Live too fast, still not die – before I get old
Mit reichlich pandemiebedingter Verspätung findet nun doch noch endlich das Konzert von New Model Army in München statt. Immerhin gab es ja letztes Jahr das bestuhlte und trotzdem tolle akustische Biergarten-Konzert von Sänger Justin Sullivan (Link zum Bericht) mit seinem Solo-Album Surrounded, bei dem es auch einige NMA-Songs zu hören gab. Heute hingegen gibt es wieder die volle Rock-Show. Als Vorband sind Donkeyhonk Company angekündigt, von denen ich noch nie im Leben etwas gehört habe. Im Lauf der Jahre habe ich aber so einige seltsame Vorbands gesehen, und da dies eher die Regel ist, sollte man sich davon nicht verunsichern lassen.
Dennoch ist es eine halbe Stunde vor Beginn noch eher leer, und die Leute haben keine große Eile, das Werk zu füllen. Als Donkeyhonk Company recht pünktlich gegen 20 Uhr die Bühne betreten, ist es etwa halbvoll, und die Leute verteilen sich gleichmäßig über die gesamte Fläche. Gitarre, ein großer Kontrabass und ein Schlagzeug haben ihren Auftritt, und mit „Oval“ gibt es zu Beginn erst ruhigeren, dann rockigeren Bluesrock auf die Ohren, was auch direkt einigen Applaus hervorruft. „Griaß Gott beinand!“, werden wir von Sänger und Gitarrist Lametto begrüßt. Das nächste ist ein unbekanntes Stück (ein dickes Bühnenkabel liegt quer über der ausliegenden Setlist), das mit einem Off-Beat-Rhythmus daherkommt, wie man ihn typischerweise vom Ska her kennt. Im Blues-Kontext ist das ungewöhnlich, bringt die Leute aber zum Mitwippen. Auch der folgende Titel fällt leider dem Kabel zum Opfer. Es folgt „ein kleines Lied über Knochen, Gebein“. Musikalisch geht es damit Richtung Southern Rock, ohne mich da wirklich auszukennen. Der nächste Song ist so „Hart“ wie trockenes Brot, wie uns Lametto erklärt. Dafür wechselt er beim Gesang vom Englischen ins Bayerische, und seine ohnehin eher raue Stimme klingt nun wie mit Reißnägeln gegurgelt und offenbart so einigen coolen Punk-Einfluss. Dafür gibt es auch reichlich Applaus und die ersten Jubelrufe, denn so langsam wird das Publikum zahlreicher. „Die nächste Nummer heißt ‚Friss'“ und fällt ruhig und beschwingt aus, und Pedl tanzt sogar dabei mit seinem Kontrabass. Das Publikum johlt, und er bedankt sich freudig. Aber weil er doch eine heiße Sohle aufs Parkett gelegt hat, muss er erst einmal die Schuhe ausziehen und spielt fortan barfuß.
