Weihnachtsfeier einmal anders

Trotz über 30 besuchter Konzerte einer meiner immerwährenden Lieblingsbands habe ich es bislang nie nach Köln zu der legendären Weihnachtsfeier von New Model Army geschafft, eines von vier Konzerten im Dezember speziell für die treuesten Fans. Die weiteren finden in Nottingham, London und Amsterdam statt. Der heutige Abend ist also etwas Besonderes für mich.

Radio Havanna eröffnen den Abend, und ich muss gestehen, dass mir die Band bislang unbekannt ist, obwohl sie schon 2002 gegründet wurde und mittlerweile fünf Alben veröffentlicht hat. Sie machen deutschen Punkrock und das gar nicht mal so schlecht, aber mir persönlich sind sie vom Sound her zu poppig. Etwas weniger Tote-Hosen-mäßigen Stadionrock und dafür mehr Punk hätte ich mir gewünscht, obwohl die politische Richtung klar erkennbar ist. Bei zwei Liedern wird die Gitarre deutlich härter und schneller gespielt, und die kommen dann direkt nicht nur bei mir, sondern auch beim restlichen Publikum deutlich besser an, obwohl die Hälfte noch gar nicht eingetroffen oder draußen beim Rauchen ist.

Nach einer kurzen Umbaupause erobern The Godfathers die Bühne, und jetzt erlebe ich eine Überraschung. Namentlich waren sie mir zwar irgendwie bekannt, trotzdem frage ich mich, wie diese Band all die Jahre an mir vorübergegangen sein konnte, wurde sie doch schon 1985 gegründet. Der Indie-Alternative-Rock ist deutlich von Punk und New Wave beeinflusst und begeistert mich auf der Stelle, die energiegeladene Bühnenshow und die 30er-Jahre-Gangsteroptik tut ihr Übriges dazu. Auch in der Halle ist jetzt ordentlich was los, viele Leute kennen die Godfathers ganz offensichtlich und gehen begeistert mit. Am 06.02.2016 spielen sie übrigens in München im kleinen Rahmen in der Glockenbachwerkstatt, das sollte man sich nicht entgehen lassen.

Nun heißt es warten auf den Hauptact. Der Umbau dauert nun etwas länger, doch schließlich erlischt das Saallicht, und endlich geht es los. Trotz einer gewissen Routine, die sich zwangsweise mit der Zeit aufbaut, wenn man eine Band immer wieder live erlebt, trifft mich der Konzertbeginn mit ungeahnter Wucht. Zum einen, weil New Model Army ohne Ansagen direkt mit „Bloodsports“ losrocken, zum anderen, weil der Moshpit unerwartet heftig über mir zusammenschlägt. Irgendwie hätte ich mir das ja denken können, da zu den Weihnachtskonzerten die Hardcore-Fans aus ganz Europa anreisen. „Bloodsports“ vom bereits 2007 erschienenen Album High ist sicherlich der momentanen politischen Lage geschuldet, mit Krieg überall um uns herum. Dementsprechend wütend ist der Gesichtsausdruck von Sänger Justin Sullivan, und aus gut 3000 Kehlen (laut RuhrNachrichten​) erschallt es dann im Refrain: „I am not at war!“ Ein toller Auftakt.

[embedplusvideo height=“300″ width=“400″ editlink=“http://bit.ly/1R3Eirf“ standard=“http://www.youtube.com/v/PpVukodB-PU?fs=1″ vars=“ytid=PpVukodB-PU&width=400&height=300&start=&stop=&rs=w&hd=0&autoplay=0&react=1&chapters=&notes=“ id=“ep6889″ /]

Direkt weiter geht es mit „Christian Militia“ vom allerersten Album Vengeance von 1984, ebenso aktuell zeitbezogen, wenn Menschen meinen, für angeblich christliche Werte kämpfen zu müssen. Im Grunde genommen bin ich jetzt schon fix und fertig und dankbar, als das ruhigere „Breathing“ beginnt, aber denkste: Wir sind hier in Köln, und wir sind nicht hier, um uns auszuruhen. Der Pogo geht einfach weiter, obwohl der Altersdurchschnitt sicherlich über 40 liegt. „March in September“ ist der erste Song vom letzten Album Between Dog and Wolf, der begeistert aufgenommen wird, dann überrascht mich „No greater Love“ vom zweiten Album No Rest for the Wicked, das ich noch nie live gehört habe. „Nothing dies easy“ ist der nächste Song, und das gilt wortwörtlich auch für den Moshpit. An dieser Stelle baut Justin eine der wenigen Ansagen ein: „Last year we had 45 musicians. This year it’s just us. And you.“ Anschließend stimmt die Band die ersten Töne von „Devil’s Bargain“ an und somit endlich ein Lied von der tollen aktuellen EP Between Wine and Blood, die quasi die zweite Hälfte zu BDAW bildet. „Orange Tree Roads“ vom Album Eight aus dem Jahr 2000 ist für mich ein besonderes Highlight, dann geht es weiter mit „No Mirror, no Shadow“ und „One of the Chosen“, beide wieder vom High Album. „Another Imperial Day“ ist zwar schon 2005 auf dem Album Carnival erschienen, ist aber aktueller denn je mit der Flüchtlingssituation, die der Song seinerzeit quasi vorausgesehen hat. Justin performt den Song ohne die Band, solo und spoken word:

