Schwedische Zustände

Samstag früh heißt es Abschied nehmen von Frankfurt und von Kati, mit dem Zug geht es weiter nach Oberhausen. Schon unterwegs enthüllt der Blick aus dem Fenster, dass nicht nur der Schneefall dichter, sondern auch der Wind stärker wird, je weiter ich nach Nordwesten komme. Als ich am Bahnhof Oberhausen aus der S-Bahn steige, muss ich feststellen, dass so ein norwegischer Winter einen offensichtlich nur sehr unzureichend auf das deutsche Frühlingswetter vorbereitet, mich jedenfalls friert es ganz erbärmlich, als ich mich im Schneegestöber auf die Suche nach meinem Hotel mache. Zum Glück ist es nicht sehr weit, dafür ist aber bei meiner Ankunft mein Zimmer noch nicht fertig – das, und ein gewisser innerer Widerstand, das warme Gebäude zu verlassen, führt dazu, dass ich diesmal nicht pünktlich bei Einlassbeginn vor Ort bin.
Eigentlich bin ich schon froh, dass ich es überhaupt schaffe, auf Anhieb die Turbinenhalle zu finden. Drinnen ist es schon ordentlich voll, ohne dass es deshalb irgendwie warm wäre. Der erste Rundgang durch die diversen Räume verschafft einen gewissen Überblick und die Erkenntnis, dass der eine Getränkestand, der nur Bares und nicht die Festivalbons nimmt, wohl gerade das Geschäft des Jahres macht – hier gibt es nämlich dampfend heißen Met zu kaufen.

Copyright: Black Cat Net

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Zu Beginn des Auftritts von Lucifer’s Aid bin ich aber wie geplant rechtzeitig in Halle Zwei, die sich trotz noch etwas lockerer Publikums-Befüllung als nicht ganz so unterkühlt erweist wie der Rest der Anlage. So wird es einem beim Tanzen dann auch schnell wieder schön warm. Gelegenheit dazu bietet der Schwede Carl Nilsson, der mit seinem Industrial/EBM in den letzten Jahren schon auf einigen großen Festivals vertreten war, reichlich. Die Songs fließen ineinander über, Ansagen gibt es gar keine, gerade mal „Unfollow me“ schaffe ich zu identifizieren. Es ist aber eigentlich auch egal, tanzbar sind sie alle.
Die Bühnenshow ist ausgesprochen minimalistisch gehalten: leere Bühne, weißes Licht, ein Backdrop, ein Mann, ein Mikro – und Musik. Denn darum geht es ja schließlich. Diese Konzentration auf das Wesentliche verleiht dem Auftritt ein perfekt zum Sound passendes Ambiente, ich bin beeindruckt.

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Und danach ausgepowert genug, weshalb ich mich erstmal in die Ecke setze, ohne daran zu denken, dass ich gerade den Rest des Gigs von Eisfabrik in der anderen Halle verpasse. Alle Bands kann man aufgrund der Überschneidungen sowieso nicht sehen, wenigstens bin ich hier schon richtig für Xotox. Andreas Davids begrüßt die jetzt schon sehr zahlreich Anwesenden mit einem fröhlichen „20 Jahre Xotox – und ihr seid immer noch hier!“ und legt dann gleich ordentlich los. In gut vierzig Minuten liefert er eine wahre Tour de Force durch Xotox‘ beeindruckende Discographie, aber auch „Slå tillbaka“ und „Schwanengesang“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 2013 dürfen nicht fehlen. Hinter dem Synth hält es ihn dabei nie lange, mit dem Mikro in der Hand springt und rennt er über die Bühne, schreit, singt und hat daran sichtlich genauso viel Spass wie die Fans.
Auch im Publikum geht es richtig ab, vom Classic Goth bis zum Cyber, alles stampft und zuckt im Takt. Dabei bleibt der Umgang jedoch immer höflich und freundlich, man gibt sich den Platz, den man braucht. Am Ende sind alle ein bisschen glücklicher als vorher – genau so muss das.

