Don’t be a pussy!

Wer kennt noch die Anfangstage von MTV? Vanessa Warwick? Headbangers Ball? Wer bei diesen Namen leuchtende Augen bekommt, ist goldrichtig auf dieser Tour, die an den Spirit vergangener Tage anknüpfen will, aber auch Metalheads jüngeren Datums bekommen so die Chance, die Bands abzufeiern, bei deren Gründung sie vielleicht noch nicht mal auf der Welt waren. Die Veranstalter der Tour haben hier mit Deserted Fear, Insomnium, Overkill und den Cavalera-Brüdern ein Package geschnürt, das auf den ersten Blick musikalisch nicht besonders gut zusammenpasst, aber Generationen von Metalfans verbindet und eine echte Lehrstunde des extremeren Heavy Metals ist. Nach dem Legendenaufmarsch im Backstage der letzten Wochen darf man sich diesen Abend natürlich auch nicht entgehen lassen, und da mir doch tatsächlich Overkill und die Cavaleras live noch fehlen (ich trau’s mich kaum zuzugeben), finde ich mich pünktlich um halb sieben im Backstage Werk ein.

DSC_4859Das noch überraschend leer ist, aber der Abend hat ja noch nicht mal angefangen, viele müssen sicher erst mal aus der Arbeit kommen, das öffentliche Verkehrsnetz spielt einem heute auch einen Streich nach dem anderen, und so richtig billig ist es ja auch nicht, quasi jeden Tag auf ein Konzert gehen zu müssen. Die Thüringer Deserted Fear gehen daher vor etwas zerpflückt im Raum stehenden Publikum auf die Bühne, lassen sich davon die gute Laune aber nicht verderben und prügeln uns ihren astreinen Oldschool Death Metal mit einem fetten Grinsen um die Ohren, dass selbige nur noch schlackern können. Der Vierer existiert seit dem Jahr 2007, hat im Januar sein drittes Album Dead shores rising herausgebracht und glänzt hier top eingespielt und mit ganz ausgezeichneter Härte. Das Songmaterial konzentriert sich, immer wieder untermalt von atmosphärisch angestrahlten Rauchsäulen, mit „The fall of leaden skies“, „The edge of insanity“, „The carnage“ und „Face our destiny“ hauptsächlich auf die aktuelle Scheibe, ältere Songs wie „Open their gates“ oder „Till the last drop“ runden den Auftritt der überaus freundlichen Eisenberger ausgezeichnet ab. Hut ab auch vor dem Ersatzbassisten Chris Pod, eigentlich Gitarrist bei Path of Destiny, der hier eine exzellente Vertretungsleistung abliefert (Probezeit und kein Urlaub haben dem Originalbassisten einen Strich durch die Rechnung gemacht). Ich für meinen Teil fühle mich jetzt ausgezeichnet aufgewärmt, und das Publikum ist auch schon vorsichtig näher gerückt.

DSC_4950Ein bisschen voller wird es zum Glück bei den Finnen Insomnium, die bereits seit 1997 existieren und mit Winter’s gate 2016 einen echten Meilenstein des episch angehauchten Melodic Death Metals auf den Markt gebracht haben. Ein Song, ein Album, 40 Minuten Abtauchen in eine andere Welt. Dass sie das wohl schwerlich bei einer Festivaltour auf die Bühne bringen werden, dürfte klar sein, auch wenn mich das sehr gefreut hätte. Die Setlist setzt sich dementsprechend aus den Vorgängeralben zusammen. Mit „Primeval dark“ und „While we sleep“ vom Album Shadows of the sun wird die Messlatte gleich mal richtig hoch gelegt, und weiter geht die melancholische und gleichzeitig knüppelharte Reise durch Finnlands düstere Metalseele und die Geschichte der Band. Bei Songs wie „Unsung“, „The Killjoy“, „Down with the sun“ oder dem abschließenden „One for sorrow“ lässt es sich hervorragend träumen, aber auch die Haare schütteln. Die Gitarrenarbeit von Saitenmann Markus Vanhala ist wunderbar filigran, Niilo Sevänen, Ville Friman und Markus Hirvonen sorgen für eine astreine Soundwand. Musik, in der man sich verlieren kann, und ein schöner Auftritt – auch ohne „Winter’s gate“. Dankeschön, bitteschön und kiitos!

