Peace, love & unity

Die Israelis Orphaned Land haben bereits seit vielen, vielen Jahren einen festen Platz in meinem Herzen, und ich freue mich schon seit langem auf das Konzert am heutigen Abend. Nach über fünf Jahren und dem letzten, hochgelobten Album All is one ist Ende Januar dieses Jahres ihre neue Platte Unsung prophets and dead messiahs erschienen, die euphorische Rezensionen bekam und das bis dato ambitionierteste Werk der Band ist. Parallel dazu ist seit 10. März auf YouTube eine absolut sehenswerte Rockpalast-Dokumentation über Orphaned Land abrufbar, die einen sehr persönlichen Einblick in das Leben der Bandmitglieder und das Leben in Israel gibt. In dieser Doku, aber vor allem mit ihrer Musik, ihren Konzerten, ihren Interviews, kämpfen die Bandmitglieder gegen die politische Indoktrination, dass Muslime, Christen und Juden verfeindet sein müssen, denn das Gegenteil ist der Fall. All is one, wir sind alle eins, und Metal ist die alles vereinende Religion. Ihre Konzerte sind legendäre Familienfeiern, bei denen die Muslima mit Kopftuch neben dem westeuropäischen Parademetaller ausflippt und alle einfach nur glücklich sind. Und auf genau diese Stimmung freue ich mich – also ab ins Backstage.

_DSC8616Pünktlich um 19 Uhr geht es auch schon mit der ersten Supportband los, auch wenn noch nicht viele den Weg in die Backstage Halle gefunden haben. Dirty Shirt stehen auf dem Programm, ich weiß nur, dass sie aus Rumänien kommen und eine Folk-Metal-Mischung spielen. Das ist grundsätzlich auch alles richtig, nur hätte wohl keiner in der Halle mit dem kontrollierten Wahnsinn gerechnet, der sich ab dem ersten Stück vor uns auf der Bühne abspielt. Sechs Musiker springen wild durcheinander (und der Schlagzeuger vermöbelt sein Instrument), liefern eine wüste und völlig unberechenbare Mischung aus Ska, Punk, Folk (die Geige!), Hardcore und Metalriffs ab, die es in dieser Form wahrscheinlich noch nicht gab. Den Gesang teilen sich Dan Craciun und Robert Rusz, und dabei bleibt uns allen regelmäßig der Mund offen stehen. Dan hat eine wunderschöne Klarstimme, mit der er vor allem gegen Ende des Auftritts die rumänischen Songs umwerfend intoniert, und Robert beherrscht alles vom wüsten Growlen bis zum ergreifenden Bariton. Auch die anderen Musiker sind hervorragend und verrutschen trotz ständigen Hüpfens und Rennens nicht einmal an ihren Instrumenten. Nach den ersten paar Songs (dem Instrumental „Ciocarlia“, „Moneyocracy“, „Ride“, „Freak show“ und „Rocks off“) hat sich das Publikum an das irre Schauspiel auf der Bühne gewöhnt, bewegt sich ebenso unaufhörlich wie die Musiker und folgt Roberts Aufforderung, bei „Dirtylicious“ eifrig mitzuhüpfen. Danach wird es mit „Maramu“ und „Saraca inima me“ ein wenig ruhiger, doch ohne brutale Metalriffs (ich fühle mich manchmal an Sepultura in alten Zeiten erinnert) geht es nicht. „Bad apples“ gibt noch mal richtig Gas, und am Ende sind alle erschöpft, aber sehr, sehr glücklich. Dirty Shirt sind eine Wahnsinnsentdeckung, die Spaß machen UND riesiges Talent haben.