„Goods are free to move but not people
Oil is free to move but not people
Guns are free to move but not people
Jobs are free to move but not people
Money is free to move but not people”

Ein paar Leute versuchen mitzuklatschen, treffen allerdings den Rhythmus überhaupt nicht und lassen es dann zum Glück auch sein. Das Publikum ist still bis auf die Worte “but not people”. Das alles wirkt wahnsinnig intensiv und löst einfach Gänsehaut aus. Toll!

[embedplusvideo height=“300″ width=“400″ editlink=“http://bit.ly/1R3EB5f“ standard=“http://www.youtube.com/v/T9LPWUNEFzc?fs=1″ vars=“ytid=T9LPWUNEFzc&width=400&height=300&start=&stop=&rs=w&hd=0&autoplay=0&react=1&chapters=&notes=“ id=“ep5255″ /]

Zu “Stormclouds” gerät die Menge wieder in Bewegung, dann kommt eine weitere Ansage: „Here’s something old – old – written on Christmas day 30 years ago though it’s not exactly a Christmas song.” Der Song ist „Heroes“ vom 1986er Kultalbum The Ghost of Cain, und dementsprechend gibt es kein Halten mehr. Mit „Between Dog and Wolf“ geht es nahtlos weiter, obwohl es eigentlich ein Liebeslied ist, und als dann auch noch mit „Angry Planet“ einer der härtesten New-Model-Army-Songs überhaupt beginnt, will ich mich in Sicherheit bringen und ziehe mich ein paar Meter nach hinten zurück. Ich muss mich aber noch weiter nach hinten zurückziehen, oh oh, noch ein Stück, doch dann ist das Mischpult im Weg. Der gesamte Innenraum brodelt! Zu “Family” vom 1989er Album Thunder and Consolation versöhnen wir uns alle wieder: “Give me some place that I can go – Where I don’t have to justify myself – Swimming out alone against this tide – Looking for family looking for tribe.” Und man fühlt: Ja, die New-Model-Army-Familie ist heute hier versammelt. Wenn jemand beim Pogo hinfällt, helfen ihm sofort drei Leute hoch, und wenn einer mitten im Gedränge seine Schnürsenkel richten muss, dann wird er allseitig von vier Leuten abgeschirmt. Mit „Get me out“ ist nun auch das Album Impurity von 1990 vertreten, dann verlässt die Band das erste Mal die Bühne.

Aber natürlich ist allen klar, das war es noch lange nicht. Ich werde mit „Fate“ überrascht vom Album The Love of hopeless Causes, was ich besonders genieße, habe ich doch auf der dazugehörigen Tour 1992 New Model Army das erste Mal live gesehen. Es folgt „High“, das sich live mittlerweile zu einem Klassiker entwickelt hat, dementsprechend viele sitzen nun auf den Schultern anderer. Mit „Wonderful Way to go“ vom 1998 erschienenen Album Strange Brotherhood endet das Konzert, ein Song, der immer wieder gerne zu diesem Anlass gespielt wird, also werden beim Pogo noch einmal die letzten Kräfte mobilisiert. Aber war es das wirklich? Es wird gepfiffen und gejohlt, aber schließlich setzt Musik ein, das Saallicht geht an, und New Model Army kommen doch noch einmal auf die Bühne. Das Licht wird grün: “Green and Grey“ mit einem 3000-Mann-Chor, was für ein Erlebnis! Außerdem steht dabei wie immer und wie auch schon bei meinem ersten Konzert 1992 ein zwei Meter großer Hamburger auf den Schultern seiner mitreisenden Freunde und performt den Song wie ein Spiegelbild zum Sänger. Auch Justin Sullivan ist begeistert von der Stimmung: „Sometimes that’s the end, but not tonight!“, und so folgen noch “Stupid Questions” und als Abschluss “I love the World”. Ich bin einfach glücklich, und auch wenn mein T-Shirt nur noch in Fetzen hängt, war das die schönste Weihnachtsfeier, auf der ich je gewesen bin.

