Olympisches Gold

Besondere Zeiten erfordern neue Konzepte, und so hat die Stadt München den „Sommer in der Stadt“ ausgerufen – dezentrales Vergnügen an verschiedenen Orten wie zum Beispiel am Königsplatz, dem Mariahilfplatz oder auch dem Olympiazentrum. Neben Riesenrad und anderen Attraktionen gibt es dort diesen Sommer auch die sogenannte „Sommerbühne im Stadion“ – eine extra aufgebaute Bühne mit Bestuhlung unter der Überdachung des Olympiastadions. Das Musikprogramm ist vielfältig, verschiedene Münchner Kulturveranstalter*innen wie Polarkonzerte mischen mit. Am heutigen Tag stehen das Münchner Feierwerk und der Katzenclub Pate für das Programm: Rue Oberkampf (Passau/München) und Zanias (Australien/Berlin) versprechen einen elektronisch-verzauberten Abend unter der berühmten Dachkonstruktion mit Blick ins Rund des Stadions. Beide Formationen sind lieb gewonnene Gäste des Katzenclubs, und ich freue mich sehr, Rue Oberkampf so bald schon wieder zu sehen (erst vor ein paar Wochen als erstes Live-Konzert seit einem halben Jahr in der Kranhalle) und Zanias nach fast zwei Jahren auch endlich mal wieder.

DSC_4544Der Einlass ab 18.00 verläuft im Großen und Ganzen problemlos und entspannt, an die Stuhlreihen vor einer Bühne hat man sich in den letzten Wochen auch schon irgendwie gewöhnt. Das Sicherheits- und Hygienekonzept der Veranstalter ist einwandfrei, die Security achtet auf Mindestabstände und Masken, ist aber ansonsten entspannt und sehr freundlich. Freudige Erwartung liegt in der Luft, und man ist sich einig, dass die Location mal richtig cool ist und auch ohne Corona gern angeboten werden dürfte. Wann hat man sonst schon mal die Gelegenheit, Bands im Olympiastadion zu sehen, ohne gefühlte Kilometer von der Bühne entfernt zu sein?
Um sieben geht’s dann los mit Rue Oberkampf, die heute das beklemmende Sprachsample vom letzten Auftritt weglassen (die Lautsprecherdurchsagen auf der Straße zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen im März), sondern lieber energisch mit dem großartigen „Agitation“ in ihr Set starten. Die Bühne ist riesig und vor allem hoch, was mich beim Fotografieren ein bisschen in Stellungsnöte bringt, den Bands aber natürlich einen tollen Ausblick ermöglicht. Die Lichttechniker geben auch ab dem ersten Lied alles – man merkt, wie es ihnen nach der langen Zeit in den Fingern juckt. Der Sound passt ebenfalls, und das Schwarzvolk beweist auch im Sitztanzen Stilsicherheit. Das nachfolgende „Le train“ wird von Julia angekündigt mit „vor vier Jahren hielten wir es für eine gute Idee, einen Song von Absolute Body Control zu covern“, und natürlich war das eine gute Idee. „Congélation“ von der ersten EP Waveclash ist ebenfalls wohlvertraut, die Ersten stehen im Publikum auf und tanzen am Platz – was erlaubt ist! „Deine Worte“ vom aktuellen Album Christophe-Philippe heizt die Stimmung noch mal mehr an, immer mehr tanzen, der Beifall wird immer lauter. Was die enttäuschend vielen leeren Stühle etwas wettmacht; eigentlich waren die kostenlosen Tickets ja im Vorfeld ausgebucht. So schön die Geste ist, eine kleine Gebühr hätte dem Leerstand am Abend vielleicht entgegengewirkt. Doch wir sind sowieso alle „Im Tunnel“ und schauen nur nach vorn auf die Bühne, wo Julia kaum eine Sekunde stillsteht und zwischen Michael auf der (von uns aus) linken und Damien auf der (von uns aus) rechten Seite hin und her tanzt. Mit dabei ist natürlich das obligatorische Leuchtröhrengebilde, das allerdings heute unter der Wucht der gefühlt unzähligen Scheinwerfer etwas untergeht. Dennoch ist das Lichterspektakel natürlich beeindruckend und verleiht der Veranstaltung wirklich den Rahmen von etwas ganz Großem. Den nächsten Song kündigt Julia für alle an, die ihren Club vermissen (also wahrscheinlich ein Großteil der Anwesenden). „Die Stadt ist leise und leer“, heißt es so treffend in „Caméra“. Wie gut würde da das nachfolgende „Kalt“ passen, findet auch Julia, doch das ist falscher Alarm, so kalt ist es noch gar nicht, zuerst wirft man uns noch „Sourires“ zu. Dann aber gibt Damien das Stichwort: „Kalt! So kalt!“, dazu muss man einfach tanzen – manche im Stehen, viele im Sitzen. „Es versucht“ und „Glycine“ machen schön Tempo und hypnotisieren, bevor mit „La course“ der Hauptteil des Auftritts zu Ende geht. Zu Ende? Nein, das darf nicht sein, wir möchten noch weiterträumen und weitertanzen und nicht auftauchen müssen … „Wart ihr schon mal in Tokyo?“, leitet dann zum Glück die Zugabe ein, die schließlich von einem brandneuen, noch total geheimen, aber hoffentlich bald erscheinenden Song gekrönt wird. Eine Zeile hat sich mir eingebrannt, „aber die Zukunft ist jetzt eine andere“, und ja, das ist sie. Doch diese Zukunft bringt auch neue Musik von Rue Oberkampf, und das ist schön. Merci!

