Im Rhythmusrausch

Nitzer Ebb treten wieder auf? Und es gibt sogar eine Tour? Da sind wir doch sofort dabei! Als die Ankündigung vor einem Jahr kam, waren nicht nur wir von Schwarzes Bayern euphorisch, ist es doch viele Jahre her, dass die Band uns hier in München beehrt hat. Auch sonst hat man sich sehr rar gemacht, und viele sind nach den EBM-Göttern ausgehungert. Doch die Ernüchterung folgte bei vielen Oldschool-Fans nach den Auftritten auf dem WGT und dem Amphi auf dem Fuß, denn die kalte, brutale EBM-Härte ist einem clubbigeren, technoideren und etwas leichter zugänglichen Sound gewichen. Skandal! Frevel! Daher gehen wir als Fans des schönen alten Testosteron-EBMs mit etwas gemischten Gefühlen in diesen Abend, wollen uns aber definitiv selbst von den „neuen“ Nitzer Ebb ein Bild machen. Dass Daniel Myer mit Liebknecht dabei ist, ist ein zusätzlicher Anreiz, denn mit einem Myer-Projekt kann man gar nichts falsch machen. Bleibt nur noch die Frage, wie viel Leute den Weg an einem Dienstag ins Backstage finden – beim Konzert 2010 war es überraschend leer …

Grellrotes von der Bühne strahlendes Licht empfängt die Besucher heute in der Halle, das dermaßen blendet, dass ich den Schirm meiner Mütze tiefer ziehe und die meisten in der Wartezeit der Bühne den Rücken kehren oder gleich im Barbereich bleiben. Liebknecht haben ihr Equipment auf einem großen Tisch oben auf der Bühne aufgebaut, und so kann man leider nicht viel davon ausmachen. Auf jeden Fall gibt es einen Laptop, zwei Synthies und ein oder zwei Effektgeräte. Prägnant sind jedoch die zwei kantigen Schädel, die das Albumcover von Produkt optisch umsetzen, das dieses Jahr veröffentlicht wurde. Originellerweise erinnern die dahinter liegenden Kabel im leichten Nebel in dem Zusammenhang ein wenig an die Knochen eines Brustkorbs.

DSC_0687Elektro-Urgestein Daniel Myer ist den meisten wohl als Mitglied von Covenant, Haujobb oder Architect bekannt, um nur einige seine Bandprojekte zu nennen. Der zweite Mann hinter Liebknecht ist Rinaldo Bite von Static Sky, mit dem er auch bei Destroid aktiv ist. Um 19:28 entern beide die Bühne, zwei Minuten zu früh, aber man ist schließlich besser pünktlich am Bahnsteig, um die Soundreise anzutreten. Eine Videoleinwand gibt es leider nicht, um so mehr muss man sich auf die beiden Musiker konzentrieren. Die Songtitel auf Produkt interpretieren die Stationen einer Zugreise, und wie im Zug ziehen Sound-Landschaften an den Anwesenden vorbei. Hin und wieder flüstert Myer etwas ins Mikrofon. Schließlich wird es technoider, und so muss man fast schon unweigerlich mitwippen. Er gibt kurz Anweisungen an den Bühnenmischer, um den Sound noch zu optimieren und kündigt dann den Song „Leipzig“ an, was von den Fans in den vorderen Reihen bejubelt wird. Insgesamt ist es aber noch recht übersichtlich in der Halle. Weiter geht die Reise, der Bass wird noch härter, und passend dazu wird der Gesang verzerrt eingesetzt. Viel erzählt wird nicht, da die Songs mehr oder weniger ineinanander fließen, aber Myer läßt sich zu einem „Yeah!“ hinreißen, während Bite die ganze Zeit über konzentriert bleibt und keine Miene verzieht. Außerdem bedankt er sich für den Zwischenapplaus, wobei das Publikum insgesamt eher verhalten reagiert und nur wenige wirklich tanzen. Auf den Dark-Techno-Sound muss man sich einlassen können, das hatte sich schon unlängst bei Rhys Fulber gezeigt (Link zum Bericht). Dabei ist die Musik durchaus abwechslungsreich, denn es wird nicht nur vom Tempo her variiert, es werden auch Einflüsse aus EBM, Industrial und Synthie-Pop verarbeitet. Anders als die Deutsche Bahn sind Liebknecht allerdings pünktlich, und so beenden sie Punkt 20:00 ihre musikalische Reise. Bite winkt kurz zum Abschied, und Myer verabschiedet das Publikum mit „Vielen Dank! Viel Spaß mit Nitzer Ebb!“ Der Applaus ist verdient und fällt lauter aus, als man den vorherigen Publikumsreaktionen nach erwartet hätte. Der Auftritt ist gut, kann mich aber im Vergleich zu Fulber nicht ganz so begeistern, dessen Set einfach düsterer und dystopischer war. Außerdem ist es schade, dass wir den Musikern nicht direkt beim Zusammentüfteln der Sounds zusehen konnten, denn das ist echt spannend zu beobachten.

