Explosionen der Herzen

Die wenigsten Bands haben im Moment die Möglichkeit, auf Tour zu gehen und das zu tun, was alle Beteiligten dringend brauchen: live zu spielen. Wir alle müssen seit Monaten auf so vieles verzichten, ganz zu schweigen von all den Menschen, die mit Veranstaltungen ihr Geld verdienen. Es ist eine Scheißzeit, und dass kein richtiges Ende absehbar ist, lastet auf uns allen schwer. Umso wichtiger sind da kleine Lichtblicke, wie sie zum Beispiel im Backstage im Moment möglich sind – entweder die Abstandskonzerte im Werk oder die Outdoorauftritte in der Arena Süd mit genügend Platz und viel frischer Luft. Manchmal sogar sehr frischer, wenn die Temperaturen in den einstelligen Bereich fallen, wie am heutigen Samstag – aber das spielt überhaupt keine Rolle, wenn sich die immerwährende Lieblingsband angekündigt hat. Covenant rufen die Schiffe in den Hafen, und diesem Ruf wird natürlich gefolgt!
DSC_5966Los geht’s pünktlich um acht mit dem üblichen langen Intro, das Daniel Jonasson und Daniel Myer im Schummerlicht und von den ersten Nebelschwaden umwolkt minutenlang zelebrieren. Bei „normalen“ Covenant-Konzerten wird an dieser Stelle schon mal ungeduldig im Publikum gepfiffen, die introvertierten Intros treffen nicht jedermanns Geschmack, doch heute wird andächtig abgewartet, bis Eskil sich dann im weißen Anzug zu den beiden anderen gesellt und die ersten Töne von „Monochrome“ erklingen. Winterlich – nämlich ebenfalls von der Northern lights mit ihrem eisigen Cover – geht es mit „Bullet“ weiter, und eigentlich kann jetzt schon niemand mehr sitzen bleiben, doch es hilft nichts, die aktuelle Situation erfordert ein strenges Sitzgebot, das auch mit Adleraugen überwacht wird. Dann müssen wir uns eben anderweitig von den Klassikern mitreißen lassen, und Eskil springt auf der Bühne sowieso für uns alle mit. Fast schon gruselig aktuell – aber natürlich trotzdem ein großartiger Song – ist „Brave new world“ mit seinem lieblichen Refrain und dem traurigen Text: „Where is the promised land? Where is the brave new world? Why do all dreams grow and then die? How can we move the streets today?“ Hoffen wir, dass wir uns trotz allem doch noch Träume bewahren und diese auch irgendwann umsetzen können.
Kleinere Träume gehen zumindest heute Abend schon in Erfüllung, denn die Band hat im Vorfeld auf Facebook gefragt, welche noch nie live gehörten Songs sich das Publikum denn wünscht. Zwei hat man aus den vielen Vorschlägen ausgewählt: „Judge of my domain“ und „Wall of sound“, und dementsprechend laut ist der Jubel im Publikum. Vor allem „Wall of sound“ vom Europa-Album hört man live wirklich nicht oft, und ich freue mich sehr. „If I give you my soul“ vom letzten Album The blinding dark wird extradüster eingeläutet, und auch das nachfolgende grandiose „All that is solid melts into air“ wird lärmiger gespielt als auf der dazugehörigen Fieldworks-EP. Die intensive Stimmung überträgt sich voll aufs Publikum, überall sieht man zuckende Gliedmaßen, und nicht wenige reißt es oft halb von der Bierbank – heute ist Sitzenbleiben wirklich Folter. Ich habe das große Glück, beim nachfolgenden „Dynamo clock“ mit der Kamera kurz am Rand stehen und dadurch etwas energischer bei dem Lied abgehen zu können. Denn bei diesem leider oft kaum beachteten Juwel vom Modern-ruin-Album ist Stillhalten völlig unmöglich, so zwingend geht der hämmernde Rhythmus in Nacken und Beine, zumal Daniel Myer auch noch an der auf der letzten Tour etablierten Trommel steht. „Explosions of our hearts“, lautet eine Zeile, und, verdammt, ja, genau so ist es! „Ich wünschte, wir können jetzt alle tanzen“, sagt Eskil zu dem Song, „aber wir tanzen im Herzen.“
DSC_5829Er ahnt gar nicht, wie recht er damit hat, denn als Nächstes kommt das Lied, das zuverlässig auch nach vielen, vielen Jahren jede Faser meines Körpers zum Vibrieren bringt, das unsterbliche „Figurehead“, das das Energielevel auf der Bühne und im Publikum perfekt hochhält, wenn auch ungleich düsterer als bei „Dynamo clock“. Der Sprung zum relativ poppigen „Ignorance and bliss“ ist mir da fast zu krass, doch natürlich ist der Song eine großartige Hymne mit einem Refrain, den man einfach mitsingen muss (und bei dem einem vielleicht erst beim zweiten oder dritten Hören auffällt, wie traurig er eigentlich ist) – was auch viele tun, der Track wird gnadenlos abgefeiert. Danach ist es gar nicht so einfach, zum „Nibelungenlied“ umzuschalten, von dem Eskil nach langem Intro auch nur einige Verse rezitiert (so schade, dass heute Andreas Catjar nicht dabei ist, der maßgeblich daran beteiligt war), um dann schnell zum „Leiermann“ überzugehen – ein Muss in Deutschland, wobei ich mich über „Like tears in rain“ fast noch mehr gefreut hätte. Egal – die Stimmung ist großartig, und nach dem Beifall wird immer wieder „lauter!“ gefordert. Leider geht das nicht, sagt Eskil, wegen der Nachbarn (lustigerweise ist der einzige sichtbare Nachbar gerade ein leerer ICE-Zug auf dem Gleis neben der Bühne). „Aber ich freue mich! Supergeil!“, strahlt er, und da muss man einfach mitstrahlen.
Nach „Flux“ vom Sequencer-Album wird Eskil ganz prophetisch: „Tonight we light the fires … under the cirumstances“, und alle halten schon die Luft an, ob jetzt wirklich gleich DER große Hit kommt. Doch was kommt? Erst mal nichts – wie schon beim Covenant-Konzert 2016 im Backstage gibt es bei Daniel Myers Synth-Station ein technisches Problem, und wie schon damals überbrückt Eskil die Panne mit einer A-cappella-Einlage. Nachdem wir „Figurehead“ ja schon gehört haben, stimmt er heute „Happy man“ an, und zum Glück brabbelt nicht wieder das halbe Publikum dabei (wie beim Konzert 2019). Eskil ist wirklich großartig bei Stimme heute, was jetzt gerade besonders deutlich wird. Nach dem halben Song hält er dann eine kurze Ansprache: „That’s part of the noise we are making. We love stuff, equipment, computers“, und das alles funktioniert eben manchmal, und manchmal auch nicht. Völlig verständlich, keiner ist böse, und als alles wieder geht und „Ritual noise“ angestimmt wird, ist der Jubel wirklich ohrenbetäubend. Tschuldigung, ihr Nachbarn, da müsst ihr jetzt durch. Garniert wird der Übersong mit Daniel Myers Einsatz an der Trommel und Daniel Jonassons Verzerrermikro, das ich sehr liebe, weil es – genau – so schönen Lärm macht. Danach gehen die drei von der Bühne, was natürlich überhaupt nicht geht, und natürlich werden sie zu einer Zugabe zurückgeklatscht, -getrampelt und -geklopft. Auch wenn das eine harte Bewährungsprobe in Sachen Selbstbeherrschung bedeutet, denn „we dance to the sound of sirens“ wäre jetzt eigentlich angesagt, doch wir müssen bei „Theremin“ leider sitzen bleiben, was wirklich allen zunehmend schwer fällt. Aber die Disziplin hält, es hilft ja nichts. Eskil bedankt sich überschwänglich für den gemeinsamen Abend und hofft, dass wir uns alle bald wiedersehen. Ja, das hoffen wir auch! Davor rufen wir aber noch die Schiffe in den Hafen, und trotz der einstelligen Temperaturen kocht die Luft unter der Überdachung. Überall nur strahlende, begeisterte Gesichter bei „Call the ships to port“, und ich bin unendlich dankbar, dass dieser Abend heute möglich ist.
Noch glücklicher sind wir, als es noch eine zweite Zugabe gibt, den Übersong „Stalker“, der uns perfekt die Haare nach hinten föhnt, auch mit geringerer Lautstärke als sonst. Zum Abschied erzählt Eskil noch ein wenig, was er aus diesen seltsamen Zeiten mitnimmt: „Where do we go from here? I’d like to think it’s brought out the best in us. I wanna be a better person. I see things in a different light. How do you feel?“ Und dann: „I love diversity, I love that we all have different opinions.“ Kluge Worte zum Abschluss, denn ja, jetzt ist wirklich Schluss, nach zwei Stunden Covenant pur. Der Abschied fällt schwer, aber er ist hoffentlich nicht für allzu lange. Und ein paar Erinnerungen kann man sich ja am Merchstand noch mitnehmen.