Wenn ein Song „Banjo“ heißt, darf selbiges natürlich nicht fehlen. Entsprechend Hillbilly-mäßig klingt es nun, und Lamettos Gesang erinnert mich an „Porch“ von Pearl Jam. Die Kombination ist ungewöhnlich, aber auch irgendwie cool. Die zweite Hälfte scheint von The Dead South inspiriert zu sein und geht mit einem Schrei zu Ende. „This one comes straight from hell!“, heißt es nun. Bei „Donkey“ animiert der Drumbeat von Wig die Leute zum Mitklatschen. Anschließend greift Lametto wieder zur Gitarre und meint: „Verrückte Zeit grad irgendwie.“ Der flotte R’n’R-beinflusste Bluesrock von „Limb“ löst richtiggehend Jubel in der Menge aus, Bassist Pedl bedankt sich mit: „Vielen Dank! Ihr seid ein großes und artiges Publikum!“ In „Starring down“ legt Lametto stimmlich ein Kreide-an-der-Tafel-Kreischen hin, wie ich es sonst nur gelegentlich von Blixa Bargeld kenne. Vor dem nächsten Stück „Way“ stellt Lametto die Band vor mit „Evil B.“ am Bass und „Mr. Drumbeast„. „We are 100% independent, so we only have a low budget smoke machine.“ Mit einer E-Zigarette nebelt Pedl das Schlagzeug von Wig ein, was für ordentlich Gelächter im Publikum sorgt. „Als Nächstes kommt ein Maultier!“, und das heißt „Mule“. Das Backstage spendiert sogar echten Bühnennebel, und das Finale wird richtig gerockt. Lametto geht mit seiner Gitarre auf die Knie, und Pedl liegt mit mit dem Baß am Boden. „Hard Rock Halleluja! Es war uns eine Ehre!“ Zum Dank werfen die drei noch T-Shirts in die Menge. Die 2010 gegründete Band bezeichnet ihren Sound selbst als Stumpin‘ Outlaw Blues, und dem kann ich mich nur anschließen. Sehr cooler Gig!
In der Umbaupause rottet sich das Publikum in freudiger Erwartung vor der Bühne richtig eng zusammen. Überhaupt scheint es vom Befüllungsgrad her nahezu ausverkauft zu sein – eher ungewöhnlich momentan und sehr erfreulich. Ohne große Umschweife betreten New Model Army schließlich eine halbe Stunde später die Bühne und steigen direkt mit „Bittersweet“ ein, der Opener-Kracher vom allerersten Album Vengeance, gefolgt vom ebenso selten gespielten „Lust for power“, und im Pit geht es richtig ab. Zwei Jahre Pandemie, aufgestauter Frust und Wut, all das scheinen einige Besucher nun rauslassen zu wollen, und ich habe fast den Eindruck, manche wollen es echt wissen. Doch danach ist der erste Dampf abgelassen, und die Lage normalisiert sich, zumal mit dem neuen „Never arriving“ ein ruhigeres Stück eingeschoben wird. Justin meint dazu: „Tonight we just go round an round like a bad shopping machine through 42 years of music.“ Aber sogleich folgt „Here comes the war“, das trotz seines Alters (von 1993) momentan erschreckend aktuell ist. Die Stimmung kocht im Pogo und im Werk generell, und unzählige Arme werden beim Refrain in die Höhe gerissen. Sogar ein T-Shirt fliegt auf die Bühne, das Justin geschickt mit dem Gitarrenhals auffängt und dann beiseite legt. Mit „Believe it“ aus dem gleichen Jahr wird es wieder etwas besinnlicher. „Strange times, ha? We spent the whole summer travelling through Europe and wherever we went, it felt like the first summer after and the last summer before, if you know what I mean.“ Nun kommentiert Justin ironisch die politische Lage der letzten Zeit bezüglich „Make America/Russia/fuckin‘ Britain great again. And that’s the only thing we’re gonna say about FUCKING! Brexit“, was mit reichlich Jubel kommentiert wird. Er lässt sich außerdem über die „funny soap opera on Brexit-Island“ aus, und sorgt so für ordentlich Gelächter im Publikum. „So these two songs were written in the 1980s on the peak of Thatcher era, which were written about the same thing. We play you these two.“ Der erste, „1984“, ist ein Song, der mich innerlich tief berührt, seit ich ihn damals das erste Mal gehört habe. Und trotz der vielen Konzerte, die ich von NMA im Leben schon gesehen habe, habe ich ihn live das erste Mal dieses Jahr auf der Castle Party in Bolków (Polen – allgemeiner Bericht) gehört, bei einem leider denkbar schlechten Sound. Heute hingegen stimmt endlich alles, und so kann ich ein paar Tränen nicht zurückhalten.“The charge“ holt mich wieder zurück, denn das „on, on, on“ treibt die Menge wieder an.