_DSC8689Wer geglaubt hat, jetzt endlich in Ruhe sein Vorbandbierchen trinken zu können, hat sich allerdings getäuscht. Als Nächstes kommen die Israelis Subterranean Masquerade auf die Bühne – nein, auch sie springen, vor allem Livesänger Davidavi Dolev, der vorher die Atmosphäre schon mit diversen Räucherstäbchen gereinigt und sich spirituell auf den Auftritt vorbereitet hat. Vergeistigt ist hier aber nichts, ganz im Gegenteil, denn die Energie, die Davidavi und die anderen Bandmitglieder an den Tag legen, kommt fast an das Wahnsinnslevel von Dirty Shirt heran. Auch hier wimmelt und wuselt es vor Musikern, die vor Spielfreude schier platzen und keine Sekunde – wirklich keine – stillstehen. Die Musik wird da fast zur Nebensache, auf jeden Fall ist es schnell, proggig, durchaus metallisch, mit Growls von Eliran Weizman, aber auch folkig (vor allem mit Gastgeiger Cosmin Nechita von Dirty Shirt), einzelne Songstrukturen sind kaum zu erkennen, die Ansagen auch nicht zu verstehen, aber das ist völlig egal, weil die Stimmung einfach umwerfend ist. Nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum, versteht sich. Die Band hat ein neues Album, Vagabond, auf dem Markt, von dem auch immer wieder Songs angekündigt werden, nur die Titel gehen in der allgemeinen Euphorie unter. Außerdem ist man sowieso damit beschäftigt, Davidavi bei seinen Ausflügen von der Bühne zuzuschauen, am Ende klettert er in bester Crüxshadows-Rogue-Manier am Bühnengestänge empor und hängt dort oben erst mal ab – buchstäblich. Am Ende kocht die Stimmung dermaßen hoch, dass man meinen könnte, hier würde sich gerade der Headliner verabschieden – und das bei einer Band, die sicher nicht allen im Publikum bekannt war.
Davidavis Fazit des Auftritts lautet „seriously fucking supergeil!“, das werden die meisten Anwesenden im Raum unterschreiben.

_DSC8800Und wer jetzt endlich sein Bierchen trinken will, ohne die Hälfte zu verschütten, hat wieder Pech, auch wenn es musikalisch und auf der Bühne wieder etwas sortierter zugeht. Die Italiener Lunarsea spielen als erste Band des Abends relativ lupenreinen Metal mit ordentlicher Death-Schlagseite, und da muss man natürlich engagiert die Haare schütteln. Hier gibt’s kein Erbarmen und voll auf die Zwölf, außerdem eine lesbare Setlist und verständliche Ansagen, sodass wir uns freudig den Nacken zu Songs wie „3 pieces of mosaic“, „Metamorphine“ oder „In a firmness loop day“ verrenken. Sänger Alessandro Iacobellis steht wie schon seine Vorgänger an diesem Abend keine Sekunde still und heizt die Menge vorzüglich an. Ganz vorzüglich gefällt mir auch der Klargesang von Bassist Cristian Antolini, der immer wieder schöne Akzente setzt. Bei „The apostate“, „Beside the driver“ und vor allem dem hochmelodischen Abschlussbrecher „As seaweed“ können wir noch einmal die flitzenden Finger von Gitarrist Fabiano Romagnoli bewundern und uns über einen gelungenen Auftritt der Italiener freuen, bei dem sich die Metalfraktion des Publikums austoben konnte und der Rest auch Spaß hatte.

