I hear voices … in my head

Ultima Ratio – der letzte Ausweg, nachdem alle anderen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft sind. So lautet das Motto dieses ultrafetten Tourpackages, das uns die Initiatoren Moonspell geschnürt haben, um das 30jährige Bandbestehen zu feiern. Nach den üblichen Corona-Irrungen und Wirrungen – terminlich, Line-up – kann die Tour diesen Herbst endlich stattfinden, und was da auf uns zurollt! Fünf hochkarätige Bands, mit fünf verschiedenen Interpretationen des extremen und trotzdem tiefsinnigen Metals, aus vier verschiedenen Ländern. Alte und neu aufstrebende Helden. Eine hochspannende Mischung also. Ein letzter Ausweg? Nein, eher die erste Wahl!
DSC_3626Leider haben sich das nicht allzu viele Konzertbesucher*innen gedacht, denn wie schon bei diversen eigentlich als sicher ausverkauft eingeschätzten Terminen in letzter Zeit rollen hier erstmal noch vertrocknete Büsche durchs leere Werk, eine Seite ist auch abgehängt. Zugegeben, es ist grade mal sechs Uhr abends, die erste Band soll schon um halb sieben auf der Bühne stehen und ist jetzt nicht die bekannteste aus dem Package. Wir kennen alle die Gründe, warum Konzertbesuche im Moment mit vielen anderen Dingen konkurrieren müssen, aber ich bin schon ein wenig betroffen, dass so wenig los ist. Die ersten Bands bei großen Packages haben ja sowieso schon immer einen undankbaren Job, und der Opener heute lohnt sich ganz besonders. Hinayana aus – ganz klar, der Name sagt es – USA, genauer gesagt aus Texas, existieren seit 2014 und wurden von Sänger/Gitarrist Casey Hurd gegründet. „Hinayana“ ist ein Begriff aus dem Buddhismus und bezeichnet „das kleinere Gefährt“ oder „den schlechteren Weg“ zur Erleuchtung. (Wer mehr über die Band lesen will: Dieses Interview ist sehr informativ.) Eine Band, die also ziemlich tiefgründig zur Sache geht, und das merkt man dem ab dem ersten Ton beeindruckenden Death-Doom der Amerikaner auch an. Mal tonnenschwer wie die skandinavischen Vorbilder Swallow the Sun, Black Sun Aeon oder Katatonia, mal eine brutale musikalische Attacke, die einem ordentlich die Haare nach hinten föhnt, dazu Caseys abgrundtiefes Gurgeln, aber immer auch mit Blick auf Melodie und Melancholie – für mich sind Hinayana eine echte Entdeckung, und das langsam hereintröpfelnde Publikum wirkt auch sehr angetan von Songs wie „Death of the cosmic“, „Cold conception“ oder „Taken“. Wer auf die bisher genannten Bands steht, aber auch ultrakomplexem Stoff wie Sulphur Aeon nicht abgeneigt ist, darf – soll! Muss! – hier ein Ohr riskieren.

DSC_3651Vom glühend heißen Texas geht die Reise ins verschneite Finnland, zu Wolfheart (Brücke zu Moonspell: Deren Debütalbum heißt Wolfheart), auch einer relativ jungen Band, die aber einigen im Raum bekannt zu sein scheint. So langsam sind doch noch mehr Zuschauer*innen eingelaufen, und vor der Bühne hat sich eine ordentliche Meute versammelt, die eifrig den mal melodischen, mal wirklich knüppelharten Death-Doom des Vierers um Bandchef Tuomas Saukkonen (früher Black Sun Aeon) abfeiern. Die Songs leben unter anderem vom Wechselspiel zwischen Tuomas’ Growls und dem kräftigen Klargesang von Leadguitarrist Vageliss Karzis, die Band bietet trotz gerade neu erschienenem Album King of the north einen Querschnitt durch ihr bisheriges Schaffen. Nach den beiden neuen Songs „Skyforger“ und „The king“ geht’s zum Beispiel mit „Strength and valor“ zurück zum Debütalbum Winterborn. Mit „Breakwater“, vor dem Tuomas das Publikum herausfordert, noch enthusiastischer als die Zuschauer*innen vom kurz zuvor in Stuttgart zu jubeln, lassen Wolfheart den klirrend kalten, unerbittlichen finnischen Winter heraufziehen. Mit „Knell“ vom aktuellen Album und dem mächtigen „The hammer“ geht der Auftritt zu Ende, und das Publikum gibt sich wirklich große Mühe, den finnisch-griechischen Vierer ordentlich abzufeiern. Mir scheint, der Sound hätte hier und da um einiges besser sein können, vielleicht haben mich die Songs deshalb nicht so abgeholt, aber insgesamt hat das schon alles gut gepasst.

