One big Family in the Name of Music

25 Jahre gibt es die israelische Metalband Orphaned Land nun schon, und das wird auf einer ausgiebigen Tour durch Europa gefeiert. Nach ihrem sensationellen Akustikkonzert vor ziemlich genau einem Jahr im Feierwerk, freue ich mich sehr, die fünf schon so schnell wiederzusehen. Orphaned-Land-Abende sind immer etwas ganz Besonderes, mit dieser familiären, grundentspannten Stimmung und tollen Musikern, die darüber hinaus noch unglaublich nette Menschen sind. Die Band setzt sich seit vielen, vielen Jahren für die Völkerverständigung im Nahen Osten ein, Politik und Religion hat bei ihren Konzerten keinen Platz, hier zählen nur die Menschen und natürlich der Metal. Mit im Gepäck haben Orphaned Land auch immer Bands aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen Stilrichtungen – der Abend verspricht also mal wieder äußerst spannend zu werden!
DSC_2083Als um acht die Chilenen Crisálida in der Backstage Halle auf die Bühne kommen, haben allerdings erst sehr wenige Münchner Metaller den Weg hierher gefunden, dafür sind aber zumindest einige Chilenen anwesend. Crisálida spielen eine sehr engagierte, auf ganze Konzertlänge ein bisschen wenig abwechslungsreiche, aber insgesamt sehr gute Mischung aus Prog- und klassischem Metal, mit breit angelegtem spanischem Gesang und großen Gesten. Man merkt den drei Musikern um Sängerin Cinthia Santibáñez die Nervosität ein wenig an, gerade als unglücklicherweise dann nach dem ersten Song auch noch eine Saite an Damián Agurtos Gitarre reißt. In ihrer Heimat Chile ist die Band seit über fünfzehn Jahren aktiv und hat sich mit insgesamt fünf Alben und vielen Tourneen eine große Fangemeinde erspielt. Hier in Europa kennen sicher nur Eingeweihte das Quartett. Als die kleine Panne erfolgreich behoben ist, rocken Crisálida unbeirrt weiter, immer angetrieben von Cinthia, die ihr Handwerk wirklich beherrscht. Die Kommunikation mit dem Publikum leidet mangels sicherer Englischkenntnisse ein wenig, aber dafür spricht die Musik umso lauter. Wer Metal mit spanischem Gesang mag, sollte hier unbedingt mal reinhören, zum Beispiel ins aktuelle Album Terra Ancestral.

DSC_2243Musikalisch und geografisch ändert sich bei der zweiten Band des Abends dann einiges: Imperial Age aus Russland präsentieren nach erfolgreichen Auftritten im Vorprogramm von Therion im Frühjahr des Jahres nun erneut ihre Version von Symphonic Metal in München. Die ja gar nicht mal so kleine Bühne ist mit zwei Keyboards, Gitarre, Bass, Sängerin und Schlagzeug richtig voll, Bewegungsspielraum haben die Musiker nicht viel. Die Truppe um Keyboarder und Sänger Alexander Osipov macht aber das Beste daraus und liefert einen leidenschaftlichen Auftritt. Die Band besteht aus hervorragenden Musikern, optischer Blickfang sind eindeutig Sängerin Anna Moiseeva und Co-Sängerin und Keyboarderin Jane Odintsova, Gitarrist Alexander Strelnikov und Bassist Lex Romano machen eine gute Show, und Alexander kommt immer wieder hinter dem Keyboard hervor, um mit Anna und Jane zusammen zu singen. Alles in allem also sehr professionell und mit vollem Einsatz – der musikalische Stil ist allerdings Geschmackssache. Ich kann mit Symphonic Metal tendenziell schon einiges anfangen, aber wenn die Stimmlagen zu hoch sind, wird es mir schnell zu viel. Genau das tritt leider auch bei Imperial Age ein – oft dreistimmiger Gesang, davon zwei sehr hohe weibliche Stimmen, dazu ein dichter Symphonic-Teppich UND ordentliche Gitarrengewitter … das ist in dieser Mischung für mich etwas zu viel des Guten. Viele im Publikum sehen das ähnlich, doch vor der Bühne haben sich einige beinharte Fans postiert, die für ordentlich Stimmung sorgen. An der Leistung von Imperial Age ist überhaupt nichts auszusetzen, meinen persönlichen Geschmack haben sie leider heute nicht vollständig getroffen.

