„Genießt den Abend trotz aller Umstände und die Freiheit!“

Endlich gastieren Lebanon Hanover mal wieder in München, und nicht nur das: Es ist der erste Konzertabend überhaupt nach langer Corona-Durststrecke, der bis auf die 2G+-Regelung ohne irgendwelche Einschränkungen stattfinden kann. Im Vorprogramm treten die Münchner Lokalmatadoren Rue Oberkampf auf und die Niederländer Bragolin. Auf den Shows von Rue Oberkampf, die ich bislang gesehen hatte, haben sie mich persönlich ehrlich gesagt noch nicht richtig überzeugt. Da freue ich mich schon mehr auf Bragolin, deren Name übrigens auf den italienischen Maler Giovanni Bragolin verweist, der vor allem für die Bilder weinender Jungen bekannt ist.
Nach und nach füllt sich das Ampere, und viele begrüßen lange nicht gesehene Freunde oder sichten schon mal den Merchandise-Stand von Young & Cold Records, während die Spannung steigt, was mittlerweile ein fremd gewordenes Gefühl ist. Aber allzulang kann man das gar nicht genießen, weil der Abend pünktlich beginnt.

DSC_8749Nur zu zweit sind die Niederländer Bragolin, deren Sänger und Gitarrist Edwin van der Velde das Publikum mit „Guten Abend“ begrüßt, während Edwin Daatselaar seinen Platz am Korg-Synthesizer einnimmt. Mit „Take us down“ beginnt der Auftritt sehr ruhig und wavig, was die Menge mit Applaus honoriert. Nun setzt mit „The grotesque dance“ ein stärkerer Beat ein, zu dem Edwin zunächst ohne Gitarre tanzt, bevor er sie dann doch ergreift. Bevor es mit „No one ever speaks in this house“ weitergeht, stellt er kurz seine Fußpedalen neu ein. Ich sauge den Moment in mir auf und genieße das Bad in der Menge. Wie sehr habe ich solche Momente vermisst, ich könnte fast heulen. „The next song is ‚The end dwells in us all'“, doch daran will ich heute nicht denken und tanze lieber, ebenso wie die Menschen um mich herum. Diese spezielle Mischung aus Wave und Post Punk ist einfach perfekt. Daatselaar, der bislang eher gotisch ernst und mit klischeegerechtem todtraurigem Blick am Korg agiert hat, hat sich mittlerweile auch eingegroovt und singt und tanzt bei „I saw nothing good so I left“ mit. Das nimmt Edwin nun zum Anlass, ihn dem Publikum vorzustellen: „My new bandmate Edwin Daatselaar!“ (mit dem er auch zusammen bei Zwarte Poezie spielt, zuvor war Maria Karssenberg dabei), das anerkennend jubelt. Der monotone Gesang unterstützt mit seiner Wirkung das Programming in „Charcoal teeth and lies“, und nach „I go with you“ bedankt sich Edwin noch einmal: „Thank you for having us here tonight!“ Mit dem großen Hit „Into those woods“, der auf Spotify kürzlich die Millionengrenze geknackt hat, und zu dem live ein härterer Beat einsetzt, entlassen die zwei das dankbare Publikum in den weiteren Abend, jedoch nicht ohne sich zu verabschieden, und auch Daatselaar lächelt nun und winkt kurz. Es gab von Bragolin zwar keinen nennenswerte Bühnenshow, aber das braucht es auch nicht immer. Manchmal ist es eben mehr, einfach die Musik wirken zu lassen.

