Die Grand Dame des Electro Wave

Anne Clark habe ich nur einmal live gesehen, und das ist 20 Jahre her: 29.10.1995 in Hamburg in den legendären Docks. Ich habe sie dann etwas aus den Augen verloren, und weiß eigentlich selbst nicht genau warum. Vielleicht, weil sich mein musikalisches Interesse eher von elektronischen Sachen weg entwickelte. Und mit Konzerten hat es irgendwie nie geklappt. Trotzdem wollte ich mir dieses Konzert im Rahmen der Abschiedstournee „Wasted Wonderland“ nicht entgehen lassen.

Ich bin spät dran, als ich im Ampere eintreffe. Es ist bereits brechend voll, und Jeff Aug hat gerade begonnen. Zum Glück kann ich rechts auf der kleinen Tribüne noch einen Platz mit guter Sicht ergattern. Die Musik ist sehr ruhig, da Jeff Aug alleine und nur mit einer Akustikgitarre seinen Auftritt bestreitet. Das allerdings sehr virtuos, denn seine Kompositionen verlangen ein extrem ausgefeiltes Saitenspiel. Mir persönlich fehlt der Gesang, aber damit war bei den instrumentalen Songs auch nicht zu rechnen. Beim Publikum kommt er aber insgesamt gut an, es gibt auf jeden Fall mehr als den reinen Höflichkeitsapplaus. Immerhin macht er zwischendurch kleine Ansagen, um den Auftritt aufzulockern und beweist zum Ende hin Humor: „Thank you for coming tonight – and thank you for not leaving again“, was mit lautem Gelächter kommentiert wird.

Während der nun folgenden halbstündigen Umbaupause habe ich Zeit, das Publikum ein bisschen zu studieren und bin etwas überrascht, wie gering der schwarze Anteil ist. Mir war bewusst, dass Anne Clark auch außerhalb der schwarzen Szene Hörer gewonnen hat, aber mit nur ca. 20 % Gothenquote hatte ich nicht gerechnet. Auch fehlt es an jüngeren Leuten, der Altersdurchschnitt liegt eher in den 40ern. Dies sollte die Qualität des nun folgenden Auftritts allerdings nicht schmälern.

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Bildmaterial: © Arne Rucks

Zusammen mit ihrem Mitstreiter herrB betritt Anne Clark pünktlich um 21:00 Uhr die Bühne, die mittels Leinwänden dreigeteilt ist. Das Konzert beginnt mit „Orange Sun“, während dem sich die beiden noch hinter der mittleren Leinwand verbergen, von hinten angestrahlt, sodaß die Performance zu einem Schattentheater wird. Bei „Darkest Hour“ geht es schließlich in den Bühnenvordergrund, und ich bin echt überrascht: Die Lederjacke von Anne Clark sieht aus wie damals, 1995, die Frisur ist quasi unverändert, und überhaupt scheint sie nicht wesentlich gealtert zu sein, sodass ich mich wirklich 20 Jahre zurückversetzt fühle, auch wenn der laufende Song der ersten Zusammenarbeit mit herrB Fairytales from the Underground (2013) enstammt.

​Es wird ein breites Spektrum aus allen Schaffensphasen präsentiert, immer unterstützt von einer tollen Videoprojektion und Lichtshow, die mal mit blauen Laserstrahlen, mal mit abstrakten Geometrien und mal mit Filmsequenzen aufwartet und die Songs somit perfekt unterstreicht. Allein dafür hätte sich das Konzert schon fast gelohnt. Auch der Sound ist astrein, was will man mehr. herrB bedient die Synthesizer, während Anne Clark auf ihre unnachahmliche Weise ihre Lyrics rezitiert, aber nicht nur das: Immer wieder greift herrB zwischendurch zur Akustikgitarre, begann er doch seinen musikalischen Werdegang in den frühen 90ern in Rock-, Jazz- und Bluesbands. Mit Stühlen auf der Bühne und einer Bibliotheksprojektion auf der Leinwand erzeugen sie sogar eine Wohnzimmeratmosphäre. Die Überraschung ihres Lebens erleben wohl zwei Fans, die mitten im Konzert vor der Bühne versuchen ein Selfie zu schießen mit Anne im Hintergrund. Sie bemerkt das, lässt sich davon aber nicht irritieren, sondern geht nach vorn und kniet nieder, um so den perfekten Shot zu ermöglichen. Eine herrlich bodenständige und sympathische Aktion.

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Bildmaterial: © Arne Rucks

​Mit „Boy Racing“ vom Album The smallest Acts of Kindness (2008) endet das reguläre Konzert, aber natürlich ist hier noch nicht Schluss. Mit „Abuse“ kehren die beiden auf die Bühne zurück, und dann folgt mein persönliches Highlight: „Sleeper in Metropolis“, optisch unterstützt durch Bildmaterial aus dem legendären Film Metropolis von Fritz Lang aus dem Jahr 1927. Eine Kombination, die bei mir Gänsehaut auslöst. Noch während des Songs bedankt sich Anne beim Publikum, verabschiedet sich und sieht dabei sichtlich bewegt aus, schließlich ist es doch eine Ära, die nun enden soll. herrB spielt den Song noch zu Ende und verlässt dann auch die Bühne. Doch das Publikum verlangt lautstark nach einer weiteren Zugabe, und so ist der Jubel groß, als die ersten Takte von „Our Darkness“ erklingen, dem wohl größten Hit von Anne Clark. Ich persönlich hätte darauf verzichten können, weil es einfach ein bisschen totgenudelt wurde. Dessen waren sich die zwei wohl auch bewusst und um zu vermeiden, dass es ausgelutscht wirkt, haben sie den Song in einer erfrischenden und zeitgemäßer klingenden Version gespielt. Nun jedoch verabschieden sich Anne Clark und herrB endgültig, und mir wird leider nur zu deutlich klar, wieviel ich die letzten 20 Jahre verpasst habe.​

Aber auch wer heute Abend nicht dabei war, der hat eben nicht nur ein großartiges Konzert verpasst, sondern auch eine der letzten Gelegenheiten, die Grand Dame des Electro Wave live zu erleben. Bleibt nur zu hoffen, dass es vielleicht doch kein Abschied für immer ist, und sie irgendwann wieder Lust auf die Bühne bekommt. Ich wäre auf jeden Fall wieder dabei.

:mosch::mosch::mosch::mosch::mosch:

Setlist:

Orange Sun
Darkest Hour
Hope Road
Form
Counter Act
The Power Game
The Sitting Room
Psalm
Whisper of Shells
Now
Wallies
Eye of a Wolf
Heaven
Full Moon
Meine fremde Seele
When You Think Your Time Has Come
Boy Racing

Abuse
Sleeper in Metropolis

Our Darkness

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