Ein denkwürdiger Abend unter ganz besonderen Umständen, mit einer Setlist zum Niederknien – natürlich haben ein paar der ganz großen Songs gefehlt, aber dafür haben sich Covenant auch quer durch die Bandhistorie gespielt, was einige Schmankerl mit sich gebracht hat -, fast durchgehend gutem Sound und einem euphorischen Publikum, das sich an alle Vorschriften gehalten und damit den reibungslosen Ablauf und Genuss dieses Konzerts ermöglicht hat. (Vom Schummerlicht reden wir hier besser nicht, aber wir wissen ja zum Glück, wie die Band aussieht.) Mein zwanzigstes Covenant-Konzert war anders als die anderen, aber trotzdem genauso großartig. Hauptsache, man kann zusammen Musik genießen, in welcher Form auch immer. Danke ans Backstage, tack så mycket Covenant, dass ihr das ermöglicht habt!

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Setlist
1. Room with my soul left out (Intro)
2. Monochrome
3. Bullet
4. Brave new world
5. Judge of my domain
6. Wall of sound
7. If I give you my soul
8. All that is solid melts into air
9. Dynamo clock
10. Figurhead
11. Ignorance and bliss
12. Das Nibelungenlied
13. Der Leiermann
14. Flux
15. Ritual noise

16. Theremin
17. Call the ships to port

18. Stalker

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