DSC_3838Außerdem stehen jetzt gleich Borknagar auf der Bühne, die ich seit wirklich vielen Jahren mal sehen möchte, und es hat bisher nie geklappt. Ganz besonders freue ich mich auf ICS Vortex am Mikro, der nach dem Weggang von Andreas Hedlund auch wieder mehr Gesangsparts übernimmt. Mit Arcturus habe ich ihn immerhin schon mal auf dem WGT gesehen, aber eben noch nicht mit Borknagar. Zusammen mit lieben Freund*innen fiebere ich dem Auftritt entgegen, und nach ICS Vortex’ Begrüßung „Deutschland!“, gefolgt von einem dicken Schmatzer ins Mikro, sind wir glücklich. Was Borknagar heute an Prog- und Extremmetal auffahren, ist geradezu überirdisch. Spielerische Perfektion wird mit einer Lässigkeit kombiniert, die man nicht oft sieht. Der Fünfer aus Norwegen wurde 1995 von Gitarrist Øystein Garnes Brun gegründet, der damals so illustre Namen wie Kristoffer Rygg von Ulver oder Ivar Bjørnson von Enslaved um sich versammelte. Nach den melodiösen Black-Metal-Anfängen wurde Borknagar immer progressiver und experimenteller, ohne an Härte einzubüßen. Nicht immer ganz leichte Kost, aber wer sich auf die Komplexität einlässt, wird doppelt und dreifach belohnt. Heute sind Borknagar – mit den Neuzugängen Jostein Thomassen an der Gitarre, der auch oft Growl-Parts beisteuert, sowie Bjørn Dugstad Rønnow, der Baard Kolstad an den Drums ersetzt – in absoluter Hochform, und der Sound spielt auch einigermaßen mit. Die Setlist konzentriert sich eher auf neuere Veröffentlichungen, doch mit „Colossus“ und „Ruins of the future“ wird auch das 2000er-Album Quintessence berücksichtigt. Ganz großes Kino sind aber auch – vor allem – die Songs vom aktuellen Album True north – „The fire that burns“, „Up north“, „Voices“ – die eine perfekte Mischung aus klirrendem Black Metal, warmen Pagan-Anleihen und dieser ganz speziellen Borknagar-Avantgarde darstellen. Das Zusammenspiel der Stimmen von ICS Vortex, Keyboarder Lars Are Nedland und die gelegentlichen Growls von Jostein Thomassen an der Gitarre ist einfach zauberhaft und entführt einen wirklich in den echten Norden. Bei den Songs wird andächtig gelauscht, dazwischen ordentlich gejubelt, und bei „Voices“ – glasklar gesungen von Lars – hält gefühlt das ganze Werk ergriffen die Luft an. Furios geht dieses Feuerwerk von Auftritt mit „Winter thrice“ zu Ende, und es war viel zu kurz.

DSC_3957Doch der Abend ist ja noch lange nicht zu Ende, denn als Nächstes stehen die Finnen Insomnium auf dem Plan. Zu ihnen muss man eigentlich nicht mehr viel sagen, wer melodischen – und melancholischen – Death Metal finnischer Schule mag, weiß sowieso, dass uns hier jetzt eine Stunde musikalischer Siegeszug erwarten werden. Und genauso kommt es auch. Das Werk hat sich irgendwie doch noch akzeptabel gefüllt, das Publikum hat ganz eindeutig Bock auf Insomnium, und die Stimmung ist ab dem ersten Ton von „Karelia“ euphorisch. Auch ich freue mich auf die finnischen Großmeister des melancholischen Deaths, die mit ihren Melodien eine Sehnsucht nach etwas im Herzen hervorzaubern, das man nicht richtig benennen, aber sehr stark fühlen kann. Die Setlist ist ein veritables Best-of der letzten Alben, die aktuelle EP Argent moon, auf der die Band ihre ruhigere Seite zeigt, wird nicht berücksichtigt. Songs wie „Ephemeral“ oder „Valediction“ gehen runter wie Butter. Nach „Revelation“ stellt Sänger Niilo – der sich wieder sehr oft mit dem putzigen „Dankeschön, bitteschön“ bedankt – Nick Cordle vor, der auf dieser Tour den verhinderten Markus Vanhala an der Gitarre vertritt. Der Amerikaner ist seit einiger Zeit festes Mitglied von Vanhalas anderer Band Omnium Gatherum und war früher auch mal bei Arch Enemy. Der Mann versteht seinen Job also und wirbelt mit seiner Gitarre furios über die Bühne. Vor „Mortal share“ wird das Publikum informiert, in Stuttgart sei die Crowd fei schon richtig toll gewesen, und ob man das übertreffen könne? Kann man. Genauso euphorisch geht es weiter, und spätestens bei „While we sleep“ und „Heart like a grave“, DEN Hymnen der Band „about dark and misery in Finland“, gibt es kein Halten mehr. Ein wunderschöner Auftritt des Co-Headliners, leider ohne kleine, intime Einlage mit Cowboyhut wie auf dem letzten regulären Konzert in München 2019, aber man kann nicht alles haben. Dankeschön, bitteschön, wunderschön!