Über das mystische „Devil’s bargain“ kommen wir zu „Maps“, „a song from the sea“ extra für uns Binnenländler*innen. Die Bühne ist in Tiefsee-dunkelblaues Licht gehüllt, und die Art und Weise, wie das Schlagzeug von Michael Dean angeleuchtet wird, erinnert dabei originellerweise an eine riesige Krabbe, bei der die hoch aufragenden Drum-Mikrophone die Scheren bilden. Tatsächlich eine „strange sea creature“. Nun meint Justin: „This is a kind of lockdown song or a song about who you are.“ Das etwas poppige „Where I am“ macht live aber Spaß und sorgt für gute Laune. Ein Schubs von links, und ich kann mich auf dem rutschigen Boden nicht halten und setze mich wie manch anderer schon zuvor auf den Hosenboden. Doch noch bevor ich aufstehen kann, stellen mich zwei Jungs wieder in die Senkrechte, wir passen schließlich auch im Getümmel alle aufeinander auf. „We’re not gonna say too much about what’s happening in the world, we just play songs. But this one can tell of it, definitely.“ Und weiter geht’s im Pogo, denn es folgt „Angry planet“. Beim härtesten aller NMA-Songs geht es naturgemäß richtig zur Sache. Dennoch fällt mir auf, dass im Vergleich zu früher etwas Druck fehlt. Hier macht sich das Ausscheiden von Marshall Gill doch bemerkbar, auch wenn Dean White natürlich an die Gitarre aufgerückt ist. Für „Born feral“ wechselt Ceri Monger vom Bass zum zweiten Drum-Kit, um dem Ganzen mehr Druck zu verleihen. Seinen Bass übernimmt dafür einer der Roadies, der sich aber im dunklen Hintergrund hält. Ganz ruhig spricht Justin im Halbdunkel die ersten Lines von „Before I get old“, sodass auch das andächtige und gebannte Publikum stimmlich gut zu hören ist. Ein echter Gänsehaut-Moment. Das Stück wird mit reichlich Drone-Klängen inszeniert, und Dean White sorgt an der Gitarre für eine sehr psychedelische Note. Zwischendrin röhrt Justins Stimme ungewöhlich heftig und rau, er klingt dabei nah dran am Crust Punk. Das Stück geht schließlich nahtlos ins nächste über, und Dean hat die komplizierte Geigensequenz, mit der es auf dem Album eigentlich beginnt, mit Hingabe grandios auf der Gitarre einstudiert. Natürlich klingt es irgendwie anders und ungewohnt, doch spätestens als die Drums einsetzen, hat es auch der Letzte kapiert: Die „Vagabonds“ sind los. Justin schreit: „Eins, zwei – eins, zwei, drei, vier!“, und das ist der Startschuss, um wild in der Menge herumzuhüpfen. Selbst auf den Treppenstufen wird bis nach hinten getanzt. „We are old, we are young, we are in this together…“ Obwohl es mehrheitlich eigentlich eher „We are old, we are old“ heißen müsste, war dies doch bereits der Soundtrack unserer Jugend. Justin schnauft am Bühnenrand und grinst dabei wie ein Kind im Süßwarenladen. Es ist schön zu beobachten, wie er sich auch nach über 40 Bandjahren ehrlich über die ausflippenden Reaktionen in der Menge freut. Er lebt für diese Energie, die von der Band aufgenommen und gebündelt wird, um sie wieder ins Publikum zurückzuspielen. Und wie könnte man sie besser erneut entfesseln als bei „The hunt“, das natürlich wahre Begeisterungsstürme auslöst. Die Band spielt mit dem Tempo und damit auch mit dem Publikum. Vor dem Refrain wird das Tempo gedrosselt, um die Anspannung zu steigern, und dann platzt: „No police, no summons, no courts of law. No! No! No! No!“ nur so heraus. Alle recken die Fäuste in die Höhe. Danach ist eine Ruhepause mehr als willkommen und wird mit „Fate“ gewährt. Niemand wisse in diesen Zeiten, was in zwei Jahren sein wird, was interessant und beängstigend zugleich sei. Aber Justin hofft, dass wir uns in zwei Jahren alle hier wiedersehen. Mit „Ballad of Bodmin Pill“ folgt ein weiteres Highlight. Der Song löst bei mir durchgängig Gänsehaut aus, denn zum einen ist Justins Ausdruck in dem ruhigen Moment wahnsinnig intensiv, zum anderen sind damit für mich besondere Erinnerungen verbunden. 1992 habe ich mein erstes NMA-T-Shirt selbst bemalt, und auf dem Rücken steht „I am lost, I’m a freak“. Das hatte ich seitdem bei jeder Show an und natürlich auch heute.
