God is in the house

Nick Cave scheint über unerschöpfliche Kreativitäts- und vor allem Energiereserven zu verfügen, trotz seiner gut sechzig Jahre und – wie wir alle wissen – nicht leichten zurückliegenden Jahre. Mit dem Album Skeleton tree und der dazugehörigen Tour hat er so öffentlich wie intim um seinen verunglückten Sohn Arthur getrauert und sich von Abend zu Abend mehr dem Publikum geöffnet. Wer bei einem dieser Konzerte war, weiß, was ich meine. Nick Cave hat für sich die Kommunikation, den Weg nach außen gefunden, um mit dem Schmerz und der Trauer fertig zu werden und beständig neue Kraft zu schöpfen. Auf seiner Webseite The Red Hand Files beantwortet er Fragen, die ihm Menschen zugeschickt haben – manche ganz banal, manche sehr schwer und tiefgründig. Daraus entstand ein ganz neuartiges Auftrittskonzept, die „Conversations with Nick Cave“, mit dem er 2019 in ausgewählten Städten auftrat. Die Idee: Er allein mit Klavier auf der Bühne, abwechselnd spielt er Songs und beantwortet Fragen aus dem Publikum. Ohne Netz und doppelten Boden. Nicht viele Künstler*innen sind so souverän (Amanda Palmer würde ich gern mal in so einem Rahmen erleben), und nicht viele haben so viel zu sagen. Jeder dieser Abende ist eine Wundertüte, und umso gespannter bin ich auf den heutigen Auftritt im Kurhaus Wiesbaden.

Warum ausgerechnet Wiesbaden? Das war der südlichste der deutschen Zusatztermine für Anfang 2020, und das Kurhaus als Spielstätte verspricht außerdem einen angemessen außergewöhnlichen Rahmen. Wie außergewöhnlich dieser ist, sehe ich schon vor dem riesigen und mächtig pompösen Gebäude, und beim Betreten des Friedrich-von-Thiersch-Saales bin nicht nur ich erst mal eingeschüchtert. Deckenleuchter, geschmückte Wände, lateinische Inschriften – sind wir hier in einer Kirche gelandet? Ehrfürchtig taste ich mich zu meinem Platz vor, der am rechten Rang in der ersten Reihe liegt. Das klingt nach super Sicht – ist es aber gar nicht, da man hier offensichtlich an Sitzriesen mit extrem kurzen Beinen gedacht hat. Ich bin einen Meter sechzig groß, meine Knie stoßen vorne an, und ich sehe … das Geländer. Mit ein bisschen Halsverrenken ist der Blick Richtung Bühne aber möglich, auf der ein Klavier steht, viele Noten/Texte auf einem Pult daneben und auch einige Gäste an kleinen Tischen sitzen. Die Ultra-VIP-Ticketinhaber? Der Galaplatz sei ihnen gegönnt. Beim Warten lese ich die Postkarte, die an jedem Platz liegt und auf der Nick Cave erklärt, warum er diese Abende veranstaltet: „Why are you doing these events?“ „This is something I am in the process of discovering. I am acting on an intuition that something of value can be gained from an open and honest dialogue with my audience. I want to bring the whole thing back to something raw and naked and essential. In these respects, these events feel like reckless experiments – there is no safety net – and are, on some level, beyond my control. They are freewheeling adventures in intimacy where anything can happen. I hope that this further deepens the connection I feel with my audience. These events are work in progress!“