In Halle Eins spielen derweil schon Chrom, und es herrscht akute Überfüllung. Ich hatte eigentlich vor, mir schon mal einen guten Platz für die folgenden Aesthetic Perfection zu sichern, das scheint aber relativ hoffnungslos. Als ich dann auch noch Nachricht von einer Freundin bekomme, sie warte gerade auf Spark!, plane ich spontan um und wandere über diverse Galerien zurück in Halle Zwei.

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Das stellt sich schnell als die beste Entscheidung des Tages heraus. Ich habe die beiden Schweden, Matthias Ziessow und Christer Hermodsson, schon einmal live gesehen, auf dem Subkult-Festival 2017. Damals fand ich es gut, aber etwas anstrengend. Davon ist diesmal allerdings nichts zu merken – ob es an der Tageszeit liegt oder daran, dass die Kommunikation mit dem Publikum heute nicht auf Schwedisch (das ich nur mit Mühe verstehe) erfolgt, wer weiß, jedenfalls machen die sympathischen Jungs aus Falkenberg mit ihrem melodiösen EBM diesmal wirklich alles nieder.
Spätestens als die Clownsmasken nach den ersten Songs in der Ecke landen und Sänger Christer in einer Mischung aus Englisch und Deutsch seinen geballten Charme auf das Publikum loslässt, gibt es kein Halten mehr. Matthias trommelt sich die Seele aus dem Leib, und Christer muss das Publikum zwischenzeitlich sogar bitten, vielleicht besser etwas weniger wild zu tanzen, ganz so wörtlich wolle man das mit dem „Blood, sweat and tears“ dann lieber doch nicht haben. Gewirkt hat es nur zeitweise, aber Verletzte gab es wohl keine. Weiter geht es, das Tempo bleibt hoch, aber trotzdem sorgen Spark! immer dafür, dass auch die Qualität stimmt. Dafür wird dann auch schon mal zwischen zwei unterschiedlich abgemischten Mikrofonen gewechselt oder ein Teil eines Songtextes in deutscher Übersetzung vorgetragen. Und der Sound passt auch. Nach nur zehn Songs ist dann leider viel zu schnell schon wieder Schluss, aber Spark! spielen ja glücklicherweise dieses Jahr auch auf dem WGT. Ich freu mich drauf!

Setlist Spark!
Alla på en gång
Zombie
Genom stormen
Tankens mirakel
Du & jag
Brinner som vackrast
Dysfunctional
Ett lejon i dig
Maskiner
Stå emot!

In Halle Eins sind jetzt schon Aesthetic Perfection zu Gange. Ich starte einen Versuch, davon noch etwas mitzubekommen, bleibe aber bereits im hinteren Bereich der Halle hängen. Zumindest hier ist die Soundqualität wirklich erbärmlich, es ist teilweise kaum möglich, die Songs zu unterscheiden. Sehen kann ich auch nicht viel, und so gebe ich recht schnell auf und stelle mich stattdessen für einen Becher Wasser an, und gleich wieder, um etwas zu essen zu bekommen. Ein drittes Mal noch, diesmal für warmes „Wikingerblut“ – sehr zu empfehlen, nicht nur zum Aufwärmen der Finger.

Irgendjemand hat danach die Idee, man müsse jetzt dringend schon in Halle Eins, um sich einen halbwegs vernünftigen Platz für Project Pitchfork zu sichern. Und das, obwohl keiner von uns Nachtmahr, die da jetzt erst noch dran sind, besonders mag. Man möge mir also verzeihen, dass ich, trotz physischer Anwesenheit, über den Auftritt nicht viel zu berichten habe. Es gab eine Videoshow, „Mädchen in Uniform“ und „Strenge Liebe“ wurden gespielt, der Rest ist an mir vorübergegangen, weil ich die meiste Zeit vor dem Mischpult auf dem Boden saß (mir taten die Füße weh, und außerdem versperrt man so zumindest ganz sicher niemandem die Sicht). Was ich sehr toll fand: Von den Fans um mich herum scheint dieses “einfach nur Platz wegnehmen” keinen gestört zu haben. Niemand reagiert irgendwie genervt, ich werde rücksichtsvoll umgangen und oft noch freundlich angelächelt. Das war echt nett, vielen Dank!