DSC_5175Danach wird es etwas hektisch auf der Bühne, größere Umbauarbeiten finden statt, aber als Nächstes steht ja auch niemand Geringerer als Overkill auf dem Plan. Seit 1980 gibt es die Oldschool-Thrasher aus New Jersey bereits, 18 Alben hat man seither auf den Markt gebracht, die aktuelle Scheibe The grinding wheel gibt es seit Februar und ist wieder ein absoluter Hochkaräter geworden. Auch wenn Overkill regelmäßig in Deutschland unterwegs sind und dabei immer in München Station machen, ist die Aufregung in der Halle spürbar, viele sind wegen Bobby „Blitz“ Ellsworth und seinen Mannen da, um sich das Gehirn von seiner Sirenenstimme und dem ultraschnellen Thrash Metal freiblasen zu lassen. Dann ist es endlich soweit, Derek Tailer, Dave Linsk, Jason Bittner und D.D. Verni kommen auf die Bühne und lassen vom ersten Ton an die Halle erzittern. Bobby Ellsworth folgt ihnen mit fliegender Lockenmähne und beeindruckendem Pornobalken im Gesicht, springt geradezu in sein Mikro, und „Mean, green killing machine“ macht erst mal alles platt. Verschnaufpausen gibt es auch bei „Rotten to the core“ und „Electric rattlesnake“ nicht, zumindest nicht für uns – Bobby verschwindet zwischendurch wie immer kurz hinter der Bühne, um dann mit viel Elan wieder an den Bühnenrand zu sprinten, seine beeindruckenden Muskeln zu präsentieren und markerschütternd die Songs ins – jetzt endlich tobende – Publikum zu schmettern. Gitarrist Derek Tailer hat derweil einen Clown gefrühstückt, kommt aus dem Grinsen nicht mehr heraus und freut sich diebisch, als er dem vor ihm im Graben stehenden Security-Mann heimlich ein Plektron auf die Schulter legt und dieser natürlich daraufhin aufschreckt. Das Plektron wandert weiter in die erste Reihe, alle lachen über diesen kleinen Scherz, und weiter geht’s mit „Hello from the gutter“, dem Uraltklassiker aus dem Jahr 1988. Alt ist hier aber wirklich niemand, weder Song noch Band, auch wenn Bobby ein winziges bisschen weniger über die Bühne rennt als früher. Dafür erfreut er uns mit seinen beeindruckenden Deutschkenntnissen – die sich allerdings nur auf allerfeinste Schimpfwörter erstrecken. „Verpiss dich“ und „fickt euch, ihr Luschen“ kann er akzentfrei, was für viele Lacher sorgt. Außerdem betont er, wie wichtig Deutschland und gerade München für ihn und die Band sind, die Stadt ist geradezu eine „zweite Heimat“, und überhaupt erinnert er sich noch gut an den ersten Gig in der Stadt 1986. In der Alabamahalle, die kennt man doch noch, oder? Viele der Anwesenden sicher, aber ganz bestimmt nicht alle, ist ja doch schon ein wenig her … Doch genug der Reden, das Publikum soll ja schließlich Action liefern („There’s only one rule: Don’t be a pussy!“), und dafür braucht es Musik. „Hammerhead“, „Goddamn trouble“, „Ironbound“ und „Elimination“ brettern durch das Werk, als gäbe es kein Morgen mehr, das Publikum im Pit tobt und springt, und ich schaue mir den Wahnsinn mit einem glücklichen Dauergrinsen an. Endlich Overkill live, das Warten hat sich gelohnt! Das Subhumans-Cover „Fuck you“ beschließt diesen eigentlich viel zu kurzen, aber hochenergetischen Auftritt standesgemäß mit vielen gestreckten Mittelfingern und lässt uns erschöpft und euphorisch zurück.