DSC_0934Mit Covenant im Ohr und einem Kaltgetränk lässt sich die Wartezeit auf Nitzer Ebb gut überbrücken, während der es nun optisch voll wird, aber nicht ausverkauft. Der Bühnenaufbau ist schlicht, im Hintergrund erhöht stehen links und rechts insgesamt vier Synthies/Keyboards und ein Laptop, und in der Mitte befindet sich ein E-Drumkit. Der vordere Bereich ist leer bis auf einen einzelnen Mikroständer. Statt einem großen Backdrop gibt es drei einzelne Banner mit dem Schriftzug NEP, dem Stern-Hammer-Zahnrad-Logo und dem Covergesicht der Single Hearts & Minds. Pünktlich um 20:30 verdunkelt sich die Halle, was die ersten Jubelrufe auslöst. Links und rechts stellen sich David Gooday und Simon Granger an die Gerätschaften und spielen zunächst alleine ein atmosphärisches Intro. Alles ist in blaues Licht gehüllt, und nun kommt auch Drummer Bon Harris in der Mitte hinzu und verbeugt sich kurz. Komplett sind Nitzer Ebb aber natürlich nur mit Sänger Douglas McCarthy, der im schwarzen Anzug auftritt. Dazu trägt er schwarze Chelsea-Stiefeletten mit klobigen 70er-Jahre-Hacken und eine Porno-Piloten-Sonnenbrille und erinnert dank des eingegelten Haars damit wahlweise an einen Agenten aus Men in Black oder einen Zuhälter aus den Siebzigern. Doch nicht nur die Optik ist grandios, auch der Auftakt mit „Blood money“, das den nun kommenden Rhythmusrausch einleitet. „What’s on, Munich? Nice to see you!“, heizt er die Menge an, denn die ist hier „For fun“ und stellt das mit klassischem EBM-Stechschritt und vereinzelten begeisterten Schreien unter Beweis. Stroboskopblitze blenden, und ich befürchte schon Ähnliches wie bei Die Krupps letztes Jahr (Link zum Bericht), doch so arg wird es heute dann doch nicht. Zu „Captivate“ zeigt Harris extatische Tanzeinlagen hinter seinem E-Drumkit, und McCarthy schiebt nun endlich den Mikroständer beiseite, der ohnehin nur im Weg ist, wenn er über die gesamte Breite der Bühne wirbelt. Er lässt sich von der begeisterten Menge feiern und hat sichtlich Spaß. Zu „Hearts and minds“ tanzt bereits die komplette vordere Hälfte der Halle und erweist sich als textsicher, als der Refrain mitgesungen wird. Vereinzelt wird sogar mitgeklatscht. Kann man das noch toppen? Ja, mit dem Überhit „Getting closer“, der in den Neunzigern auf keiner guten Party fehlen durfte. Harris kommt dafür nach vorn und krallt sich das zweite Mikro, und auf und vor der Bühne gibt es kein Halten mehr. Ich bekomme direkt Gänsehaut. Inbrünstig wird der Text von allen mitgesungen, an koordinierten Stechschritt ist nicht mehr zu denken. Stattdessen entwickelt sich ein amtlicher Pogo-Pit, der fast schon den erst kürzlich bei New Model Army erlebten (Link zum Bericht) heranreicht. „I’ve got to say that it hurts!“, und unzählige erhobene Arme bestätigen das eindringlich. Die in der ersten Reihe werden sogar verschwitzt von McCarthy abgeklatscht. Endlich kommt die ursprüngliche Härte von Nitzer Ebb richtig durch, denn trotz aller Begeisterung muss ich feststellen, dass mir die fast schon maschinellen Stakkato-Rhythmen der alten Tage abgehen. Denn diese sorgten für ein Alleinstellungsmerkmal in der EBM-Szene. Die Musik ist insgesamt weicher und runder, einzelne Sounds erinnern dabei sogar an Erasure oder Synthie-Pop. Nitzer Ebb etwas angepasst an heutige Club-Hörgewohnheiten. Auch McCarthy klingt stimmlich weicher und runder. Das mag am Alter und/oder einer viel besser trainierten Stimme liegen, die sich so aber besser in den neuen Sound einfügt. Dennoch vermisse ich seine kalte Aggressivität von früher, die durch die teils monoton wirkenden Textwiederholungen noch verstärkt wurden. Die Lyrics haben sich zwar nicht verändert, die Wirkung hingegen schon. Aber jetzt, zu zweit, wird der richtige Druck erreicht.