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Um halb zehn muss ich aber wieder auf die Beine kommen, denn jetzt stehen Project Pitchfork an. Diesmal also aus ganz anderer Perspektive als in Frankfurt – Sicht habe ich zwar einigermaßen, aber eben doch eine riesige Menschenmenge vor mir. Der Vorteil meines Standorts ist, dass die Lichtshow von hier aus, und natürlich auch durch die Größe der Bühne und der LED-Wände, deutlich beeindruckender rüberkommt. Auch der Sound ist, wie meistens wenn man quasi genau vorm Tontechniker steht, vermutlich der beste in der ganzen Halle. Ob es nun daran liegt oder ob die letzten zwei Abende vor Achim Färbers Schlagzeug doch ihre Spuren an meinem Gehör hinterlassen haben, jedenfalls kann ich die – aus dem Augenwinkel und mit halbem Ohr registrierten – Beschwerden des einen oder anderen Fans an den Mischer, der Sound sei ja mal wieder miserabel, überhaupt nicht nachvollziehen.
Die Band – heute in vollständiger Livebesetzung mit drei Schlagzeugen – beginnt den Auftritt wie am Freitag („Akkretion“, „IO“, „Rain“, „Timekiller“, „Human crossing“), allerdings finden sich im aus Zeitgründen gekürzten Set nur noch zwei Songs vom neuen Album. Trotzdem handelt es sich nicht um ein typisches Festival-Set, auf dem die größten Hits nicht fehlen dürfen, was in Anbetracht der generellen Häufigkeit von Project-Pitchfork-Auftritten auf dem E-Tropolis aber auch eher witzlos wäre. Ein paar festivaltypische Eigenheiten lässt man sich dann aber doch nicht nehmen, so gibt es zum Beispiel “Alpha Omega” mit Drumsolo und anschließender namentlicher Vorstellung der Schlagzeuger.
Man könnte fast meinen, dass die anschließenden “Entity” und “Titanes” nicht ganz die Publikumsreaktionen auslösen, die man sich vorgestellt hatte, jedenfalls ändert sich bei “Souls” plötzlich der Sound ganz massiv, der Bass wird aufgedreht, und es dröhnt, bis der Boden vibriert. Danach ist es deutlich lauter. Jetzt käme, wie Peter verkündet, eigentlich der Punkt, an dem die Musiker die Bühne verlassen, um dann wiederzukommen. Das spart man sich heute und macht einfach gleich weiter, aber nicht ohne das Publikum daran zu erinnern dass das ja jetzt dann die Zugabe ist – und was macht man vor der Zugabe? Es funktioniert, plötzlich ist richtig Stimmung, “Beholder”, “Onyx” und “Volcano” werden abgefeiert, wie es sich gehört. Und dann ist der Gig auch schon wieder vorbei.

Setlist Project Pitchfork
Akkretion
IO
Rain
Timekiller
Human crossing
Terra incognita
And the sun was blue
Mine
Endzeit
Alpha Omega
Entity
Titanes
Souls
Beholder
Onyx
Volcano