DSC_8911Nach der sehr flotten Umbaupause stehen die beiden Elektroniker Damien De-Vir und Oliver Maier von Rue Oberkampf auch schon an ihren Plätzen und lassen „Rise“ als Intro hämmern, das durch reichlich Stroboskop-Einsatz unterstützt wird. Kein Wunder, dass beide eine Sonnenbrille tragen, ebenso wie Julia de Jouy, die nun auch für ihren Gesangspart die Bühne betritt. Mit ihrer silbernen Kapuzenjacke wirkt sie distanziert und unnahbar. Ohne Pause geht es in „Negative space“ über. Anschließend begrüßt Julia das Publikum: „Genießt den Abend trotz aller Umstände und die Freiheit!“ In der Tat, eine schmerzhafte Erinnerung daran, wie schnell in diesen Tagen alles vorbei sein kann. Doch nicht heute Abend. Mit „Kalt“ geht es weiter, bei dem Julia eine Cowbell einsetzt. Außerdem bellt Damien seinen Part regelrecht ins Mikro, wovon ihn auch die Kippe zwischen den Fingern nicht abhält. Ein massives Stroboskop-Gewitter begleitet den Song, und da ich die Sonnenbrille vergessen habe, ziehe ich meine Schirmmütze tief in die Stirn, um nicht zu erblinden. In „Glycine“ wummert der Bass derart heftig und technoid, dass es dafür sogar Zwischenjubel gibt. Erinnerungen an Dive werden wach. Zu erhobenen Händen zucken die Leiber, und zum Dank prostet Oliver uns mit seinem Bier zu. „Somebody else“ agiert nun wieder etwas ruhiger und waviger, und die Cowbell hat einen weiteren Auftritt. „Das war von unserem neuen Album ‚Liebe'“, erklärt Julia. „Dazu gibt es auch ein cooles Shirt“, und sie deutet auf die Konzertbesucherin in der ersten Reihe, die es bereits trägt. Danach folgt mit „Blanc poney“ noch ein Song vom neuen Album, das richtig schön verträumt wirkt und langsam ausklingt, bevor sich „Hope and fear“ mit seinem Ohrwurm-Refrain anschließt. Zum Abschied wird „Es versucht“ mit einem harten EBM-Beat unterlegt. Zusammen mit dem Sprechgesang fühle ich mich auf coole Weise an die Einstürzenden Neubauten erinnert. Die nun folgende Verabschiedung geht akustisch im aufbrandenden Applaus und Jubel unter. Ich weiß aus dem Freundeskreis, dass der Auftritt nicht allen gefallen hat, aber mich hat der harte und kompromisslose Sound heute richtig abgeholt, obwohl ich kein Freund von hartem Techno bin.

DSC_9084Obwohl das Ampere nun wirklich nicht groß und man immer irgendwie nah der Bühne ist, kommt es in der Umbaupause zu einigem rücksichtslosen Geschiebe im Publikum. Denn was macht eigentlich die stets kreischende erste Reihe auf einem Die-Ärzte-Konzert, wenn deren Shows nicht stattfinden? Sich eine neue Band suchen, und statt Bela B. wird nun William Maybelline gnadenlos angeschmachtet. Schon beim Betreten der Bühne löst er einige orgiastische Schreie aus, aber versuchen wir uns auf die Show und die Musik zu konzentrieren. Doch obwohl Larissa Iceglass (eigentlich Georgiou) und er die ersten Takte von „Golden child“ erklingen lassen, ist das gar nicht so einfach, denn William hat ein technisches Problem, das sich nicht einfach lösen lässt und den Bühnentechniker auf den Plan ruft. Die beiden verschwinden derweil im Backstage und wagen ein paar Minuten später einen neuen Anlauf mit „Golden child“, dessen extrem düsterer Wave-Sound zum einen an The Cure erinnert, zum anderen eine Brücke zu Bragolin schlägt. Oder auch nicht, denn der Gesang von William bleibt aus. Der Techniker rückt noch einmal an und bringt noch einen Kompagnon mit. Zu dritt versuchen sie das Problem zu analysieren, während Larissa einfach weiter die Saiten zupft. Schließlich werden die Fußpedalen komplett neu verkabelt, und William testet das Mikro mit einrm lauten „Hey!“, was einigen Jubel auslöst. „Wir spielen den Song jetzt nicht zum dritten Mal“, meint er leicht genervt. Stattdessen wird das nicht minder schöne „Alien“ gespielt, nur Williams tiefe Grabesstimme ist anfangs etwas übersteuert. Larissa trägt ihren Part ruhig vor, und wir lassen uns in den Sound fallen und werden nun doch noch vom „Golden child“ entführt. Und auch in „Die world II“ ist die Atmosphäre sagenhaft gotisch, wie ich es lange nicht mehr erlebt habe (naja, Bragolin lassen wir jetzt mal außen vor), wozu Williams Bassspiel wesentlich beiträgt. In „No one holds hands“ wird der Beat mehr betont, was eine Überleitung zu „Favorite black cat“ schafft, das nun ohne Gitarre von Larissa vorgetragen wird. Stimmlich klingt es nicht ganz sauber, wovon wir uns aber nicht stören lassen, und für den Beifall bedankt sie sich mit einem schlichten „Dankeschön“.

