Ein magischer Moment

P1080410Kaum eine Band vermag es so mitreißend Punkrock und Psychobilly miteinander zu kombinieren wie die mittlerweile in Montreal ansässigen Kanadier The Creepshow, die dafür auch schon auf dem Leipziger Wave Gotik Treffen gefeiert wurden. Einige Besetzungswechsel hat die Band verkraften müssen, vor allem beim Gesang. Als die Original-Sängerin Jennifer Blackwood nach dem ersten Album schwanger wurde, ist 2007 ihre Schwester Sarah eingesprungen. Mit ihr erschienen zwei weitere Alben, bis sie 2012 mit ihrer zweitenen Band Walk Off The Earth weltbekannt wurde und die Band kurz vor einer bereits geplanten Tour verließ. Die neue Sängerin Kenda Legaspi wurde damals quasi ins kalte Wasser geschmissen und mußte lernen, sich auch gegen Anfeindungen mancher Fans durchzusetzen. Sechs Jahre, zwei Alben und zahllose Konzerte später ist das kein Thema mehr. Die weiteren Bandmitglieder sind Bassist Sean McNab aka Sickboy, Keyboarder Kristian Rowles aka Reverend McGinty, Gitarrist Chuck Coles und Sandro Sanchioni an den Drums.
Als Vorband sind Gallows Bound aus Winchester (Virginia) gebucht, und beim YouTube-Check vorab befürchte ich Schlimmes, eine Art Hillbilly-Country mit Latzhosen und Banjo. Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend hassen, also geben wir der Band erst mal eine Chance und hören uns das an, bevor wir vorschnell urteilen. Schließlich haben sich hier tatsächlich sechs Jugendfreunde zusammengefunden, was mittlerweile selten geworden ist. Die Show findet heute in der Halle statt, diese ist eigentlich ein bisschen zu groß, sodass der hintere Bereich unter dem Catwalk mit einem Tarnnetz abgeteilt ist, das Publikum kann sich vorne sammeln.
P1070936Dennoch füllt sich der Raum nur langsam, und als Gallows Bound pünktlich um acht den Abend eröffnen, ist die verkleinerte Halle noch nicht mal halb voll. Dafür ist auf der Bühne einiges los. Von links nach rechts: Aaron Blow am großen Kontrabass, von The Creepshow ausgeliehen, Gitarristin und Sängerin Jordan Joyes, zweiter Gitarrist und Sänger Jesse Markle, Justin Carver mit Banjo, Forrest Veatch an der Mandoline und im Hintergrund noch Schlagzeuger Rob Shultz. Latzhosen sind zum Glück Fehlanzeige, dafür offenbaren die Bandmitglieder mit Shirts von Ghoul und Downfall of Gaia überraschende Einflüsse, die man so sicher nicht erwartet hätte.
Überraschend ist dann auch der erste Song „Broken glass“. Das ist zwar Bluegrass, aber nach dem Intro deutlich flotter gespielt und klingt gar nicht hinterwäldlerisch. Das setzt sich auch bei „Empty flask/empty heart“ fort, der Punk-Vibe in der Band ist deutlich spürbar. Dies ist quasi das amerikanische Pendant zum Irish Folk Punk. Nach dem von Jordan schön vorgetragenen „The damaged“ bittet Jesse das Publikum: „Can you guys just get three steps closer?“ Damit springt auch der Funke auf’s Publikum über, und der Applaus nach „Appalachian witch“ ist deutlich lauter als vorher. Auch Kenda steht vor der Bühne und macht ein paar Erinnerungsfotos. Es folgt „Shake“, und für „Black widow woman“ wechseln Jesse und Jordan die Positionen am Mikro. Jordan bedankt sich bei The Creepshow und kündigt den nächsten Song mit „We’re going down!“ an, einer Textzeile aus „Del Fuego“. Vor der ruhigen Ballade „New new“, die von Jordan gesungen wird, werden die Mikros wieder zurückgewechselt. Das folgende „Sink in the soil“ rockt live gewaltig. Jesse singt zunächst allein, dann übernimmt aber auch Jordan einzelne Parts. Mittlerweile tanzt der größte Teil des Publikums ausgelassen. Den von Rock ’n‘ Roll beeinflußten Country-Song „All fall down“ singt Jordan allein. Es folgt das schnelle „Larry“, bevor sich Jesse vor „Dogs a howlin'“ bedankt: „Thank you so much guys, this is our last song!“ Aber da ist das Publikum anderer Meinung und fordert lautstark eine Zugabe. Die dreiviertel Stunde ist um, und in der Regel darf die Vorband nicht verlängern, aber das ist heute verdientermaßen anders. „You want one more? … Fuck you!“ Der Fluch gilt zwar der Gitarre, mit der sich Jesse irgendwie verheddert hat, sorgt aber für Situationskomik und entsprechendes Gelächter. Nach der Zugabe nimmt er seinen Fauxpas noch einmal auf: „God damn you! Thank you so much, we love you!“, damit lassen Gallows Bound eine begeisterte Menge zurück. In der nun folgenden Umbaupause füllen sich auch die letzten leeren Reihen, da haben doch einige die Vorband lieber ausgelassen. Tja, das war ein Fehler.