Copyright: Black Cat Net

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Den krönenden Abschluss des Abends sollen VNV Nation bilden, die Halle füllt sich entsprechend. Wir beschränken uns also darauf, abwechselnd Getränke zu holen und unseren Platz zu verteidigen. VNV beginnen fulminant mit Lichtshow, animieren die Fans zu Sprechchören, und ja, dann kommt auch mal Musik. Leider nicht allzu lange, schon der erste Song wird zweimal unterbrochen, um die Fans zu mehr Bewegung, mehr Jubel, mehr – tja, was eigentlich? aufzufordern. So geht es dann auch weiter, und während die meisten Leute vor mir begeistert stampfen, schreien und springen, macht sich bei mir eine gewisse Ratlosigkeit breit. Fünf Songs halte ich durch, kein einziger davon wird durchgespielt, zumindest bei mir kann sich dadurch auch keinerlei Stimmung einstellen. Und als Ronan Harris dann zum dritten Mal fragt, ob wir denn schon müde seien, muss ich diese Frage leider ehrlicherweise mit “ja” beantworten und mich auf den Weg zurück ins Hotel machen.

Fazit: Ich war zum ersten Mal auf dem E-Tropolis und kann deshalb nur mit anderen Festivals vergleichen, nicht mit den Vorjahren. Insgesamt war es ein sehr positives Erlebnis: Das Line-up war grandios, die Stimmung ausgesprochen freundlich und relaxed, die Auswahl an Essen und Getränken vorbildlich. Und auch an den in der Praxis dann eben doch wichtigen Nebensächlichkeiten, wie Freundlichkeit der Security und des Barpersonals oder dem Zustand der Toiletten etc. gab es nichts auszusetzen.
Dennoch gibt es ein paar Kritikpunkte. Natürlich können die Organisatoren nichts für das Wetter – aber wenn man eine bekanntermaßen chronisch unterkühlte und zugige Location hat, könnte man schon versuchen, wenigstens irgendwo Bereiche mit halbwegs normalen Innentemperaturen zu schaffen. Ein paar Heizlüfter oder Ähnliches im Kaffee- und Cookie-Bereich auf der Galerie hätten ja vermutlich schon geholfen. Auch der Merchandise könnte mit etwas Fantasie und gutem Willen aus dieser Eigenheit noch Kapital schlagen: E-Tropolis Wollpullover vielleicht? Mützen, Schals und Handschuhe? Aber Spaß beiseite: Fleecedecken zum Beispiel wären tatsächlich angebracht gewesen, gerade dort, wo man sich zwischen den Konzerten mal hinsetzen und was essen oder trinken wollte, und hätten sich sicherlich auch als Merch gut verkauft.
Was möglicherweise auch mit der Kälte zu tun hatte, aber nicht nur an dieser lag: Es war überall unglaublich voll. Eine ruhigere Ecke habe ich auf dem ganzen Gelände nicht gefunden. Sicher wurde das verstärkt dadurch, dass niemand freiwillig das Gebäude verlassen wollte, aber das war wohl kaum der einzige Grund. Das Festival war komplett ausverkauft. Dadurch, dass das großartige Line-up in nur einen Tag gepresst wird, 14 Bands innerhalb von elf Stunden Spielzeit auftreten, sind automatisch fast alle Leute die ganze Zeit vor Ort und die Schlangen entsprechend lang.
Zudem sorgt diese Banddichte dafür, dass man im Endeffekt sogar theoretisch kaum mehr als die Hälfte der Bands auch wirklich sehen könnte. Auch das ist bei Festivals zwar normal, aber schöner wäre es, es ließe sich vermeiden – und gerade auf kleineren Festivals schmerzt es doch sehr, sich zwischen Lucifer’s Aid und Eisfabrik, Spark! und Aesthetic Perfection sowie zwischen Project Pitchfork und Rotersand entscheiden zu müssen.
Und zu guter Letzt: das fehlende Pfandsystem für Essensgeschirr und Getränkebecher. Nicht nur sind die daraus resultierenden Mengen an plattgetretenen Plastikbechern auf den Tanzflächen verdammt rutschig, man muss auch einfach ganz klar sagen: Leute, wir haben 2018. Eine so massive Plastikmüllproduktion ist schlicht und ergreifend nicht mehr zeitgemäß.

Deshalb nur :mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

Text: Ankalætha (wie immer: herzlichen Dank!)
Bildmaterial: Black Cat Net (vielen Dank!)

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