DSC_5192Aber der Abend ist ja noch lange nicht vorbei, alle warten auf die zwei Männer, die die Metalszene in den letzten Jahrzehnten immer wieder ordentlich durcheinandergewirbelt haben: Max und Iggor Cavalera. Beide gehörten zum Gründungs-Line-up von Sepultura, prägten mit ihren Persönlichkeiten die Band, verließen diese spektakulär (Max 1996, Iggor zehn Jahre später), hatten ihre Differenzen, haben sich wieder zusammengerauft und mit Cavalera Conspiracy schließlich eine eigene Band auf die Beine gestellt. Auf dieser Tour wollen sie jedoch zusammen mit uns zwanzig Jahre in die Vergangenheit reisen und das bahnbrechende Album Roots von Sepultura live noch einmal aufleben lassen. Das ist mir nur recht, da ich sie damals live verpasst habe, auch wenn mir die älteren Sepultura-Sachen ein wenig besser gefallen. Nach verhältnismäßig kurzer Umbaupause kommen die Brüder dann auf die kahle Bühne, begleitet von ihren zwei Mitmusikern an Gitarre und Bass. Max zeigt auf dieser Tour mit seinen T-Shirts seinen vielseitigen Musikgeschmack, heute Abend ist Darkthrone dran! An Iggors Drumkit klebt ein Tribut an den kürzlich verstorbenen Celtic-Frost-Bassisten Martin Eric Ain, man ist heute also sehr auf Black Metal eingestellt – finde ich gut. Musikalisch geht es allerdings natürlich zurück zu den Wurzeln, Roots wird nahezu vollständig und in der korrekten Songreihenfolge gespielt („Jasco“, „Endangered species“ und „Canyon jam“ fehlen), und ab den ersten Riffs von „Roots bloody roots“ gibt es kein Halten mehr. Das Publikum mobilisiert sämtliche Kräfte, hüpft ab dem ersten Ton mit und trägt die Band auf einer Jubelwelle durch dieses legendäre Album. Besonders stechen natürlich die Songs heraus, die stark von den Aufnahmen im brasilianischen Urwald beim Xavante-Stamm beeinflusst sind („Ratamahatta“ vor allem oder das kongeninale „Itsári“, bei dem Iggor zu den Gesängen der Ureinwohner am Drumkit brilliert), aber auch alle anderen Songs verfehlen wie vor zwanzig Jahren ihre Wirkung nicht. Tiefergestimmte, langsame, mahlende Bastarde, wütende Ausbrüche – das ist Aggression vom Feinsten. Ich habe tiefes Mitgefühl mit meinem Stehnachbarn, der mir zwischendurch mit leidvoller Miene offenbart: „Ich hasse Metal!“ Es hilft ihm leider auch nicht, als ich ihm sage, dass da echte Legenden auf der Bühne stehen – und ich verstehe ihn, das ist wirklich keine leichte Kost, was da geboten wird, das muss man lieben. Sein Schützling im Rollstuhl am Bühnenrand ist dafür umso begeisterter. Max feuert das Publikum zwischendurch immer wieder an, „Jump! Jump!“, auch wenn das gar nicht nötig ist. Alle fühlen sich wieder jung – oder sind es sogar -, hüpfen, moshen und pogen, was das Zeug hält. Das ultrabrutale „Dictatorshit“ beschließt den regulären Konzertteil, doch man leitet eigentlich umgehend in die Zugabenblock über, bei dem mit „Ace of spades“ ein Lied aus den Boxen wummert, das wirklich jeder der Anwesenden kennen und lieben dürfte. Eine extraschnelle Version von „Roots bloody roots“, bei der noch mal alle ihre letzten Kräfte zusammenraffen, schickt uns dann in den nasskalten Abend, aber nach so viel ausgezeichnetem Metal ist das Wetter völlig egal. „Stay Metal“ und „Heavy Metal forever“ ruft uns Max noch nach – zu Befehl!

Vier Bands, vier Metal-Stilrichtungen, mehrere Generationen Bands und Publikum an einem Abend vereint – das muss nicht zwingend funktionieren, doch heute hat es das. Deserted Fear bedienen die Liebhaber von Oldschool Death Metal, Insomnium haben uns träumen lassen, Overkill haben uns dann wieder aufgeweckt, und der Ausstrahlung und der Musik der Cavaleras konnte sich kaum einer entziehen. Ein langer, langer Abend mit viel Metalgeschichte, der sich gelohnt hat. Ich hoffe, mein Stehnachbar hat ihn gut verkraftet, alle anderen dürften mit leuchtenden Herzchen in den Augen nach Hause gegangen sein.

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Setlist Max und Iggor Cavalera:
1. Roots bloody roots
2. Attitude
3. Cut-throat
4. Ratamahatta
5. Breed apart
6. Straighthate
7. Spit
8. Lookaway
9. Dusted
10. Born stubborn
11. Itsári
12. Ambush
13. Dictatorshit

14. Ace of spades (Motörhead-Cover)
15. Roots bloody roots (schnelle Version)

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