DSC_2351Auch die dritte Band des Abends ist mir noch unbekannt, Voodoo Kungfu, eine chinesisch-amerikanische Truppe, die schon beim kurzen endgültigen Soundcheck in der Umbaupause durch ihr exotisches Äußeres Lust auf mehr macht. Geschminkte, bemalte Gesichter, rockartige Beinkleider, die tibetanische Thangkas (Wandbehangstoffe mit religiösen Motiven) sein könnten, wilde Frisuren, viel nackte Haut … was da wohl auf uns zukommt? So viel sei schon mal gesagt: Voodoo Kungfu zu beschreiben, ist fast unmöglich. Ich empfehle dringend, sich die Band selbst anzuschauen, Worte können das nun Folgende kaum adäquat wiedergeben. Als die Lichter ausgehen und die Musiker ihre Positionen eingenommen haben, tritt eine dämonenartige Gestalt mit Maske und vielfarbigem Stoffumhang ans Mikro und beginnt zu singen – im Obertongesang! Von Metal ist hier erst einmal weit und breit noch nichts zu hören, aber das ist egal. Alles starrt und lauscht fasziniert Richtung Bühne und lässt sich nach Asien entführen. Nach einer Weile legt der Sänger dann Gewand und Maske ab, und die nächste Überraschung steht dem Publikum bevor: Nan Li ist Bodybuilder und ultramuskulös, von Kopf bis Fuß tätowiert und eine wahrlich beeindruckende (und auch Furcht einflößende) Erscheinung. Außerdem ist er ein Stimmakrobat, wie ich ihn noch selten gehört habe, jeglicher extreme Gesang, den man sich vorstellen kann, geht ihm kinderleicht von der Hand. Extrem wird auch der Sound, wenn die ganze Band loslegt – brachialer Metal, oft eine einzige Lärmwand, oft aber auch sehr rhythmisch und groovig. Dazu dann Nan Lis völlig wahnsinnige Performance, deren Intensität keine Sekunde gespielt wirkt. Der Mann scheint wie in Trance, wirbelt über die Bühne, weiß kaum, wohin mit seinen ganzen Emotionen, bringt die absurdesten Töne hervor – und man kann schier die Augen nicht von ihm lassen. Nicht nur ich bin völlig fasziniert von dieser Naturgewalt, wobei die anderen Musiker auf keinen Fall vergessen werden dürfen. Auch sie liefern sehr, sehr gute Leistungen ab, und vor allem der Bassist mit seiner Stachelfrisur und sehr passender Performance ist ein echter Blickfang. Songs wie „Bruce Lee“ oder „Born on June 4th“ muss man sich erarbeiten, aber die Mühe lohnt sich. Ebenso lohnenswert ist ein Blick auf die Facebook- oder die Webseite der Band, wo Nan Li ausführlich seinen und den Werdegang der Band beschreibt. Zum Beispiel war er nach seiner Übersiedlung von China nach Los Angeles 2012 der erste Student, der als reiner Heavy-Metal-Sänger am renommierten Berklee College für Musik aufgenommen wurde. Wer auf völlig durchgeknallte Musik und Optik steht und sich außerdem für Asien interessiert, der ist hier genau richtig. Das Slayer-Cover „Raining Blood“ bringt die Halle noch mal richtig zum Kochen – „normalen“ Metal können die Jungs also auch!