Um kurz nach halb acht kommt der Meister – wie immer im schlanken schwarzen Anzug – auf die Bühne und spielt erst mal Musik. Kaum ein Song könnte passender sein als „God is in the house“ – schließlich hat Nick Cave für viele eine gottähnliche Stellung, und dieser Saal ist heute Abend unsere Kirche. Danach begrüßt er uns und erklärt den Ablauf des Abends. Überall im Publikum stehen Menschen mit Warnweste und Leuchtgeräten in der Hand, an die man sich wenden soll, wenn man eine Frage stellen möchte. Die geben dann Lichtzeichen und den Fragenden ein Mikrophon. Nick bittet, wegen des intimen Rahmens nicht zu fotografieren, zu filmen oder anderweitig mitzuschneiden, alle sollen sich entspannt und sicher genug fühlen, um etwas zu sagen – er wisse, wie viel Überwindung es kostet, vor fremden Menschen zu sprechen. Da er aber natürlich weiß, dass jeder eine kleine Erinnerung haben möchte, wirft er sich für dreißig Sekunden in ein paar Posen, wer mag, drückt schnell auf den Kameraauslöser, und dann geht’s los. Nachdem ich nur schnell zwischendurch und danach aus dem Gedächtnis ein paar Notizen gemacht habe, wird das jetzt kein akribischer Bericht, obwohl an diesem Abend so viel gesagt wird, was man unbedingt weitergeben möchte. Erfreulicherweise trauen sich von Anfang an diverse Leute, Fragen zu stellen, die Nick alle mal mehr, mal weniger ausführlich beantwortet. Man merkt, dass er auf substantiellere Fragen hofft, aber er geht auch auf die Frage zu seinem derzeitigen Verhältnis zu Blixa („Wir haben keinen richtigen Kontakt, und er hat die Bad Seeds damals völlig ohne Vorankündigung verlassen, was uns fast hat zerbrechen lassen, aber … Es ist Blixa. Ich werde ihn immer lieben.“ und P. J. Harvey ein („Es geht ihr gut. Uns beiden geht es gut. Wir stehen in Kontakt.“), auch wenn ihm diese sichtlich nicht soooo angenehm ist. Man erfährt, welche Platte er als Letztes heruntergeladen hat, und welches Konzert er zuletzt besucht hat: beides von Kanye West, und da dürfte dem Saal kollektiv die Kinnlade heruntergeklappt sein. Sicher für viele überraschend hält er Kanye West für den größten derzeitigen Künstler, weil dieser zu seinem Wahnsinn steht (sinngemäß). Eine weitere Überraschung dürfte die Antwort auf die Frage zu seinem Kunstgeschmack sein: Er hat für Kunst gar nicht so viel übrig, aber in seinem kleinen Zwei-Zimmer-Haus in London hängen ganz viele Gemälde von Louis Wain, einem englischen Katzenmaler. Außerdem sei das Haus innen rosa. Ob er uns da nicht vielleicht doch ein wenig auf den Arm nimmt? Wir lachen jedenfalls herzlich. Auch die Anekdote, die er auf die Frage nach seinen engsten Freunden erzählt, ist sehr amüsant, früher habe er nämlich viel Zeit mit Henry Rollins verbracht, der ein „strange guy“ ist, nicht trinkt, nicht raucht, keine Drogen nimmt – also das genaue Gegenteil zu Herrn Cave damals. Man habe sich sehr gut verstanden, auch wenn Henry auf der einen Seite des Raumes seine Sit-ups gemacht habe und Nick auf der anderen Seite … andere Dinge. Ganz ernst wird er aber, als er von seiner Freundschaft zu Shane McGowan erzählt, dem legendären Pogues-Sänger, den er zutiefst bewundert, als Mensch und als besten Songwriter seiner Generation. Jemand aus dem Publikum fragt, ob Nick Cave die Geschenke von Fans aufhebt, was er mit leicht leidgeprüftem Blick mit Ja beantwortet. Er freue sich sehr über alles, aber Platz sei tatsächlich ein Problem, vor allem, wenn man ihm Porträts von ihm selbst – in wechselnder Qualität – schenke. Meistens lasse er die Bilder dann im Hotel und nehme stattdessen ein anderes aus dem Zimmer mit (auch das dürfte man mit einem Augenzwinkern glauben oder nicht glauben). Er und seine Frau Suzie würden aber tatsächlich alles aufheben und einlagern, und damit mehr Leute etwas davon haben, wird es bald in Kopenhagen eine große Ausstellung geben. „Stranger Than Kindness – The Nick Cave Exhibition“ vom 23. März bis 03. Oktober 2020 in der Kongelige Bibliotek. Nach Kopenhagen kann man ja immer mal fahren …

