666 m Kabel

Der heutige Konzertabend bedeutet gleich dreimal Neuland für mich, da ich mit allen drei Bands/Künstlern nicht vertraut bin. Rhys Fulber kenne ich jedoch als Soundtüftler von der EBM-Legende Front Line Assembly, die letztes Jahr eine beeindruckende Double-Headliner-Show zusammen mit Die Krupps absolviert haben (Link zum Bericht). Sein Dark-Techno-Solowerk ließ mich beim Reinhören überraschend aufhorchen, denn im Normalfall ergreife ich bei Techno die Flucht. Priest hingegen, die sich aus Ex-Mitgliedern von Ghost zusammensetzen, und bei denen im Vorfeld das Besetzungskarussel zugeschlagen hat, machen Synthie-Pop mit starken 80er-Jahre-Anleihen, und beim WGT hat es zeitlich leider nicht hingehauen. Craven, der den Abend eröffnet, ist mir zugegebenermaßen völlig unbekannt.

DSC_8753-1-2Wir sind zwar früh dran, sodass es noch leer ist, aber das soll sich heute Abend auch nicht mehr wirklich ändern. Mit einem Tarnnetz, das vom Catwalk herabhängt, ist die Halle heute optisch verkleinert worden, und es stehen sogar noch zwei Bistrotische samt Stühlen im Zuschauerraum. Als Craven schließlich pünktlich um halb acht auf die Bühne springt, zähle ich ganze 23 Besucher. Trotzdem gibt er direkt Vollgas und startet in ein verrücktes Set. Er sieht aus wie eine Vogelscheuche, die einem Horrorfilm entsprungen ist, und der in den Weiten des amerikanischen mittleren Westens seine blutige Handlung hat. Zerrupfte Hose, schmutzige und zerrissene rote Jacke eines Zirkusdirektors, und dazu eine den ganzen Kopf verhüllende Maske aus einem Kartoffelsack, auf dem Augen und Mund in bedrohlichem schwarz gekennzeichnet sind. Furchterregend, passt aber bestens zu seiner Musik, die er dem Darksynth verschrieben hat, und die von Horrorfilmen der achtziger Jahre, Alice Cooper und „the smell of rotten latex“ beeinflusst ist, wie er auf Bandcamp verrät. Außer seiner Herkunft aus Dublin ist nicht viel über den Musiker herauszufinden, der die ersten zwei Songs mit der Gitarre begleitet, an der unter anderem ein langer Plüschschwanz baumelt. Leider kommt die Gitarre bei den ersten zwei Songs nicht richtig durch, aber auch so nimmt der dunkle, treibende Sound die Anwesenden auf eine Alptraumreise mit, Craven freut sich sichtlich über den zustimmenden Applaus. Nun wechselt er an den mit Spinnweben überzogenen Synthie-Tisch, der passend schaurig dekoriert ist, unter anderem mit Kerzen, einem Herz in einem Weinglas, einem Katzenskelett, einer Babypuppe und weiteren blutigen Dingen. Hier geht er richtig ab und legt sogar fast einen Spagat hin. Schließlich schnappt er sich die blutige Babypuppe und präsentiert sie liebevoll einzelnen Personen im Publikum, die ihr einen Kuss aufhauchen. Als er wieder zur Gitarre greift, ist diese nun richtig abgemischt, was die Atmosphäre deutlich verbessert. Irgendwann fällt er jedoch fast über den Plüschschwanz und sorgt so für unfreiwillige Komik. Dann doch lieber ohne Gitarre, und ein poppiges Intro wechselt in Industrial Sounds, zu der die Melodie einer Kinder-Spieluhr erklingt. EBM-Beats animieren die Leute zum Mitklatschen, Horrorsounds und Glockengeläut runden alles ab. Teilweise übernimmt eine Synthiespur die Gesangslinie, denn singen kann Craven unter dem Kartoffelsack ohnehin nicht. Schließlich springt er wieder schnell zur Gitarre, und als besondere Einlage leckt er den Hintern von dem Katzenskelett. Ist dies eine Hommage an die Band Kiss The Anus Of Black Cat? Wer weiß, schließlich hat die Katze ihr Fell bereits eingebüßt. Die Melodie erinnert mich plötzlich an Captain Future, und nun folgt auch alsbald der Höhepunkt der Show: Mit der Schere schneidet sich Craven die Zunge ab, was auch endgültig erklärt, warum es keine Texte gibt, von gelegentlichen Sprachsamples einmal abgesehen. Er verbeugt sich vor den begeisterten Besuchern und verschwindet nach einer Dreiviertelstunde so plötzlich, wie er gekommen ist. Zu hören gab es beim Auftritt wohl Stücke vom selbstbetitelten Debüt Craven sowie der aktuellen EP Kings. Ansatzweise kann man seine Musik vielleicht mit Pertubator und GosT vergleichen. Die nun vom Band eingespielte Musik sorgt zunächst für Irritationen, doch schließlich kann ich sie identifizieren. Es ist der „Banana boat song“ von Harry Belafonte auf einer 45er-Single, die jedoch auf 33 Umdrehungen abgespielt wird und entsprechend langsamer und tiefer klingt, die eigentlich fröhliche Note des Songs wird ausgeblendet, und so kommt er richtig düster rüber. Ein toller Auftakt! Craven ist ein sehr interessanter irischer Künstler, dessen Liveshow sich lohnt und Spaß macht, weit ab vom Klischee des Irish Folk. In der obligatorischen Umbaupause baut er selbst sein Equipment ab, mittlerweile ohne Maske, doch auch jetzt sind Augen und Mund geschwärzt, was sein diabolisches Grinsen dabei nur verstärkt.