Die Band geht nacheinander von der Bühne ab, aber eigentlich ist schon vorher klar, das war es noch nicht. Und richtig, als sie zurück sind, meint Justin: „When you’ve been waiting two years for a show – this deserves more.“ Die erste Zugabe ist ein wütendes „No rest for the wicked“, bevor Justin noch einmal innehält und „51st state“ ankündigt: „It’s an old song. It’s interesting how the context changes over the years. So maybe you remember this one.“ Natürlich, und alle singen lauthals mit. Das folgende „Green and grey“ verfehlt einfach nie seine Wirkung, egal, wie oft man den Song live schon gehört hat. Es ist jedes Mal wieder bewegend, und ich muss noch mal ein Tränchen wegwischen. Ein letztes Mal wendet Justin sich ans Publikum: „We wish you good luck and we will see you in a couple of years. Take care!“ Mit „I love the world“ findet ein genialer Abend ein würdiges Ende, das von allen frenetisch gefeiert wird. Justin knockt schließlich das Mikro weg und klopft sich auf die Brust, Ceri Monger prostet der Menge zu, Michael Dean wirft seine Drumsticks ins Publikum, und als letztes geht Dean White von der Bühne. Es braucht eine Weile, um das Adrenalin wieder abzubauen, wofür die Schlange an der Garderobe nicht gerade der geeignetste Ort ist. Endlich draußen rekapitulieren wir erst noch mal den Abend, bevor wir schließlich den Heimweg antreten. „Live too fast, still not die – before I get old“ raunt es noch immer in meinem Kopf.
Fazit: Das war ein mega Abend mit einer toll aufspielenden Band. New Model Army bedienen die ganze Bandbreite zwischen Melancholie und totaler Euphorie, zwischen ganz alten, alten und neuen Hits aus 42 Jahren Bandgeschichte. Wie ein Bekannter zu mir sagte: „Die haben so viele tolle Songs.“ Aber auch Donkeyhonk Company haben ihre Sache als Warm-up gut gemacht und das Publikum von sich überzeugt. Dabei ist es schwer, wenn man eine unbekannte Vorband ist. Musikalisch haben sie aber echt was drauf und für gute Stimmung gesorgt.
torshammare: Ich schließe mich vollumfänglich an. Zwar erst mein viertes NMA-Konzert, aber es ist jedes Mal wieder ein Erlebnis, und die Energie, die Band und Fans freisetzen, sorgt immer wieder für Gänsehaut. Der Soundtrack auch meiner Jugend, die neueren Songs stehen den Klassikern aber in nichts nach.
Großer Dank auch an Donkeyhonk Company, die uns exzellent und mit großem musikalischem Können aufgewärmt haben. Gern wieder!
Setlist NMA:
Bittersweet
Lust for power
Never arriving
Here comes the war
Believe it
1984
The charge
Devil’s bargain
Maps
Where I am
Angry planet
Born feral
Before I get old
Vagabonds
The hunt
Fate
Ballad of Bodmin Pill
–
No rest for the wicked
51st state
Green and grey
I love the world
Bilder: torshammare
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