen Erinnerungen? Woher kommen dein Interesse und deine Faszination für (elektronische) Musik?
Elektronische Musik hat mich eigentlich schon immer sehr fasziniert, da ich schon als Kind unfassbar gerne Computer- und Videospiele gespielt habe und somit bereits sehr früh mit den Sounds von Heimcomputern wie dem C-64 und dem Amiga 500 in Berührung kam. Der charakteristische Klang der jeweiligen Soundchips war faszinierend, und ich begann zunächst damit, Mixtapes mit meinen Lieblingssoundtracks aus Spielen auf Tapes aufzunehmen, indem ich die Rechner an die Heimanalge anschloss und die Musik aus Demos, Intros und Spielen einfach mitschnitt. Als dann später die ersten CD-Rom-Laufwerke verfügbar waren, wurde es deutlich leichter, die Soundtracks von Spielen auf Kassette, MD oder CD zu überspielen, da viele der Soundtracks bereits als Audiotracks auf den Discs verfügbar und im CD-Player abspielbar waren. Insbesondere die Soundtracks von „Quake“ (1996), des ersten „Unreal Tournament“-Spiels (1999), der „Silent Hill“- (1999-2014) und auch der „Wipeout“-Reihe (1995-2017) spielten bei der Prägung und Ausbildung meines Musikgeschmacks eine wichtige Rolle, da ich mir aus diesen ebenfalls Mixtapes bastelte und weil die Klangästhetik und Atmosphäre vieler dieser Stücke mich sehr beeindruckt hat.
Parallel dazu entdeckte ich, unter anderem durch den Musiksender „VIVA Zwei“ und ältere Freund:innen, Bands und Künstler:innen wie Portishead, Björk, Boards of Canada, Aphex Twin und Atari Teenage Riot. Und so eröffneten sich mir im Laufe der Zeit immer weitere neue Genres und Stile.

Was ist Klang für dich?
Beim Nachdenken über diese Frage, musste ich als erstes an Edmund Husserls „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ denken. Darin beschreibt Husserl die Bewusstseinsphänomene „Retention“ und „Protention“ und erläutert diese anhand der Art und Weise, wie wir den Zusammenhang von Tönen wahrnehmen und antizipieren. Das im Detail zu erläutern, würde jetzt den Rahmen sprengen, aber diese Assoziation wollte ich nicht unerwähnt lassen.
Für mich ist Klang etwas unfassbar Mächtiges. Bestimmte Klänge erzeugen bei mir sehr starke emotionale und körperliche Reaktionen in einer Intensität, die ich beim Lesen von Belletristik und beim Schauen von Filmen nur selten spüre. Ich liebe es, wenn Klang den ganzen Körper zum Hörorgan werden lässt und eine „Wall of Sound“ über einen hereinbricht. Deshalb sind Konzerte sicher auch das, was ich seit Beginn der Pandemie am meisten vermisse.

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Was ist für dich der Sound der letzten Dekade? Wie würdest du die letzten zehn Jahre musikalisch beschreiben?
Inzwischen bin ich in musikalischer Hinsicht sehr vielseitig interessiert und habe mich bewusst immer mehr für verschiedene Genres und Stile jenseits der eigenen Komfortzone geöffnet, da es fast überall interessantes und herausforderndes Material zu entdecken gibt, wenn man bereit ist, entsprechend in die Tiefe zu gehen. Für mich war und ist es wichtig, die Veränderungen von Szenen und die Dynamik des Kreativen mit offenen Armen zu empfangen und nicht in Komfortzonen des eigenen Geschmacks zu verweilen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich als „Phasenmensch“ bezeichne.
Prägende Label waren ursprünglich natürlich „Warp Records“, „Sub Pop Records“, „Ninja Tune“,„HANDS“ und „Ant-Zen“ und in den letzten zehn Jahren haben Label wie „Denovali“, „Erased Tapes“, „Thrill Jockey“, „Tri Angle“, „Profound Lore Records“, „Blackest Ever Black“ und „Posh Isolation“ signifikant zur Horizonterweiterung und zum Soundtrack meines Lebens beigetragen.
Darüberhinaus ist der regelrechte Boom an Gaming-Soundtracks der letzten zehn Jahre für mich ein ebenfalls sehr begrüßenswertes Phänomen. Viele meiner Lieblingssoundtracks von früher und von aktuellen Lieblingstiteln wie „Kentucky Route Zero“ oder „Disco Elysium“ sind inzwischen endlich auf Vinyl verfügbar und Label wie „Black Screen Records“ aus Köln leisten diesbezüglich ganz tolle Arbeit.
Einen bestimmten „Sound der Dekade“ gibt es für mich eigentlich nicht. Ich habe den Sinn für Hierarchien inzwischen weitestgehend verloren und begrüße die voranschreitende Demokratisierung und Diversifizierung des Mediums. Es freut mich und stimmt mich hoffnungsvoll, dass viele junge Künstler:innen weiterhin überaus energetisch, experimentierfreudig und mutig daherkommen, sich auf die Suche nach ihrer Stimme begeben und dabei Grenzen der Definition von Musik weiter ausloten, um sich auszudrücken und ihre Erfahrungen/Perspektiven mit dem Rest der Welt zu teilen. Diese neuen Stimmen, Klangwelten und Perspektiven faszinieren mich. Bitte mehr davon!

