Völkerverständigung auf Orientalisch

 

Wie könnte man einen trüben, nassen Sonntagabend besser verbringen als auf der Couch? Richtig, man rafft sich auf und geht auf ein gutes Konzert – die Auswahl fällt an diesem Abend schwer, im Backstage rufen viele gute Bands nach mir, doch ich bleibe hart und gehe ins Feierwerk, denn schließlich kommen die phänomenalen Israelis von Orphaned Land extrem selten als Headliner auf Tour, das darf man nicht verpassen. Noch dazu befinden sie sich auf einer Akustiktour und haben mit dem Stimmgewalt-Chor aus Berlin und den Leipzigern molllust, die ihren Opera Metal ebenfalls akustisch präsentieren werden, ein hochinteressantes Begleitprogramm. Orphaned Land konnten bereits im April im Vorprogramm zu Blind Guardian (Bericht) das Münchner Publikum schon voll und ganz von sich überzeugen, und ich bin sehr gespannt, was sie sich für diesen Abend einfallen lassen.

dsc_8723Zuerst gibt es aber – zumindest für mich – eine kleine Überraschung, als um Punkt halb acht nicht molllust die Bühne entern, sondern die Italiener von Poemisia. Die habe ich gar nicht auf dem Schirm und muss mich auch erst einmal ein wenig in ihre Musik und ihre Bühnenshow eingewöhnen. Poemisia spielen ebenfalls eine Art Opern-Metal mit sehr hohem weiblichem Gesang, ordentlichen Gitarrenriffs und Schlagzeug auf einem soliden Klassikbett, das zwei Geigen und ein Cello beisteuern. Die Songs wie „Innocence of a dead Child“, „Sonata al crepusculo“ oder „La danza degli spiriti“ bewegen sich alle im getragenen Midtempo und erinnern ganz leicht an Haggard ohne Grunzgesang – entfalten aber natürlich mangels Orchesterbesetzung nicht deren Wucht. Musikalisch ist das also zwar nicht innovativ, aber solide, und die extravagante Bühnenshow hebt die Band auch ein wenig aus dem Einheitsbrei heraus. Sängerin Tina interagiert oft theatralisch mit schaurigen Puppen oder einem Totenschädel und unternimmt auch diverse Ausflüge ins Publikum, wo sie die Zuschauer in den ersten Reihen aktiv einbindet. Das mag bei einer unbekannten Vorband ein bisschen aufgesetzt wirken, ist aber zumindest mal etwas anderes. Ganz überzeugen können mich die Italiener leider nicht, dazu ist mir die Stimme zu hoch und zu eintönig, aber die Truppe wirkt sehr sympathisch und wärmt das Publikum schon mal gut auf.

dsc_8795Rein klassisch geht es danach mit molllust weiter, die die Metal-Fraktion daheimgelassen haben und nur mit zwei Geigen, Cello, Akustikgitarre und Bandchefin Janika an Keyboard/Klavier und Gesang unterwegs sind. Die Metalsachen von molllust hatten bei mir bisher noch nicht ganz so viel Eindruck hinterlassen, aber was die fünf Musiker heute auf die Bühne bringen, ist doch ein ganz anderes Kaliber. In den reduzierten, klassischen Versionen wirken die Songs sehr viel runder und in sich stimmiger, auch wenn sie beileibe keine leichte Kost sind. Janika teilt sich den Gesang mit Gitarrist Frank, was für schöne stimmliche Abwechslung sorgt, und moderiert den Auftritt sehr charmant und mitreißend. Präsentiert werden Songs aus den beiden Alben Schuld und In deep Waters, das gerade erst veröffentlicht wurde und auch Titel auf Englisch enthält. Nach einer instrumentalen Einführung und „Schuld“, einem neuen Stück, darf sich Gitarrist Frank kurz wie der „König der Welt“ fühlen, inklusive beachtlicher Krone, bevor man sich ernsteren Themen wie dem besonders verheerenden Bootsunglück vor Lampedusa vor zwei Jahren („Paradis perdu“) oder dem Leben eines männlichen Kükens in einer Hühnerfabrik („Number in a Cage“) widmet. Ein ruhiger, besinnlicher Moment kehrt mit Bachs „Ave“ in einer wirklich wunderschönen Version ein, und mit „Sternennacht“ hören wir das allererste Stück, das die Band je geschrieben hat; „Voices of the Dead“ vom neuen Album rundet den Auftritt ab.
Auf ganze Konzertlänge ist diese – ich nenne es mal Experimentalklassik – fürs ungeübte Ohr zwar anstrengend, aber das Durchhalten lohnt sich. Hervorragende und sehr sympathische Musiker mit Herz und Hirn und einem wirklich eigenen (klassischen) Stil – in dieser Form gerne wieder!