DSC_4724Langsam wird es dämmrig, hinter uns dreht das beleuchtete Riesenrad seine Runden, auf der anderen Seite des Olympiaparks strahlt ein anderes buntes Fahrgeschäft, dieser Abend ist trotz aller Umstände rundum zauberhaft. Und noch nicht vorbei, denn mit Zanias – alias Alison Lewis – wartet noch ein Act auf uns. Die gebürtige Australierin ist schon gut in der Welt herumgekommen – vor allem in Südostasien – und lässt diese ganzen Erfahrungen in ihre Solomusik einfließen, durch Samples aus dem Regenwald auch ganz wortwörtlich. Mystisch, intensiv und komplex ist ihr Sound, und trotzdem tanzbar. Vielen dürfte sie aber trotz zweier Auftritte beim Katzenclub vor allem durch Linea Aspera und Keluar bekannt sein, zumal dieser Tage nach acht Jahren das zweite Linea-Aspera-Album erscheint. Doch auch als Zanias hat Alison aktuelles Material im Gepäck, die beiden EPs Extinction und Harmaline vom März beziehungsweise Mai 2020 behandeln die anhaltende Klimakatastrophe sowie zutiefst persönliche Ereignisse in Alisons Leben, verpackt in mitreißende Songs, auf deren Bühnenpräsentation ich mich sehr freue. Ein neues Album soll es auch bald geben …
Im Gegensatz zu ihren früheren Besuchen in München steht Alison heute mit Verstärkung auf der Bühne. Laura aka Neu-Romancer („Producer/DJ/Bass“ sagt das Soundcloud-Profil, auf Instagram findet man sie auch) kümmert sich heute um die Elektronik, was Alison an Mikro und Drumpad mehr Bewegungsfreiheit erlaubt, die sie auch ausnützt. Los geht’s mit dem hypnotischen „Ameliorate“, bei dem Alison singt: „This is gonna hurt, this is gonna make you feel alive like nothing else could“. Auch wenn das jetzt sicher frei interpretiert ist – ich kann mich einfühlen. Der Song und ihre Stimme sind so schön, dass es wehtut, gleichzeitig fühle ich mich bei (dieser) Live-Musik so lebendig wie bei kaum etwas anderem. Das technoidere „In eternal return“ führt uns zurück an die Anfänge von Zanias, zur EP To the core und leitet schließlich über in das bekannte „Aletheia“ vom Album Into the all. Ich lasse mich verzaubern und werde den Refrain „this is who we are“ sicher mal wieder tagelang nicht aus dem Kopf bekommen. Die beeindruckende Lightshow und der gute (wenn auch etwas bassarme) Sound tun ihr Übriges, um zumindest mich völlig in die Musik eintauchen zu lassen. Andere tun sich ein wenig schwerer, manche Plätze sind jetzt auch leer – ja, ganz einfach ist Zanias nicht, man muss sich erst einhören, und manchmal erwischt es einen auch einfach nicht. Zumal Alison heute auch einige brandneue Songs präsentiert, wie sie mir später am Merch-Stand verrät, was sicher noch mal schwerer verdaulich ist. Aber wenn man sich darauf einlassen möchte, dann … ist das alles einfach nur Woaaaaah! Zum Beispiel das sanfte „Excision“ von der EP Harmaline oder das flirrende „Exuvia“ von Into the all (noch so ein Ohrwurmrefrain, der garantiert nicht nur „passing through“ ist). Sehr schön tanzbar ist „Limerence“, doch den zutiefst persönlichen Text sollte man dabei nicht außer Acht lassen. „Am I wrong to be waiting for you? I’d rather dance alone than to wonder …“ – auch diese Zeile wird mir noch lange im Kopf herumgehen. Alison singt und performt unglaublich intensiv, geht viel mehr aus sich heraus als bei früheren Auftritten (eben ohne die zusätzliche Verantwortung für die Elektronik) und scheint sich nicht nur von ihrem leichten Stoffumhang zu befreien (der gerade in die Ecke fliegt). Vor allem beim energischen „Endling“, auch das wieder mit erinnerungswürdigem Refrain: „The sun will rise again – without us“, aber auch beim eingängigen „Harmaline“, das in eine ähnliche Richtung geht: „We are alone … We are the last of us.“ Als Nächstes folgt ein weiterer neuer Song, den Alison auf ihrer Patreon-Seite (wer Zanias auf Patreon unterstützen möchte: Hier!) kurz vor dem Konzert geteilt und an dem Laura mitgearbeitet und Bass gespielt hat. „Undreamt“ ist wieder ein tief persönlicher Song geworden, der zart klingt und tief ins Herz schneidet. „I can’t control that I’m a human and I need to be loved“ – wer kann das nicht nachempfinden. Bevor man zu melancholisch wird, kann man zum Glück „Follow the body“ und tanzen – ob im Sitzen oder Stehen, völlig egal. Mittlerweile ist es völlig dunkel, und ich gehe mit der Kamera nach ganz hinten, um mir die Lightshow in voller Pracht anzusehen. Beim folgenden „Division“ akzentuiert sie Alison, die jetzt allein auf der Bühne steht, und ihre Stimmakrobatik perfekt, und sicher nicht nur für mich sind das ganz besondere Momente. Mit dem furiosen „Idoru“ endet dieser Auftritt, der ohne eine einzige Ansage ausgekommen ist, aber umso eindringlicher durch Körpersprache, Stimme und Musik kommuniziert hat.