[embedplusvideo height=“300″ width=“400″ editlink=“http://bit.ly/1R3ENSc“ standard=“http://www.youtube.com/v/O1ifz5rFmsU?fs=1″ vars=“ytid=O1ifz5rFmsU&width=400&height=300&start=&stop=&rs=w&hd=0&autoplay=0&react=1&chapters=&notes=“ id=“ep6009″ /]

Eine Freundin, die schon seit mehreren Jahren extra aus Berlin anreist, meinte, es hat in Köln schon bessere Konzertabende gegeben. Und ich muss zugeben, ich habe auch ein paar Songs vermisst, die ich lieber gegen Titel vom High-Album getauscht hätte, das heute sehr oft berücksichtigt wurde, aber man kann es als Band nicht jedem Fan recht machen. Es war fast jedes Album vertreten, und es gab einen breiten Querschnitt aus dem Schaffen von New Model Army. Auf normalen Tour-Konzerten steht doch immer das jeweils aktuelle Album deutlich mehr im Vordergrund. Für mich hat sich die Reise auf jeden Fall gelohnt. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt jedes Jahr schaffen werde, aber ich weiß, dass ich nicht zum letzten Mal in Köln war.

Bloodsports
Christian Militia
Breathing
March in September
No greater Love
Nothing dies easy
Devil’s Bargain
Orange Tree Roads
No Mirror, no Shadow
One of the Chosen
Another Imperial Day
Stormclouds
Heroes
Between Dog and Wolf
Angry Planet
Family
Get me out

1. Zugabe
Fate
High
Wonderful Way to go

2. Zugabe
Green and Grey
Stupid Questions
I love the World

Verfasser: Mrs.Hyde

(4795)

5 Kommentare
  1. Island
    Island sagte:

    Und nicht zu vergessen: Justin Sullivan hat für 2016 ein neues Album angekündigt und dass er noch nicht genug von NMA hat (ist ja schon fast im Rentenalter) :)

    • Mrs. Hyde
      Mrs. Hyde sagte:

      Das hatte ich ganz vergessen, vielen Dank fürs Erwähnen.
      Nach Lemmy und Bowie wenigstens eine gute Nachricht.

  2. emil
    emil sagte:

    Ja. Happy new year allerseits. Ich würde nur was gerne zu der erwartungs- haltung der song auswahl sagen. Es gibt keine. Die qualität der alben und songs ist so groß, das die band spielen kann was sie will, wozu sie lust hat und an der spitze sogar noch inhaltlich ein set spielt, welches den momentanen zeitgeist den zahn zieht. Vieles ist tatsächlich eine art offenbahrung, einer band die mit offenen augen durch die welt geht und was zurück gibt. Und das auf eine sehr eindringliche und sehr kunstvolle art und weise. A-textlich. B- musikalisch. Nma ist eine super live band. Der sound für palladium verhältnisse war sehr gut. Mir hat es sehr gut gefallen, das das album high im fokus stand, weil es auch ein sehr gutes album ist. Manchmal wünschte ich mir, die army wäre noch radikaler in iher haltung, keine erwartungs- haltungen zu erfüllen und wären im bezug auf die zugaben, noch unberechenbarer. Kritik übe ich an der tatsache, das wie früher noch die weihnachtskonzerte zumindest ab und zu mal im e- werk statt fanden. Palladium sound ist echt scheiße. Deswegen wäre es cool von der band, einfach mal so in köln, in einem kleineren club zu spielen. Just for the kölners (-;
    Ansonsten bin ich froh das die army so hungrig bleibt und nach über 30 jahren nicht langweilig wird, sondern immer besser. Nicht viele künstler schaffen das. Das ist bemerkenswert. God save the new model army. Freue mich riesig auf die neue platte und die neuen lieder. Ich denke new model army ist eine sau geile enklave, die keine falsche Ideologie verfolgt. Gib mir mehr von solchen freaks. Und das sind sie alle. SAU GEILE FREAKS. GRÜSSE EUCH ALLE HERZLICH UND WÜNSCHE ALLEN EIN JAHR VOLLER ZUVERSICHT UND LIEBE.

    • Mrs. Hyde
      Mrs. Hyde sagte:

      Vielen Dank für Deinen lieben und langen Kommentar.
      Ja, NMA-Konzerte sind wie eine Wundertüte. Man weiß nicht, was drin ist, aber man weiß, dass es toll wird. Möge uns eine der besten Livebands der Welt noch lange erhalten bleiben.

Kommentare sind deaktiviert.