DSC_2565Die vorderen Reihen inklusive mir sind schon völlig ausgepumpt, aber der Hauptact kommt ja erst noch! Also alle Kräfte mobilisieren und mit Orphaned Land ab dem ersten Ton mitjubeln. Kobi Farhi, Chen Balbus, Uri Zelcha und Idan Amsalem postieren sich direkt am Bühnenrand, befinden sich quasi mitten im Geschehen und wirken so nahbar wie kaum eine andere Band. Vom ersten Ton von „All is one“ an tobt die Halle, pures Glück durchweht den Raum, die Haare fliegen, überall wird mitgesungen. „The simple Man“ setzt da gleich noch einen drauf. Es geht wirklich Schlag auf Schlag, „Let the Truce be known“, das mächtige „Barakah“ und „Kiss of Babylon“ … die Halle ist im Oriental-Metal-Himmel. Die Band spielt tight ohne Ende, vor allem Dank Schlagzeuger Matan Schmuely, Uri und Idan posen wie die Weltmeister, Chen kommt aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus, und in der ersten Reihe muss man sich vor dem Mikrofonständer in Acht nehmen, mit dem Kobi ausgiebig herumwirbelt. Eine erste kleine Verschnaufpause gewährt uns das unglaublich schöne „Brother“, das den Spirit der Band perfekt transportiert. Das ist auch an den in der Halle anwesenden Nationalitäten zu erkennen: Hinter mir steht eine junge Muslima mit Kopftuch und tunesischer Flagge, die höllisch abgeht, auf Kobis Nachfrage melden sich Iraner, Syrer, Armenier, Italiener … der Abend ist also wirklich so international, wie die Band es sich wünscht, und das ist großartig.
„Birth of the Three“ und das herrlich orientalische „Olat Ha’tamid“ machen wieder ordentlich Dampf; „Ocean Land“ vom großartigen Mabool-Album leitet zu einem DER Bandklassiker über, „Sapari“, bei dem wirklich keiner mehr in der Halle stillstehen kann und mitsingt – ob mit oder ohne Sprachkenntnisse. (Mehr Infos zu diesem interressanten Song gibt es hier) Mein persönliches Highlight wird kurz darauf gespielt, „El meod na’ala“ vom mittlerweile auch schon zwanzig Jahre alten Album El norra alila. Den Titelsong dieses Albums gibt es unter anderem dann als bewährte Zugabe, und Orphaned Land haben wie immer einen rundum sensationellen Auftritt abgeliefert. Hier darf gebangt werden, mitgesungen und die Arme geschwungen, gehüpft – alles ist dabei, vor allem aber viel, viel Freude und Gemeinschaftsgefühl. Unbezahlbar.

Die fünf Israelis muss man einfach mal live erlebt haben (wenn man grundsätzlich mit ihrem Oriental-Fusion-Metal was anfangen kann oder ansonsten sehr aufgeschlossen ist), die neueren Songs sind auch weniger verfrickelt als das alte Material und zünden live richtig, richtig gut. Trotz aller Ausflüge ins Akustische und diverser nichtmetallischer Nebenprojekte können die fünf noch die Nackenmuskeln zum Schmerzen bringen, als gäbe es kein Morgen. Trotz der langen Bandkarriere (zur Urbesetzung gehören noch Kobi Farhi und Uri Zelcha) vermittelt die Band eine immense Spielfreude und wird von Jahr zu Jahr immer besser. Nach dem Konzert mischt man sich dann völlig selbstverständlich unters Volk, plaudert entspannt, gibt Autogramme und lässt geduldig die Selfieanfragen über sich ergehen.
Insgesamt also ein Abend, bei dem für jeden etwas dabeigewesen sein dürfte, an dem Orphaned Land aber die unbestrittenen Headliner waren. Ich freue mich aufs neue Album nächstes Jahr und eine hoffentlich anschließende Tour!

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Setlist Orphaned Land:

Intro: Kna’an
All is one
The simple Man
Let the Truce be known
Barakah + Kiss
Brother
Birth + Olat
Ocean Land
Sapari
A never ending Way
El meod na’ala
In thy never ending Way

In thy + Beloved’s Cry
Norra + Ornaments

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