Welche Grenzen möchtest du mit deiner Musik ausloten?
In erster Linie meine eigenen. Für mich ist die Arbeit an einem Album Ausdruck eines persönlichen Wachstums.

Deine Musik spielt mit Raum und Stille. Was bedeuten Raum und Stille für dich? Gibt es bestimmte Räume/Orte für dich, die du mit Stille assoziierst?
Nun ja, Klang und Raum sind untrennbar miteinander verknüpft und ohne Stille bzw. Dynamik verliert Klang letztlich seine Intensität. Klangräume zu entwickeln ist in hohem Maße komplex und ebenso spannend wie anspruchsvoll. Sounds entsprechend anzuordnen und zu arrangieren, um einen bestimmten Raum zu erzeugen, trägt ganz signifikant zur Klangästhetik bei.
Auch das Spiel mit Stille empfinde ich als große Herausforderung und bewundere Künstler:innen, die bewusst damit arbeiten, ihre Hörer:innen herausfordern und zu Grenzgänger:innen diesbezüglich werden. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist das Album Demiurge von Emptyset bzw. Veröffentlichungen wie die „Xerrox“-Reihe von Alva Noto oder „nyx“ von m².
Für mein Projekt würde ich mir von mir diesbezüglich manchmal noch etwas mehr Mut wünschen, aber im Hinblick auf das kommende Album waren Antoine und ich schon sehr experimentierfreudig.

Wie beeinflusst dein Umfeld/deine Umgebung deine Arbeit? Welchen Einfluss hat die Urbanität der Großstadt auf deine Kunst? Inwieweit inspiriert dich urbane Kultur und ggf. die Auseinandersetzung damit?
Das meiste verarbeite ich wahrscheinlich eher implizit. Ich setze mich nicht mit festen Vorstellungen an die Geräte, sondern nähere mich der Arbeit eher spontan und intuitiv. Für mich ist die Arbeit in meinem kleinen Schlafzimmer-Studio eher ein Safe Space gegenüber der Großstadt, die mich umgibt. Ein Ort, an dem ich vieles von der Reizüberflutung und dem alltäglichen Trubel einfach ausblenden und vergessen kann. Sicher hat das Urbane damit auch einen Einfluss auf meine kreative Arbeit, aber in erster Linie sind es Romane und philosophische Texte, die mich signifikant und explizit prägen, wenn ich mir meine akustischen Räume baue.

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Wenn du zurückblickst – wie hat sich deiner Meinung nach dein Sound/deine Musik in den letzten Jahren verändert?
Durch die Zusammenarbeit mit vielen befreundeten Künstler:innen und Freund:innen habe ich über die Jahre viel gelernt und mir einige Vorgehensweisen und Produktionstechniken angeeignet, die ich natürlich immer weiter auszubauen und zu reflektieren versuche. Im Vergleich zu früher kann ich vieles inzwischen schlichtweg besser benennen und arbeite mit meinen Geräten und Mitteln deutlich bewusster.

Wie wichtig ist dir Natur? Welche Rolle spielt Natur in deinem Leben und in deiner Kunst?
Die Unermesslichkeit der Natur weist uns und unsere Wahrnehmung stets in unsere Schranken und begegnet uns mit einer unfassbaren (nicht immer zärtlichen) Indifferenz, der wir letztlich ausgeliefert sind. Darin liegt aber auch etwas Unwiderstehliches. Kant hat diese Faszination und das Gefühl der Ohnmacht bei der Beobachtung von Naturspektakeln in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als das Erhabene beschrieben. Solange wir uns in Sicherheit wiegen, empfinden wir die Macht der Natur als faszinierend, anziehend und erhaben, obwohl (oder gerade weil) wir gleichzeitig auch an unsere eigene Bedeutungslosigkeit erinnert werden. Julia Kristeva spricht von der „zärtlichen Gleichgültigkeit“ der Welt und auch bei Schopenhauer finden sich diesbezüglich ähnliche Gedanken.
Unabhängig davon ist Natur für mich in meinem Alltag auch immer eine wichtige Kontrasterfahrung zum Urbanen und selbstverständlich auch ein Politikum. In Anbetracht der drohenden menschengemachten Klimakatastrophe bin ich jemand, der sich im Alltag aktiv für Klimaschutz und entsprechende Aufklärung einsetzt und sich kritisch mit dem Verhältnis von Ökologie und Ökonomie beschäftigt. Im Austausch mit meinen Schüler:innen merke ich sehr deutlich, wie frustrierend es für sie ist, dass ältere Generationen derart unbedacht auf Kosten ihrer potentiellen Zukunft leben.
Was den Bezug zu meiner Musik betrifft, kann ich an dieser Stelle verraten, dass das Thema „Natur“ auf dem kommenden Album eine sehr wichtige Rolle spielen wird. Aber dazu später mehr.