dsc_8858Langsam werde ich nun aber doch ein wenig ungeduldig, weil ich mich so sehr auf Orphaned Land freue, doch ein bisschen dauert es noch – erst präsentiert sich noch der Berliner A-Cappella-Chor Stimmgewalt, der von Orphaned-Land-Frontmann Kobi Farhi produziert wird, wenn ich es richtig verstanden habe, mit einigen Songs. Ich muss vorausschicken, dass ich von allen Musikstilen dieser Welt A-Cappella wirklich am allerwenigsten ertrage – aber diese drei Jungs und drei Mädels sind cool. Umarrangierte Versionen von Rammsteins „Engel“ sowie einem Van-Canto-Song kommen richtig gut, bei einem herrlich anarchisch-bitterbösen irischen Lied können alle Sänger und Sängerinnen zeigen, was sie drauf haben, und mit der abschließenden, leidenschaftlichen Ode an das Bier hat man die Herzen der Münchner dann sowieso gewonnen. Hut ab, Stimmgewalt, dass ihr mich begeistern konntet, das hat noch keine A-Cappella-Gruppe bisher in dieser Form geschafft!

dsc_8956Stimmgewalt bleiben dann gleich auf der Bühne und postieren sich auf einem Podest im Hintergrund, als Orphaned Land dann um halb zehn etwa ihre Plätze einnehmen. Chen Balbus und Idan Amsalem lassen sich mit ihren Gitarren auf zwei Barhockern nieder, Bassist Uri Zelcha hockt lässig zu Füßen von Drummer Matan Shmuely, und Sänger Kobi Farhi kommt wie immer barfuß und im langen Kaftan auf die Bühne, vor der sich die Fans mittlerweile drängen. Von Anfang an herrscht eine unglaublich familiäre, entspannte Stimmung, man kennt sich, und Kobi muss diesmal gar nicht erst seinen „I am not Jesus“-Witz bringen, sondern kann gleich mit dem Wichtigsten anfangen – der Musik. Orphaned Land schaffen es wie kaum eine andere Band, Fans aus den verschiedensten Ländern und den verschiedensten Religionen auf sich zu vereinen, denn Musik ist wichtiger als Politik und Religion, wie sie unermüdlich bei ihren Konzerten betonen. Diese Akustiktour gibt ihnen die Gelegenheit, ihre Songs noch eindringlicher zu präsentieren, die orientalischen Einflüsse noch stärker hervorzuheben (was mir besonders gut gefällt) und eine noch viel intimere Party zu feiern als bei den Metalkonzerten. Man vermisst die Growls und die Bratgitarren auch gar nicht – die Lieder büßen nichts von ihrer Wirkung ein. Außerdem kommt das Publikum so auch in den Genuss selten oder gar nicht gespielter Songs, die sonst nicht ins Metalprogramm passen. Kobi Farhi singt perfekt, den beiden akustischen Gitarren wird viel Platz eingeräumt, ab und zu wechselt Idan Amsalem zur Bouzouki, und der Stimmgewalt-Chor unterstützt die Lieder mit genau der richtigen … Stimmgewalt. „The simple Man“, „All is one“ oder die wunderbaren „Olat Hatamid“ und „Asalk“ führen einen hervorragend in den musikalischen Kosmos von Orphaned Land ein, bei „Brother“ wird einem zum ersten Mal die Kehle eng, und bei „Bereft in the Abyss“ könnte man wirklich beinahe heulen. Als mein persönliches Lieblingslied „El Meod Na’ala“ ertönt, bin ich wirklich hin und weg von diesem Konzert. Bevor es aber zu emotional wird, lockert Kobi die Stimmung immer wieder mit lustigen Sprüchen und ungewollt komischer Interaktion mit dem Publikum auf („The world is a crazy place“, sagt er einmal, gefolgt von einem inbrünstigen „I know, man!!“ aus den Zuschauerreihen, was alle Anwesenden vor Lachen zusammenbrechen lässt). Auch erklärt er mit bestechender Logik, warum er zu den Liedern immer wieder ein wenig Bauchtanz einfließen lässt („I have a belly … and I dance“) und überzeugt die Leute vor der Bühne somit, es ihm beim Ohrwurm „Sapari“ gleichzutun. Nach „In thy neverending Way“ ist erst mal Schluss, doch natürlich gibt es noch die obligatorische Zugabe, bestehend aus „The Beloved’s Cry“ und „Norra el Norra“, wo dann wirklich jeder mitsingt und die Hände schwenkt. Ausnahmslos jeder im Raum – ob auf oder vor der Bühne – strahlt und ist sichtlich mitgerissen von dieser einzigartigen Stimmung im Raum.

Fazit: Orphaned Land lohnen sich immer, aber mit dem Akustikprogramm haben sie die Messlatte für die Zukunft verdammt hoch gelegt. Selten habe ich in meiner langen Konzertkarriere so etwas Schönes miterlebt. Ich liebe das Metalprogramm der Israelis – aber akustisch zeigen die Songs erst, was wirklich in ihnen steckt.
Stimmgewalt werde ich auf jeden Fall im Auge behalten, ebenso wie molllust, und Poemisia dürften bei ihrer ersten Deutschlandtour sicher auch ein paar neue Fans dazugewonnen haben.

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Setlist Orphaned Land:
The simple Man
All is one
Let the Truce be known
Olat Hatamid
Asalk
Brother
Bereft in the Abyss
Building the Ark
El Meod Na’ala
New Jerusalem
Sapari
In thy neverending Way
The Beloved’s Cry
Norra el Norra / Ornaments of Gold

 

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