Nun werden die „Northern lights“ entzündet, bei dem Larissa eine besondere Kälte ausstrahlt und zum Teil nur mit der rechten Hand die Gitarre spielt, während die linke das Mikro berührt. Sehr ausdrucksstark. Derweil hat William den Bass weggelegt und kurz den Synthesizer eingestellt. Das maschinelle „Stahlwerk“ ertönt, und William zuckt im Rhythmus tanzend über die Bühne. Der Techniker muss zwischendurch dieses Mal bei Larissa etwas neu verkabeln, doch das fällt zum Glück nicht groß auf. Im Anschluss lässt sie den „Albatross“ aufsteigen, während William sich zu Glam-Metal-Posen hinreißen lässt. Sehr zur Freude der weiblichen Anhängerschaft spielt er seinen Bass mit senkrecht aufsteigenden Hals, legt ihn für „Digital ocean“ aber wieder beiseite, das er sehr expressiv vorträgt, was mich an „The mercy seat“ von Nick Cave erinnert. Die Zeile „I choke in my suit of latex“ brüllt er schon fast und fegt dabei wie ein Derwisch über die Bühne. Nun ertönt das Glockenspiel von „I have a crack“, das von Larissa am Synthie eingespielt wird, die damit den ruhigen Gegenpol zu William bildet, der nicht nur die Leute animiert, sondern auch zum technoiden Sound voll abgeht und sogar mit Headbanging beginnt. Bereits die ersten Töne des Überhits „Gallowdance“ lösen begeisterte Schreie aus, denn natürlich haben alle auf die Suicide-Hymne gewartet. Zwischendurch steht Larissa am Synthie und springt schnell zurück ans Mikro für den zweiten deutschsprachigen Teil. Schließlich steht der Baum schon da. Doch hier ist erst einmal Schluss, denn im aufbrandenden Jubel ziehen sich die beiden zurück.

Aber ohne Zugabe kommt hier hier heute niemand lebend raus, und so lässt William die Computerspiel-Melodie von „Kunst“ am Synthie erklingen, während Larissa am Mikro steht. Nun folgt das hypnotische „Totally tot“, allerdings nicht, wie man es vom Album her kennt. Der Bass rumpelt heftig, und William startet den Gesang mit einem Urschrei und tanzt wild. Das löst auf der einen Seite Begeisterung aus, stößt aber auch auf Ablehnung. Zitat eines Freundes: „Was soll diese Combichrist-EBM-Scheiße? Der geilste Song von denen, völlig verhunzt!“ William hält das Mikro ins Publikum wie ein Rockstar, das „tooot“ hineinbrüllt. In der Tat etwas gewöhnungsbedürftig, aber beeindruckend ist definitiv, wie Larissa vor dem Synthie kniet und gleichzeitig mit der linken Hand die Tasten und mit der rechten die Gitarre spielt. Am Ende sinkt sie wie tot zu Boden, und damit endet die Show, und das Saallicht und die Rausschmeißermusik gehen an. Danach muss ich mich erst ein wenig sammeln und noch lange nicht gesehene Bekannte begrüßen. Die ersten Leute strömen bereits nach draußen.