In welcher Beziehung steht und/oder reflektiert der visuelle Aspekt deine Musik? Was fasziniert dich an der Beziehung zwischen Musik und Design?
Eine funktionierende Synthese von Sound und Bild empfinde ich oft als große Bereicherung. Entsprechende Visualisierungen überlasse ich aber gerne denjenigen, die im Vergleich zu mir diesbezüglich etwas mehr Expertise an den Tag legen. Ich habe in den letzten Jahren immer wieder mit dem Künstler Teye Gerbracht (LINK) zusammengearbeitet, der inzwischen für viele Cover und Videos von Phasenmensch mitverantwortlich ist.

Was hat deinen persönlichen Musik- und Kunstgeschmack im letzten Jahrzehnt beeinflusst?
Sicherlich so gut wie jede prägende und entsprechend verarbeitete Erfahrung, die ich in dieser Zeit gemacht habe und die mir so einen neuen Zugang zu Inhalten jeglicher Art ermöglicht hat. Jeder euphorische Höhenflug ebenso wie jedes tiefe Tal der Depression – das Leben in all seinen Facetten halt. Menschen sind gekommen und gegangen, neue Möglichkeiten haben sich eröffnet und andere sind verschwunden – „Alles Vergängliche Ist nur ein Gleichnis“ (Goethe).
Ich habe mich in den letzten zehn Jahren außerdem viel mit den Gedanken von bell hooks, Arthur Schopenhauer, Eugene Thacker und Karl Jaspers beschäftigt, und alle waren wichtige Einflüsse, wenn es um meine Perspektiven und meinen Geschmack geht. Ich würde sagen, dass ein positiver Nihilismus inzwischen einen großen Teil des Fundaments meiner Persönlichkeit ausmacht.
Des Weiteren hat die Diversifizierung der Gesellschaft mich und meinen Geschmack sicher auch beeinflusst. Ich begrüße die daraus resultierende Vielfalt und bin unfassbar froh darüber, dass Musik, Kunst und Literatur dadurch abwechslungsreicher werden und sich uns neue Perspektiven eröffnen. Eine ständige Wiederholung weißer männlicher Tropes hängt mir nämlich inzwischen sehr zum Hals heraus, und Geschmack ist stets etwas Dynamisches.

Was denkst du über Kreativität, und wie kanalisierst du sie?
Kreativität ist leider viel zu oft ein Privileg, weil viele Menschen gezwungenermaßen tagein, tagaus nur mit dem blanken Funktionieren bzw. Überleben beschäftigt sind. Aber sie bahnt sich ihre Wege, da, so denke ich zumindest, jeder Mensch letztlich nach irgendeiner Form von Ausdruck strebt und seine Sprache zu finden versucht, um sich zu verstehen und verstanden zu werden.
Widerstände können in dieser Hinsicht sicher auch produktiv sein, sollten aber nicht romantisiert oder schöngeredet werden, wenn sie auf gesellschaftliche Zwänge, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zurückgeführt werden müssen. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Romantisierung von psychischen Erkrankungen, die im kreativen Bereich leider immer noch viel zu häufig stattfindet. Eine Depression mit einer Muse zu verwechseln ist in hohem Maße gefährlich.
Für mich funktioniert das kreative Arbeiten am besten, wenn ich mich kognitiv und zeitlich uneingeschränkt darauf einlassen kann. Im Alltag und den damit einhergehenden Pflichten kommt es für mich leider oft zu kurz, weil die Erschöpfung am Ende eines Tages häufig einfach zu groß ist. Am liebsten nehme ich mir am Wochenende oder in den Ferien mindestens einen ganzen Tag bzw. eine ganze Nacht Zeit und lasse mich auf dieses fokussierte Arbeiten ein. Ein Privileg, ich weiß.