DSC_8852-1-17Pünktlich um halb neun startet das nächste Intro, zu dem ein Schwarz-Weiß-Film auf der Leinwand läuft mit Aufnahmen aus den 50er Jahren und Ostpropaganda. Das Warten auf Priest zieht sich hin, und plötzlich läuft noch jemand mit den Bühnenjacken von Priest durchs Bild. Doch dann kapiere ich, dass es bereits Rhys Fulber ist, der hinten unterm Catwalk sein Equipment aufgebaut hat und sein düsteres Dark-Techno-Set einleitet, ich hielt ihn eigentlich für den Headliner. In der Folge bin ich hin- und hergerissen zwischen den hypnotischen Bildern auf der Leinwand und seinem Auftritt, bei dem ich ihm beim Schrauben seiner zahlreichen Gerätschaften zusehen kann, die mit gefühlten 666 m Kabeln zusammengesteckt sind. Es ist faszinierend zu beobachten, wie das minimale Drehen an einem Regler oder das Drücken irgendeines Knopfes die Musik verändert, wie die Lautstärke und die Rhythmussequenzen variiert werden und so ein hypnotischer Sog entsteht, der den geneigten Hörer in einen düsteren Abgrund zieht und dystopische Welten heraufbeschwört. Vor allem, wenn dazu auf der Leinwand mich an Hongkong erinnernde hypnotische Hochhausbilder vorüberziehen, die immer wieder verfremdet und verpixelt werden. Man muss sich allerdings fallen lassen und von der Musik tragen lassen können, was nicht jeder/jedem der Anwesenden gelingt, wie man an manch fragenden Gesichtern ablesen kann. Wir zwei vom Webzine finden den Sound jedoch grandios und tanzen dazu, wie auch einige andere. Die einzelnen Songs werden nahtlos ineinander übergehend gemixt, sodass es schwer ist, einzelne Tracks auseinanderzuhalten. Das mit Zahnrädern untermalte „My church“ von seinem Debütalbum Your dystopia, my dystopia erkenne ich dann dank des prägnanten Samples doch, und aus diesem wie seinem aktuellen Album Ostalgia wird sich das Set zusammensetzen. Gegen Ende mäandert der Sound über Dark Electro zu EBM, und ich erwarte schon das Ende, aber nein. Nun hämmert Rhys Fulber noch einmal richtig aus den Boxen, bevor die Musik sich allmählich verlangsamt und auf der Leinwand Plattenbaugebäude einstürzen und gesprengt werden. So still wie er gekommen ist, verschwindet der Meister auch wieder und steht damit ganz in der Tradition der anfänglichen Techno-Bewegung, als es nicht um Stars hinter den Reglern ging, sondern der Sound der eigentliche Star war und der DJ dazu bedeutungslos. Schade, dass diese Dreiviertelstunde viel zu früh vorüber ist, und schade, dass Münchens schwarze Szene diese Legende quasi geschlossen vorüberziehen lässt. Denn außer einem Bekannten und DJ Sconan kennen wir niemanden, nicht einmal vom Sehen her, die Zahl der Besucher insgesamt hat sich zwischenzeitlich auch nicht wesentlich erhöht.