Bei manchen Fragen weiß er tatsächlich nicht genau, was er sagen soll, das gibt er offen zu. Er sagt auch, dass er manches vielleicht auch falsch versteht und dementsprechend antwortet – aber das sei alles menschlich, es müsse okay sein, auch mal einen Fehler zu machen. Als ein Mann ihn fragt, wie er seinen zwei kleinen Kindern erklären soll, dass ihr Vater jederzeit an einem erneuten Herzinfarkt sterben könnte, ist er unglaublich mitfühlend, sagt aber auch, dass er das nicht beantworten könne. Das Beste wäre Ehrlichkeit den Kindern gegenüber, aber eben so viel, wie sie schon verkraften. Eine andere Zuschauerin schaltet sich ein und erzählt kurz von ihrer zurückliegenden Krebserkrankung und dass Ehrlichkeit ihrer Erfahrung nach wirklich das Beste ist. Und plötzlich ist der riesige, fast voll besetzte Saal dann ganz klein und intim, und genau so etwas will Nick. Alle fühlen sich mit dem Mann, dessen Stimme bei seiner Frage gebrochen ist, verbunden, man fühlt sich nicht allein. Natürlich kommt die Sprache auch auf den Tod seines Sohnes, und wie es ihm jetzt damit geht. Nick antwortet, dass es ganz furchtbar klingt, aber vieles hat sich zum Besseren entwickelt. Natürlich hätte die Familie Arthur lieber bei sich, wenn sich die Uhr zurückdrehen ließe, klar, sofort. Aber das geht nun mal nicht. Und letztendlich hat sich so viel bei ihm bewegt, hat sich so viel für ihn und seine Familie verändert, und ja, manches ist besser geworden. Die Öffnung gegenüber den Menschen, die Verbindungen, die dadurch entstehen. Und das merkt man. Er steht souverän auf der Bühne, klar, nach so vielen Jahren als Performer. Er reißt Witze („durch Peaky Blinders und ‚Red right hand‘ ist Nick Cave jetzt auch für Hip Hopper zugänglich geworden“), hält den Abend zusammen, weiß auch ungefähr, wie lange er sich bei einer Frage aufhalten kann, damit es spannend bleibt. Aber manchmal merkt man ihm die Anspannung auch an, dann flüchtet er sich ans Klavier und spielt einen oder zwei Songs. Danach ist die Kraft wieder da, um sich auch mit existenziellen Fragen nach Gott und dem Leben nach dem Tod auseinanderzusetzen. Glaubt er an Gott? Da gibt es keine eindeutige Antwort, aber ohne Gott würde alles, worauf die Bad Seeds aufbauen, in sich zusammenfallen. Und was ist mit dem Leben nach dem Tod, wie geht es weiter? Auch hier kann er keine eindeutige Antwort geben, er sagt, auch wenn er rational wisse, dass vermutlich nichts danach komme, helfe ihm der Gedanke, die „possible untruth“, dass sein Sohn Arthur ständig bei ihm sei, auch wenn das vermutlich nicht stimmt. Viele werden das sicher nachfühlen können und vielleicht selbst so mit der Trauer um geliebte Menschen umgehen.
Auch der Frage, wie er mit dem Altern umgeht, weicht er nicht aus – sehr wohl aber den Spiegeln in seinem Haus. Auch merkt er, dass das Gedächtnis schlechter wird, was er aber gar nicht so schlecht findet, denn die Fähigkeit zu vergessen würde immer sträflich unterschätzt. Vergesslich wirkt er allerdings gar nicht, auch wenn er manchmal ein bisschen nach dem richtigen Noten-/Textheft für das nächste Lied wühlen muss oder es ihm schnell gereicht wird. Das sieht eher nach sehr guter Vorbereitung aus, denn er spielt sich quer durch seine Karriere und erfüllt mit „Lime tree arbour“ auch einen spontanen Publikumswunsch – der Wünscher hat in diesem Saal vor zwanzig Jahren seine Frau kennengelernt, und das sei „ihr“ Lied. Nicht zum ersten Mal wird sicher nicht nur mir die Kehle eng, denn generell ist die Setlist des heutigen Abends einfach nur Wahnsinn. „The weeping song“ ist ein frühes Highlight, bei „Into my arms“ laufen mir die Tränen runter, und bei „The mercy seat“ hält mich nur der mangelnde Platz auf meinem Sitz. Zu „Papa won’t leave you Henry“ erzählt Nick, dass er den Song damals an der Wiege seines Sohnes Luke geschrieben hat, in Brasilien. Bei „Stranger than kindness“ erzählt er, dass der Song a) sein Lieblingssong von den Bad Seeds ist und b) von seiner damaligen Partnerin Anita Lane stammt, die Musik von Blixa, und dass das Ganze eine „Autopsie“ ihrer Beziehung sei, die damals kurz vor dem Ende stand. Auch aktuelle Songs kommen nicht zu kurz, „Jubilee street“ und „Waiting for you“ zeigen den aktuellen, ruhigeren, zerbrechlicheren Nick Cave. Der Birthday Party gedenkt er mit „Shivers“, und auch von Grinderman (das immerhin ein paar Leute im Saal kennen) gibt es „Palaces of Montezuma“ zu hören. Auch seinen großen Einflüssen huldigt er, er spielt seinen Lieblingssong von T. Rex (er lobt Marc Bolan als großartigen Texter), „Cosmic dancer“, und von Leonard Cohen hören wir „Avalanche“. Der Sound ist den ganzen Abend über glasklar, sodass man sich von Nicks Stimme und dem Klavier einhüllen lassen kann. Einerseits möchte man noch viel mehr Songs aus dem unerschöpflichen Fundus hören, andererseits aber auch mehr Fragen – ein Dilemma auf höchstem Niveau. Und die Zeit vergeht … Das merkt auch Nick, der den Abend mit sehr warmen Worten zu Ende bringt und sich aus tiefstem Herzen bei uns, bei seinen Fans allgemein bedankt, die ihm das Leben gerettet haben. Er bedankt sich für das Interesse an den „Conversations“, die zwar die Angst in seine Bühnenperformance zurückgebracht haben, aber wir, das Publikum, sind ja glücklicherweise genauso nervös. Mit dem „Ship song“ verabschiedet er sich nach fast drei Stunden, doch mit Standing Ovations klatschen wir ihn für zwei Songs zurück. Dann ist es endgültig vorbei, und nicht wenige müssen sich erst mal aus dieser ganz besonderen Atmosphäre wachrütteln. So richtig loslassen können viele noch nicht und fotografieren erst mal in Ruhe den sich leerenden Saal.