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Du machst schon lange Musik. Wie siehst du das letzte Jahrzehnt? Was hat sich im Laufe der Jahre verändert und was reizt dich an der Zukunft?
Mich stört die Tatsache, dass Musik für viele zu einem reinen und schnelllebigen Gebrauchsmedium ohne Wert verkommen ist. Gerade, wenn Produzent:innen formalisierten Mustern folgen, um einen Algorithmus zu bedienen, der einem eine große Reichweite verschafft, verkennt man damit die eigentlichen Möglichkeiten der Demokratisierung und Diversifizierung des Mediums und fördert die Unmündigkeit von Hörer:innen. Glücklicherweise gibt es aber, jenseits der Spitze des Eisbergs, unendlich viel Spannendes und Herausforderndes zu entdecken. Es ist heute leichter denn je, Abgefahrenes zu entdecken und sich darüber aktiv auszutauschen.
Dass physische Medien langfristig zu verschwinden drohen, kann und möchte ich nicht beurteilen. Ich selbst bin ein passionierter Sammler und Archivar und merke, dass der Prozess des Sammelns und Pflegens für mich die bewusste Auseinandersetzung mit Kunst begünstigt bzw. befördert. Ich denke aber auch, dass es vielen anderen Menschen sicher auch ohne diese Komponente gelingt, sich Musik bewusst und reflektierend zu widmen.

Gibt es Künstler:innen, die dich besonders faszinieren und begeistern? Welche Songs oder Alben der letzten Dekade haben eine besondere Bedeutung für dich?
Ich bin kein Fan von Institutionalisierung und Personenkult, weshalb ich nicht pauschal von andauernder Faszination bzw. Verehrung gegenüber einzelnen Künstler:innen oder Bands sprechen würde, aber einige Projekte und deren Veröffentlichungen haben mich seit ihrer Erscheinung die letzten zehn Jahre über durchaus sehr konsequent begleitet. Dies sind die Folgenden, die ich an dieser Stelle am liebsten für sich sprechen lassen möchte:
Low – „Double negative“ (LINK),  Swans – „To be kind“ (LINK),  Björk – „Vulnicura“ (LINK),  Bell Witch – „Mirror Reaper“ (LINK), Alessandro Cortini – Forse I-III (LINK), Lingua Ignota – „Caligula“ (LINK), The Body – „I shall die here“ (LINK), Ian William Craig – „Meaning turns to whispers“ (LINK), Deafheaven – „Ordinary corrupt human love“ (LINK), Forest Swords – „Engravings“  (LINK), Arca – „Mutant“ (LINK) .

Welche Themen bewegen dich derzeit in deiner Arbeit als Künstler? Woran arbeitest du gerade? Was steht für dich musikalisch als nächstes auf dem Programm? Was sind deine Pläne, Hoffnungen und Wünsche?
Vor knapp zwei Wochen ist endlich die Arbeit am neuen Album abgeschlossen worden. Antoine und ich haben die letzten beiden Jahre sehr konsequent an dem neuen Material gearbeitet und blicken nun auf einen sehr intensiven und bereichernden Prozess der kreativen Zusammenarbeit zurück. Im Zuge der Pandemie haben insbesondere die Felder „Weird Fiction“ und „Kosmischer Horror“ mich stark beschäftigt, und ich habe entsprechende Romane, Spiele und Filme regelrecht verschlungen. Über einige davon habe ich dann auch im Rahmen meines Podcasts „Phasenmensch im Gespräch“ mit Freund:innen gesprochen und mit meinem guten Freund Antoine habe ich mich intensiv mit Jeff Vander Meers „Southern Reach“-Trilogie aus dem Jahr 2014 und Alex Garlands Verfilmung von „Annihilation“ beschäftigt.
Der Roman „Annihilation“ hat uns somit einen wichtigen Impuls bzw. das Konzept für das neue Album geliefert, und wir haben einen eigenen Soundtrack zu der Vorlage komponiert, indem wir uns in die Protagonistin hineinversetzt und die Themen des Romans ausführlich exploriert haben. Dementsprechend ist das Album sicher anders als seine Vorgänger, aber gerade diese neue Herausforderung hat uns beide an dieser Arbeit sehr gereizt.
Tja, bleibt nur noch zu sagen, was ich mir wünsche … Weniger Konservatismus, weniger Anti-Intellektualismus und stattdessen ein ausgeprägteres Nachhaltigkeitsbewusstsein, mehr Anerkennung und Respekt für die freie Entfaltung von Persönlichkeiten, mehr Unterstützung und Raum für Kunst und Kreativität.

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