DSC_9002-1-41Nun beginnt tatsächlich das Warten auf Priest, aber viel umgebaut werden muss ja ohnehin nicht, denn es steht ja schon alles auf der Bühne. Dennoch müssen wir uns eine halbe Stunde gedulden, bevor ein hartes Intro ertönt, währenddessen sich die zwei Pestschnäbel Salt und Sulphur auf ihre Positionen hinter den Synthesizer-Aufbauten begeben. Schließlich begibt sich zum Jubel der Anwesenden auch Mercury mit der prägnanten Stachel-Ledermaske auf die Bühne, um direkt die erste Single “The pit” zu intonieren. Die Stimmung unter den Fans ist trotz der geringen Anzahl bestens, Mercury stellt sogleich den Mikroständer beiseite, um mehr Bewegungsspielraum zu haben: „Dankeschön Munich! Next song!“ Mit “Populist” animiert er die Leute zum Mitklatschen, und viele singen bereits den Text mit. In der Schlusspose ahmt er einen Schwertschlucker mit dem Mikro nach, wobei das wohl nicht durch die Mundöffnung der Maske passen würde. Mit „We are the dark side of electricity!” wird “Nightmare Hotel” angekündigt, passenderweise flimmert eine Art Würfel auf der Leinwand im Hintergrund, der mich an das Modell von Nagelkopf Pinhead erinnert. Mercury geht dabei auf Tuchfühlung mit den Fans, in seiner Eigenschaft als Priester segnet er sie durch Handauflegen. „Dankeschön! Wie geht’s?“, ruft er in den Beifall hinein. Super bis jetzt, da sind wir uns alle einig, obwohl der düstere Synthiepop heute deutlich härter als vom Album ausfällt. Mit “History in black” geht es weiter, bei dem er das Mikro für einige Textzeilen ins Publikum hält. Seltsamerweise läuft sein Gesang unverändert weiter, sodass wir irritiert sind. Kommt der Gesang vom Band? Lippenbewegungen erkennt man dank der Maske ohnehin nicht wirklich. „And now for something completely different!”, mit dem Mercury vielleicht auf die britische Comedy-Truppe Monty Python anspielt. Nach “Virus” heißt es: “Now something faster!”, die fanfarenartigen Sounds von “Private eye” klingen stark nach dem 80er Hit „When the rain begins to fall“ von Jermaine Jackson und Pia Zadora, wobei Mercury mit der Kopfstimme weiter oben in der Tonleiter agiert. „Now we play another song to you!“, heizt er die Fans an, “do you know this one?” Klar, zu “The cross” singen sie wieder mit. Nun stellt er die Band vor: „Over here we have a mystery named Sulphur! Here on the other side is Salt!” Die Fans jubeln, und so schiebt er nach: “Thank you, you are so kind! For myself, I’m a lonely soul, I am Mercury!” Nach “Newromancer” heißt es: “Now I take you to the darkness of my soul!”, und trotz des düsteren Sounds erinnert mich “Reloader” stimmlich und musikalisch stark an Erasure. “Unfortunately we have to end. I have to announce the last song, it’s from our latest EP! It’s called ‘Obey!’” Er schwelgt dabei elegisch im Sound. Ein Chor erklingt, ohne dass ein Chor auf der Bühne steht, und als er wieder das Mikro dem Publikum für ein paar Zeilen überlässt, ist endgültig klar, dass der Gesang tatsächlich vom Band kommt. Unwillkürlich fragt man sich natürlich auch, ob denn Sulphur und Salt, die ihrer Rolle entsprechend relativ unbeweglich an den Synthies stehen, überhaupt irgendetwas live spielen oder quasi nur Statisten sind. Mit „Thank you and good night!“ verabschieden sich Priest vom begeisterten Publikum, dem das entweder egal ist, oder viele haben das Playback einfach nicht bemerkt. Wir hingegen sind darüber schon sehr enttäuscht.
Als Zugabe folgt das Radiohead-Cover “Street spirit”, bei dem Mercury einmal mit dem Mikroständer kollidiert, und auch bei seinen strauchelnden Armbewegungen läuft der Gesang weiter. Spätestens jetzt müssten alle Anwesenden das Playback bemerkt haben. Trotzdem fordert Mercury: „I wanna hear you sing!“, und zum stampfenden Rhythmus von „Vaudeville“ tun ihm seine Fans den Gefallen. Nun verabschiedet sich die Band endgültig vom restlos begeisterten Publikum: „Thank you Munich! Thank you for coming out tonight“, während wir uns fragen, was da eben passiert ist. torshammare ist schließlich im April schon dabeigewesen und hat die Band dort ganz anders erlebt.