DSC_0924Auch „Lightning man“ ist natürlich ein Hit für sich, den McCarthy wieder alleine singt, aber direkt im Anschluss fast wie eine Erholungspause wirkt, die gerne genutzt wird. Für reichlich Jubel und Applaus ist aber noch Luft, und er bedankt sich mit einem schlichten „Dankeschön!“ Beim folgenden „Once you say“ nimmt er die Textzeile „Move that body“ wörtlich und schwenkt ausgiebig den Arm im Rhythmus. Viele machen mit, für Stadionrock-Niveau reicht es aber noch nicht. Dennoch bedankt er sich und holt den Mikroständer zurück. Denn mit „Come alive“ nehmen Nitzer Ebb etwas Tempo raus, das im Vergleich zu den vorangegangenen Nummern fast schon balladesk wirkt, und „Ascend“ schließt sich an. Mit „Shame“ kommt wieder Bewegung in die Menge, Harris posiert mit seinen Drumsticks und macht dann für „Join in the chant“ wieder den zweiten Sänger, um den Songtitel wörtlich zu nehmen. Auch das Publikum brüllt den Refrain begeistert mit, und der Pogo rotiert. McCarthy macht einen Ausflug zu Simon Granger hinten rechts und reibt sich an ihm, angefeuert von den Münchnern. Arm in Arm stehen Harris und McCarthy schließlich zusammen vorne und fordern: „Sing it!“ Und noch einmal wird die Halle lauter: „Join in the chant!“ Dass nun „Control I’m here“ folgt, ist eine Ironie sondergleichen, denn unter Kontrolle ist hier niemand mehr. Das Publikum ist längst einem Rhythmusrausch verfallen, einen Crowdsurfer schwemmt es auf die Bühne. Da steht er nun und will zurückspringen, doch dafür sind die Reihen zugegebenermaßen nicht eng genug. Der Bühnensecurity dauert das schließlich zu lang, und man befördert ihn mit einem Schubs zurück. Harris lässt sich von der ausgelassenen Stimmung anstecken und tanzt mehr, als dass er auf sein E-Drumkit einschlägt. Nur Gooday und Granger bewahren stoisch die Ruhe hinter ihren Synthies, aber irgendjemand muss ja schließlich für den Sound sorgen. Nahtlos geht es in „Down on your knees“ über, das richtig reinknallt, und wieder ohne Pause weiter zu „Let your body learn“. Erneut Gänsehaut, derweil geht es im Pogo wieder rund, denn Harris liefert von hinten erneut gesangliche Unterstützung. Zwei Mann gehen hinter mir zu Boden, können sich aber wieder aufrappeln. Nun hält es Harris nicht mehr auf seiner Position, und er bekommt – während McCarthy um Gooday herumtanzt – für „Murderous“ seine eigene Show, die nun in rotes Licht getaucht ist statt dem bislang vorherrschendem blau/weiß/Strobo. Die Menge feiert, und er bedankt sich erschöpft mit: „Thank you!“, macht das Peace-Zeichen und verschwindet mit dem Rest der Band.