Was nehme ich persönlich von diesem beeindruckenden Abend mit? Einige Schlüsselsätze von Nick, zum Beispiel: „the pain is never too much to bear because we bear it“. Oder die Antwort auf die Frage, was für ihn in einer idealen Gesellschaft essenziell ist: „forgiveness“ und „to be able to speak your mind freely“. Nick Cave zeigt sich zutiefst menschlich, obwohl er sich seiner Popularität und seines Erfolgs, seiner Fähigkeiten natürlich bewusst ist – sonst könnte er nicht so souverän drei Stunden einen Abend veranstalten, der völlig von der Gunst und den Fragen des Publikums abhängt. Zur Not könnte er sicher auch drei Stunden Songs spielen, wäre auch keiner böse, aber dann wäre der Zweck der Veranstaltung nicht erfüllt, die Verbindung von Mensch zu Mensch nicht hergestellt. Das hat aber zum Glück heute Abend geklappt, und ich gehe bereichert und glücklich zur Bushaltestelle. Im Bus unterhalte ich mich mit einer anderen Konzertgängerin, und wir stellen fest, dass wir beide aus München kommen. So schließt sich der Kreis.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Setlist:
God is in the house
The weeping song
Shivers (The Birthday Party)
Avalanche (Leonard Cohen)
Jubilee street
Sad waters
Into my arms
Papa won’t leave you Henry
Waiting for you
Mercy seat
Palaces of Montezuma (Grinderman)
Lime tree arbour
Cosmic dancer (T. Rex)
Stranger than kindness
Ship song

Love letter
Skeleton tree

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