Fazit: Merkwürdig, dass es heute so leer ist, da mit Rhys Fulber eine echte Legende quasi zum Anfassen aufgelaufen ist und Priest im April als Vorband von Aesthetic Perfection gefeiert wurde (Link zum Bericht). Aber egal, denn dass eine unbekannte Vorband einen direkt packt, ist selten und spricht daher umso mehr für Craven, der einen gelungenen Auftritt hinlegt. Der überraschend bereits im Anschluss auftretende Rhys Fulber beweist seine außerordentlichen Qualitäten als Soundtüftler mit einem düsteren und mitreißenden Set. Die neu formierten Priest hingegen müssen an ihrem Live-Auftritt noch arbeiten. Auch wenn die Show für sich betrachtet durchaus gelungen war und von den Fans entsprechend gefeiert wurde, erwarte ich auch von elektronischen Bands, dass der Gesang live ist und nicht vom Band kommt. Wir sind schließlich nicht beim Musikantenstadl, das hat mich schon sehr enttäuscht. Nur dank den exzellenten Craven und Rhys Fulber bekommt der Abend in der Wertung
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

Setlist Priest:
01 The pit
02 Populist
03 Nightmare Hotel
04 History in black
05 Virus
06 Private eye
07 The cross
08 Newromancer
09 Reloader
10 Obey

11 Street spirit
12 Vaudeville

Bilder: torshammare

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2 Kommentare
  1. sabine waltz
    sabine waltz sagte:

    Meine Lieben Herr Journalisten, Priest singen live, das ist kein Playback.
    Anmerkung von IBD- Booking Agent der Band.
    Das so wenig los war kann sich keiner erklären Werbung wurde genug gemacht.
    Lustigerweise liefen die Shows im Ausland alles gut, Deutschland leider nicht.

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  1. […] muss man sich einlassen können, das hatte sich schon unlängst bei Rhys Fulber gezeigt (Link zum Bericht). Dabei ist die Musik durchaus abwechslungsreich, denn es wird nicht nur vom Tempo her variiert, es […]

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