Es wird gejohlt und gejubelt, und so kehren Gooday, Granger und Harris auf die Bühne zurück. Dieser übernimmt den Synthie, und Gooday performt überraschend das nun folgende „Alarm“. Und wie! Er peitscht die Worte regelrecht ins Mikrofon, während der Rhythmus gewaltig hämmert. Das ist EBM, Industrial und Punk alles gleichzeitig und für mich persönlich das absolute Highlight heute. Aber auch das Publikum ist begeistert und reagiert zwischendurch mit einem „Hey!Hey!“ Sprechchor. Leider geht die Band danach schon wieder ab, aber München verlangt nach mehr. Die Pause gerät aber schon etwas länger, bevor es weitergeht. McCarthy kommt erst von hinten, während „Warsaw Ghetto“ bereits läuft, aber das Kabel ist zum Glück lang genug. Ich empfinde den Song als etwas zahm, gerade im Vergleich zum Vorgänger, aber vielleicht sind auch einfach alle mittlerweile erschöpft nach diesem Abend, denn schließlich verschwindet die Band schon wieder. Doch selbst der Lichtmischer hat noch nicht genug und schaltet sich optisch in die „Zugabe“-Rufe mit ein, und so werden wir zum Abschluss mit „Godhead“ belohnt, das mit einem Stroboskop-Gewitter untermalt wird. Wer noch kann, stürzt sich noch einmal in den Pogo. Für den endgültigen Abschied nehmen sich die vier Bandmitglieder in den Arm, verbeugen sich, und McCarthy wendet sich noch einmal ans Publikum: „Thank you! These are Simon Granger, David Gooday and Bon Harris, and we are Nitzer Ebb!“
Anschließend lockt DJ Sconan direkt mit Front 242 noch zur Blackstage-Aftershow-Party, aber ich bin durch und schleppe meine durchgeschüttelten Knochen mit einem breiten Grinsen heimwärts.

Fazit: Liebknecht mit Daniel Myer und Rinaldo Bite ist die ideale Vorband, um auf den Abend mit Nitzer Ebb einzustimmen. Sie liefern ein knackiges Set, bei dem man sich gut unterhalten fühlt und sich ein wenig eingrooven kann. Die halbe Stunde verging für mich wie im Flug. Nitzer Ebb liefern ein Hitfeuerwerk, das keine Wünsche offen lässt, und feiern eine Party mit dem Münchner Publikum, das die oftmals typische Zurückhaltung heute ablegt und im Rhythmusrausch mächtig mitgeht. So macht das allen einen Riesenspaß, und ich bin mir ziemlich sicher, für manch eine/n ist das heute das Konzert des Jahres.

:stampf: :stampf: :stampf: :stampf: :stampf:

Der einzige persönliche Wermutstropfen: Ich wünschte, ich hätte die Band bereits vor 25 Jahren live erlebt, als wir alle noch jung waren. Insofern kann ich auch diejenigen verstehen, die mit den neuen Nitzer Ebb nicht richtig warm werden.

Setlist Nitzer Ebb:
Blood money
For fun
Captivate
Hearts and minds
Getting closer
Lightning man
Once you say
Come alive
Ascend
Shame
Join in the chant
Control I’m here
Down on your knees
Let your body learn
Murderous

Alarm

Warsaw ghetto

Godhead

(6433)