_DSC9068Mittlerweile ist es halb zehn Uhr abends, drei Bands haben uns schon etwas ausgepowert, aber das ist alles vergessen, als Orphaned Land schließlich auf die Bühne kommen und mit dem Eröffnungstrack, „The cave“, von Unsung prophets and dead messiahs beginnen. In diesem Song hat Sänger Kobi das Höhlengleichnis von Platon verarbeitet (das im Übrigen auch auf dem restlichen Album immer wieder angesprochen wird), über in einer Höhle gefangene Menschen, denen eine bestimmte Weltordnung vorgegaukelt wird und die sich von dieser kaum lösen können, selbst wenn sie ins Freie dürften und die echte Welt kennenlernten. Eine Parabel, die sich auf die aktuelle politische Situation im Nahen Osten hervorragend anwenden lässt. Der Song wird euphorisch abgefeiert, das neue Album ist offensichtlich schon gut bekannt. Mit „All is one“ kocht die Stimmung noch weiter hoch, denn das Lied kennen wirklich alle, und die Band muss gar nichts mehr tun außer spielen, singen und sich sichtlich über die Publikumsreaktionen freuen. Schon jetzt hat man das Gefühl, auf einem großen Familientreffen zu sein, und das ist wirklich einzigartig.
Die härteren, metallischeren Ursprünge des Bandkatalogs werden zum Glück nie ausgelassen, und so hören wir auch heute „The kiss of Babylon“ vom legendären Mabool-Album, das mit Kobis Growls und den schweren Riffs um einiges düsterer daherkommt, aber auch schon die typischen Melodiebögen und Mitsingpassagen aufweist. „Ocean land“ schließt nahtlos daran an. Danach machen wir alle gern einen Zeitsprung, als Kobi „We do not resist“ ankündigt, eines der wichtigsten Lieder des neuen Albums, das wütend die allgemeine Lethargie anprangert, sich nicht gegen Unrecht, Hass und Krieg zur Wehr zu setzen. Bei den Growls wird Kobi von Eliran Weizman von Subterranean Masquerade unterstützt, und der Song entfaltet genau die beabsichtigte Kraft. Hochpolitisch geht es weiter mit „Let the truce be known“, samt dazugehörigem Video auf der Hintergrundleinwand, gefolgt von einem der besten Songs aus der Karriere von Orphaned Land: „Like Orpheus“. Als erste Single des neuen Albums mit eindringlichem, auf einer wahren Geschichte basierendem Video über muslimische und jüdische Metalfans hat der Song vor einigen Wochen hohe Wellen geschlagen, nicht zuletzt auch durch Hansi Kürschs Gastbeitrag, der mit seiner engelsgleichen Stimme Orpheus verkörpert. Auf der Bühne übernimmt Kobi Hansis Part und brilliert hier ebenfalls mit einer astreinen Gesangsleistung (wie übrigens während des gesamten Konzerts). Ein Wahnsinnssong, der sicher nicht nur mir die Tränen in die Augen treibt.
Bei „Birth of the three“ reisen wir wieder zu Mabool zurück, und auch „Olat ha’tamid“ ist den Anwesenden wohlvertraut, jeder singt den hebräischen Text bestmöglich mit. Die Stimmung in der Halle ist unverändert sensationell, und vor allem Chen kommt aus dem Grinsen überhaupt nicht mehr raus, während Kobi mit Mikroständer über die Bühne wirbelt und Uri und Idan ultrapräzise wie immer direkt am Bühnenrand in die Menge hineinspielen. Matan sorgt hinter seinem riesigen Drumkit für den perfekten Rhythmus und lässt sich ab und zu blicken, um uns noch mehr anzufeuern.
Zwei weitere Songs vom neuen Album gibt es noch zu hören, die ineinander übergehen, „In propaganda“ sowie „All knowing eye“, was auch auf Platte schon gut funktioniert und vom Publikum bejubelt wird. Doch beim folgenden Klassiker „Sapari“ kocht die Stimmung in der Halle richtig über, alles hüpft und bangt und strahlt so viel Glück und Freude aus, dass man dieses Gefühl am liebsten abpacken und für schlechte Zeiten mit nach Hause nehmen würde. „In thy never ending way“ mit seinem markanten „Lai lai lai“-Refrain verbreitet noch viel mehr Glück, bis wir bei der ersten Zugabe ein bisschen verschnaufen und besinnlich werden dürfen. „The beloved’s cry“ ist Orphaned Lands einziges Liebeslied, von Kobi mit den Worten angekündigt: „We leave love to pop. But we’re still young and full of love, so …“ Er und Chen spielen den Song allein auf der Bühne, wer danach keine schwachen Knie hat, dem ist auch nicht zu helfen. Der Überhit „Norra el norra“ beschließt traditionell den Auftritt, am Ende schwenken alle, wirklich alle die Arme und singen mit, und wenn man damit nicht schon vollauf beschäftigt wäre, würde man alle Menschen um einen herum umarmen.

Orphaned Land schaffen es wirklich immer, genau die richtige Balance aus wichtiger politischer Message, Eingängigkeit, Exotik und ganz, ganz viel Metal zu erschaffen, gepaart mit unglaublicher Freundlichkeit und Fannähe. Bei ihren Konzerten ist es völlig egal, woher man kommt, Hauptsache, man ist da und feiert. Eine Tüte Orphaned-Land-Glück zum Mitnehmen bitte oder wenigstens ein T-Shirt am Merchstand.
Außerdem haben sie wieder einmal ihr Händchen für ausgezeichnete und spannende Vorbands bewiesen (siehe die unglaublichen Voodoo Kungfu bei der letzten Tour), die man sich alle merken sollte.

Fünf Mosher? Ach was, sechs!
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Setlist Orphaned Land:
1. The cave
2. All is one
3. The kiss of Babylon
4. Ocean land
5. We do not resist
6. Let the truce be known
7. Like Orpheus
8. Yedidi
9. Birth of the three
10. Olat ha’tamid
11. In propaganda
12. All knowing eye
13. Sapari
14. In thy never ending way

15. The beloved’s cry
16. Norra el norra

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