Doch dann kehren Lebanon Hanover nach mehreren Minuten auf die Bühne zurück, scheinbar, um das Equipment abzubauen. Die Leute flippen aus und jubeln, und so spielen sie als zweite Zugabe „The last thing“ und „Come Kali come“, bei dem William wild am Moschen ist und die Lyrics in bester Black-Metal-Manier ins Mikro krächzt. Headbanging auch im Publikum – eine ganz neue Erfahrung, mit der der heutige Konzertabend nun aber wirklich endgültig endet, bis auf die obligatorische Schlacht am Merchandise natürlich. Larissas Verabschiedung geht im Lärm unter, William fügt noch hinzu: „Vielen Dank! Good night, gute Nacht!“

Fazit: Das hat so gut getan! Ein richtiger Konzertabend ohne Einschränkungen, auf dem man die völlig leergelutschten Akkus endlich mal wieder ein Stück weit aufladen konnte. Lebanon Hanover haben mich vor allem mit der sehr düsteren ersten Hälfte abgeholt, und Rue Oberkampf haben mich heute positiv überrascht. Mein persönlicher Gewinner ist aber Bragolin, deren tiefgotischer Wave-Sound mein schwarzes Herz berührt.

(Vollste Zustimmung! Bragolin haben mich völlig verzaubert, auf Rue Oberkampf hatte ich mich sowieso riesig gefreut, und das technoide Hämmern bei glasklarem Sound und betörendem Gesang war für mich perfekt. Genauso perfekt war auch die neue, etwas düsterere und härtere Seite an Lebanon Hanover, die ungewohnt und für mich sehr mitreißend war. Unbezahlbar war aber vor allem der gemeinsame Abend mit so vielen lieben Menschen. torshammare)

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist Bragolin:
Take us down
The grotesque dance
No one ever speaks in this house
The end dwells in us all
I saw nothing good so I left
Charcoal teeth and lies
I go with you
Into those woods

Setlist Rue Oberkampf:
Rise
Negative space
Kalt
Glycine
Somebody else
Blanc poney
Hope and fear
Es versucht

Setlist Lebanon Hanover:
Golden child
Golden child
Alien
Golden child
Die world II
No one holds hands
Favorite black cat
Northern lights
Stahlwerk
Albatross
Digital ocean
I have a crack
Gallowdance

Kunst
Totally tot

The last thing
Come Kali come

Bilder: torshammare

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3 Kommentare
  1. Imaginary Owl
    Imaginary Owl sagte:

    Das bei Bragolin war nicht Adam Tristar auf der Bühne, sondern der gleiche Mitmusiker, der auch bei Zwarte Poezie dabei ist (und auch Edwin heißt). :D
    just saying.

    • Mrs.Hyde
      Mrs.Hyde sagte:

      Vielen Dank für den Hinweis, da ist mir tatsächlich ein Fehler unterlaufen, und ich habe es im Text korrigiert. Durch die Zusammenarbeit mit Adam Tristar auf dem zweiten Album ist die Verwechlsung geschehen. Mrs.Hyde

  2. Edwin van der Velde
    Edwin van der Velde sagte:

    Hi,

    This is Edwin van der Velde from Bragolin. Thank you very much for the very kind words about our concert. Really nice to hear it.

    But there is something completely wrong about this review. My bandmember on stage was not Adam Tristar. I also didn’t introduce him as Adam Tristar. My bandmember is Edwin Daatselaar, with whom I also play in our other band Zwarte Poëzie. Edwin was announced as our new bandmember last year already on our social media channels. Also on stage I annoucned him as ‚Edwin‘ with whom I play in our other band.

    I hope you can fix this :).

    Regards,
    Edwin

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