P1080299Gegen Ende der Pause legt Kenda die Setlist des Abends aus und verschenkt einen Ausdruck und ein Plektron an einen weiblichen Nachwuchsfan, der mit den Eltern da ist. Eine sympathische Aktion, und die Freude bei der Kleinen ist dementsprechend riesig. Um 20:12 Uhr verdunkelt sich die Halle und als Intro erklingt ein Countrysong, der eine Brücke schlägt zu Gallows Bound. The Creepshow starten fulminant mit „Death at my door“, dem ersten Song des gleichnamigen neuen Albums, gefolgt von „Demon lover“. Alle legen sich mächtig ins Zeug, vor allem der Reverend bringt sein Keyboard ins Wanken und intoniert inbrünstig den „Oh oh oh“-Backgroundgesang. Chuck nutzt die gesamte Fläche der Bühne, und Kenda zieht alle Blicke auf sich, während Sickboy am Kontrabass den Ruhepol bildet. Lediglich Sandro geht optisch hinten an den Drums etwas im Nebel unter, dafür setzt sein präzises Drumming Akzente. Spätestens bei „Run for your life“ ist jeder in Bewegung und singt den Refrain mit. Das ist der ideale Zeitpunkt für McGinty, um von seinem Keyboard aus in perfektem Deutsch einmal nachzufragen: „Meine Damen und Herren, wie geht es Ihnen? Haben Sie Spaß?“
Nach dem nun folgenden „Keep dreaming“ gibt es mit „Zombies ate her brain“ und „Grave diggers“ einen Ausflug zum ersten Album Sell your soul. Kenda steigt währenddessen sogar von der Bühne, um aus dem Publikum heraus zu singen. Dabei begrüßt sie auch herzlich ein im Rollstuhl sitzendes Mädel, die sich wahnsinnig freut. Das ist wirklich eine nette Geste. Sickboy banciert den Bass über Kopf, und Sandro spielt ein kleines Drumsolo. Beim etwas ruhigeren „Devil’s son“ singt das Publikum den Refrain mit, anschließend bedankt sich Kenda bei Gallows Bound. Dann meint sie: „I leave that one for the boys!“ schnappt sich die Kleine in dP1080269er ersten Reihe und geht mit ihr bei „Hellbound“ im Publikum tanzen. Mit „Sticks and stones“ und „A.O.T.B.H.“ folgen zwei weitere neue Songs, die sehr gut aufgenommen werden. Bei „See you in hell“ reckt Kenda eine Faust empor und intoniert einen „Hey! Hey! Hey!“-Sprechchor, in den die meisten begeistert fäusteschüttelnd einfallen. Die Stimmung ist heute wirklich gut. Nach „Shake“, bei dem Kenda mit dem Merchandiser im Publikum Rock ’n‘ Roll tanzt, gesteht Bassist Sickboy, dass er Pfeffi liebt. Dann beginnt „Born to lose“, das wieder alle mitsingen, ebenso „They all fall down“, für das Kenda die Gitarre weglegt, und nach „Psycho ball and chain“ meint sie: „You were so fucking great! Thank you! This will be the last song!“, und mit „Rue Morgue radio“ endet das reguläre Konzert.