Für mich war dieser Abend etwas ganz Besonderes, obwohl er so anders war. Normalerweise hätten Rue Oberkampf und Zanias in einer kleinen Halle bei minimaler Beleuchtung und ganz viel schwitziger, enger Clubatmosphäre gespielt – so wie wir es kennen, lieben und schmerzlich vermissen. Heute war das genaue Gegenteil – Freiluft, massig Platz um einen herum, erst Tages-, dann schönes Nachtlicht, das Olympiastadion als Kulisse, eine wirklich grandiose Lightshow und sowohl einleitende als auch abschließende Worte auf der mannshohen Bühne. Weniger Clubatmosphäre geht nicht. Aber dass trotz der konzertlosen Zeit, in der wir gerade leben, Konzerte möglich sind, ist so unendlich wichtig für die Seele. Und für viele, viele Menschen auch für den Geldbeutel, und ich hoffe, dass wenigstens ein paar Leute an diesem Abend (und den anderen des „Sommer im Stadion“) ein paar Euros verdient haben.

Vielen Dank an das Feierwerk und den Katzenclub für diesen Abend, vielen Dank an Rue Oberkampf und Zanias, dass ihr uns für ein paar Stunden glücklich gemacht habt.

Setlist Rue Oberkampf:
1. Agitation
2. Le train
3. Congélation
4. Deine Worte
5. Im Tunnel
6. Caméra
7. Sourires
8. Kalt
9. Es versucht
10. Glycine
11. La course

12. Tokyo
13. (Neuer Song)

Setlist Zanias:
1. Ameliorate
2. Unearthed
3. In eternal return
4. Aletheia
5. Untethered
6. Excision
7. Exuvia
8. Unseen
9. Limerence
10. Endling
11. Harmaline
12. Undreamt
13. Untamed
14. Follow the body
15. Division
16. Idoru

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