Setlist Insomnium:
Karelia
Ephemeral
Valediction
Revelation
Down with the sun
Mortal share
And bells they toll
Pale morning star
The primeval dark
While we sleep
Heart like a grave

DSC_4213Moonspell als Headliner dürften mit ihrer Erfahrung dieses Stimmungslevel easy halten, oder? Ja, können sie auch, nur: Die Leute wandern ab. Schon nach wenigen Songs der Portugiesen ist das Werk halb leer, und das liegt garantiert nicht daran, dass Fernando Ribeiro und seine Männer auch nur irgendwie einen schlechten Auftritt abliefern würden. Im Gegenteil. Fernando wirbelt mit seinem Pentagramm-Mikroständer ununterbrochen über die Bühne, singt und gestikuliert, dass es ein theatralischer Gothic-Metal-Traum ist (und heute liegt das Gewicht eindeutig auf dem Metal), und bei einigen Songs übernimmt Keyboarder Pedro Paixão sogar wieder wie ganz früher die Gitarre. Es ist also einiges geboten, die Songauswahl erstreckt sich über insgesamt sechs Alben (vor allem Irreligious aus dem Jahr 1996), die aktuelle Scheibe Hermitage wird nur mit einem Song („The greater good“) bedacht. Heute geht es tatsächlich um eine Reise durch das gesamte Schaffen der düsteren Portugiesen, die in späteren Jahren den Begriff „Gothic Metal“ mitgeprägt haben. Seit vielen Jahren spielt der Fünfer in der aktuellen Besetzung zusammen, bis auf Drummer Hugo Ribeiro (weder verwandt noch verschwägert mit Sänger Fernando), der 2020 hinzukam. Trotzdem ist die Band hervorragend aufeinander eingespielt und haut einen Kracher nach dem anderen heraus. Es ist wirklich eine Schande, dass so viele Leute gegangen sind – dank des supertighten Zeitplans ist es nämlich auch noch gar nicht so spät. Die Band lässt sich davon aber nicht irritieren, und die Fans in der vorderen Hallenhälfte feiern „Herr Spiegelmann“, „Vampiria“ oder die Bandhymne „Alma mater“ gebührend ab. Mit „Full moon madness“ – passenderweise ist gerade auch Vollmond – beenden Moonspell die Münchner Feier ihres 30jährigen Bestehens. Es hätten gern mehr Wölfe mitheulen dürfen, aber auch so war es ein mitreißender, engagierter Auftritt, und die Band lässt sich am Ende völlig zu Recht und sehr gerührt abfeiern.

Meine Freund*innen und ich entern dann noch den Merchstand, wo sich Borknagar mit Fans unterhalten und bereitwillig für Fotos und Autogramme zur Verfügung stehen. Die Gelegenheit lassen wir uns natürlich nicht entgehen, und mit signierter CD, T-Shirts und Fotos mit der Band ziehen wir glückselig hinaus in die Nacht.
Ultima Ratio – definitiv nicht der letzte Ausweg, sondern ein vielfältiger, intensiver und bereichernder Extrem-Metal-Abend mit fünf hochklassigen Bands, deren Songs mir noch tagelang nicht aus dem Kopf gehen. Obrigado, kiitos, takk, thank you!

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Setlist Moonspell:
The greater good
Extinct
Finisterra
In an above men
From lowering skies
Opium
Breathe (until we are no more)
Herr Spiegelmann
Mephisto
Vampiria
Alma mater
Full moon madness

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