Die Band verabschiedet sich unter lautem Jubel, Kenda steht dabei auf dem Kontrabass und verteilt Kusshändchen ins Publikum, bevor alle im Backstagebereich verschwinden. Aber natürlich nicht lange, denn ohne Zugabe geht es nicht. Mit „Do you want another song?“ – „Yeah!“ peitscht Kenda mitten in der Menge selbige dreimal auf und veräppelt dann das Publikum: „Just one? We could have played two or three …“ Los geh’s mit „Creatures of the night“, gefolgt von „Buried alive“. Bei der dritten Zugabe „Tomorrow never came“ springt Kenda noch einmal von der Bühne und startet eine Pogoaktion, die von heftig gespielten Drums angefeuert wird, sodass sich hierbei alle auspowern. Nun verlassen The Creepshow zu lautstarkem Applaus endgültig die Bühne, und Gitarrist Chuck verschenkt noch ein übrig gebliebenes Bühnenbier.
P1080180Das Licht ist längst an, doch plötzlich steht McGinty wieder da: „Meine Damen und Herren, ich denke wir haben noch ein Lied übrig.“ Für die allerletzte Zugabe schnappt sich Kenda eine Akustikgitarre und begibt sich zusammen mit McGinty und dem Merchandiser noch einmal mitten ins Publikum, das einen Kreis um die drei bildet. Sie beginnt nur von der Gitarre begleitet mit der Ballade „My soul to keep“ vom neuen Album. Auf YouTube findet man in den Infos zum Video Links zur Suicide Prevention in Kanada und den USA, es muss also einen sehr ernsten Hintergrund haben. Die sonst auf der Bühne so tough erscheinende Kenda singt plötzlich ganz zart und zerbrechlich „If I should die before I wake… I pray the Lord my soul to take.“ Dies sind Zeilen, die auf ein altes Kindergebet anfang des 18. Jahrhunderts zurückgehen, und an wen auch immer sie dabei denkt, die Erinnerung kommt hoch. Sie beginnt zu weinen und macht trotzdem mit tränenerstickter Stimme weiter, kämpft sich durch den Song. Sie steigert sich emotional so sehr rein, bis es nicht mehr geht, und wird dann von McGinty und dem Merchandiser gestützt, die dann auch den Gesang übernehmen. Die Leute nehmen sich spontan im Kreis in den Arm und alle singen für Kenda den Song zu Ende, die völlig überwältigt ist von ihren Gefühlen und der Liebe, die sie durch das Publikum erfährt. Das ist ein wahrhaft magischer Moment, wie man ihn nur selten erlebt, und den wohl keiner der Anwesenden so schnell vergessen wird.
Kenda verschwindet völlig aufgelöst hinter der Bühne und braucht wohl erst mal einen wohlverdienten Schnaps, verabschiedet sich dann aber doch noch kurz vom jubelnden Publikum, nachdem sie sich wieder gefangen hat. Kurze Zeit später lässt sie es sich auch nicht nehmen, am Merchandise auszuhelfen, gibt auf Wunsch Autogramme und macht das eine oder andere Selfie mit Fans.

Fazit: Gallows Bound sind sehr eigenwillig, man muss sich auf sie einlassen. Aber dann hat es die Mischung aus Bluegrass, Country, Punk und dank Kontrabass auch Psychobilly wirklich in sich und zündet live richtig gut. Eine Band, die man sich merken sollte.
The Creepshow sind live nach wir vor eine sichere Bank und haben das gerade heute wieder bewiesen. Der enge Publikumskontakt zeichnet die Band aus und hat für ganz besonders intensive Momente gesorgt.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:  + :blume: to Kenda for creating this magic moment

Setlist The Creepshow:
Death at my door
Demon lover
Run for your life
Keep dreaming
Sell your soul
Zombies ate her brain
Grave diggers
Devil’s son
Hellbound
Sticks & stones
A.O.T.B.H.
See you in hell
Shake
Born to lose
They all fall down
Psycho ball and chain
Rue Morgue radio

Creatures of the night
Buried alive
Tomorrow never came

My soul to keep

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