Nazi Goths Fuck Off
The Cassandra Complex ist eine der “Legendary four”, alle aus Leeds, alle zur selben Zeit, alle mit einem Gothic Sound auf ihre ureigene Weise. Die anderen drei sind The Sisters Of Mercy, The Mission und Red Lorry Yellow Lorry, nur nebenbei. Nach dem lang ersehnten neuen Album The Plague von 2022 haben The Cassandra Complex ihr legendäres Album Sex & Death nach dreißig Jahren neu aufgenommen und 2024 als Death & Sex veröffentlicht. Die Tour dazu begann schon im letzten Herbst und wird nun im Frühjahr fortgesetzt. Im Vorprogramm sind auch SJÖBLOM aus Stockholm wieder dabei, auf die wir uns besonders freuen.
Wir sind heute extra früh im Backstage, weil wir mit Johan Sjöblom Eliot und Robert Eklind ein Interview vereinbart haben. Nach deren Soundcheck setzen wir uns zusammen auf die Couch. Das Interview folgt aber nicht an dieser Stelle, sondern wird in einem späteren Artikel veröffentlicht. So viel sei verraten: Wir hatten ein tolles und aufschlussreiches Gespräch.
Gegen 19:15 betreten wir schließlich den Club, in dem die ersten Gäste schon eingetroffen sind. Nun heißt es noch einmal warten, auch ein paar Freunde und Bekannte begrüßen und die Merchandise-Stände begutachten. Hier fällt vor allem ein Shirt von The Cassandra Complex auf mit dem Cover der neuen Single „Nazi Goths Fuck Off“. Johan und Robert laufen zwischendurch auch noch mal unbehelligt durch den Club, und schließlich ist es soweit. Um 20:10 startet das Intro von “Number Ten”, und quer über der großen Videoleinwand im Hintergrund prangt der Name SJÖBLOM. Robert betritt dabei als Erstes die Bühne, er trägt ein sehr schickes Front-242-Shirt und nimmt seinen Platz hinter den Synthies ein, gleich zweimal ein Roland und noch ein kleineres Yamaha Keyboard zusätzlich. Einen Moment später folgt auch Johan in einer Lederjacke und aufgezogener Kapuze und begrüßt das Publikum im noch nicht ganz gefüllten Club etwas schüchtern mit einem kurzen “Hello!” Der Konzertabend startet mit “Dead for years”, gleichzeitig auch der erste Song des neuen Albums Dead of night (Link zur Review). Johan singt teils mit geschlossenen Augen, um sich hineinzufinden, während Robert ein wenig tänzelt. Es folgt das schöne “Oh my heart” vom ersten Album 6, für das Johan nun auch zur Gitarre greift. Im Hintergrund läuft derweil auf einer großen Leinwand ein Video dazu, und es gibt den ersten Applaus. Im Anschluss überhitzt der Beamer leider und zeigt eine Temperature Warning statt eines Videos. Davon lässt Johan sich aber nicht beirren und spielt “It’s a lie” mit energischen Riffs etwas härter als auf dem Album, was richtig cool ist und das Publikum merklich eingroovt. Das spendet wieder Beifall, und Johan bedankt sich mt einem schlichten “Thank you!” Er legt die Gitarre weg, und es geht mit “Turn my head” weiter. Er bewegt sich vorn am Bühnenrand hin und her und zieht gelöst die Kapuze runter. Robert ist ebenfalls mitten im Flow und tanzt hinter den Tasten. Johan gesellt sich dazu und spielt die Harmonien am seitlichen Keyboard, ein toller Moment der beiden, der vom Publikum entsprechend honoriert wird. Er grinst erfreut und bedankt sich.
“Tape” stammt vom zweiten Album Demons und wird auch als Tape groß auf der Leinwand eingeblendet. Der Song ist einfach toll und entfaltet auch live seine Wirkung. Es wird zwar nicht großartig getanzt, aber die Gesichter im Publikum offenbaren, wie gut der Sound von SJÖBLOM heute ankommt, ebenso der Beifall hinterher. Johan freut sich sichtlich: “Thank you very much! You’re so kind.” Das folgende “The last call” stammt wieder von 6 und wird mit einem tollen Video untermalt, das aus Konzert-Liveaufnahmen samt Publikum besteht. Die Stimmung ist wirklich gut, und nun folgt auch noch “Weirdo”, die neueste Single, die Johan mit “This is the last song of our new album.” ankündigt. Auch dazu gibt es ein richtig cooles Video mit Alltagsszenen im winterlichen Stockholm. Teils sitzen Robert und Johan bei einem Bier in der Kneipe, der dabei noch dazu ein The-Cassandra-Complex-Shirt trägt. Dafür gibt es jetzt extra lauten Applaus.”Thank you so much! Great!” Johan legt die Gitarre weg und zieht die Jacken aus, die nun doch zu warm sind. Mit “Not a man for you” von 6 wandert er umher und geht sogar bis zur Treppe vor. Robert groovt dabei an den Synthesizern und gibt dem Song durch seine Spielweise noch einmal einen ganz eigenen coolen Twist, was auch vom Publikum honoriert wird. “Thank you! This is our last Song. It’s great to be here tonight.“ Damit startet “Telephone” von Demons, und er fügt während der ersten Takte noch hinzu: “Oh, by the way, we’re SJÖBLOM from Sweden!”, was für einige Lacher sorgt, schließlich sollten das ja alle längst mitbekommen haben. Für einen kurzen Moment ist ein rosa Telefon zu sehen, dann ist der Beamer leider wieder aus. Dennoch habe ich eine leichte Gänsehaut, denn Johans Gesang ist einfach prädestiniert, um diese melancholischen Gefühle zu transportieren. Die Menge jubelt und applaudiert verdientermaßen. “Dankeschön! We love you!” Die Show hätte gerne ein wenig länger sein dürfen. Aber Johan fragt: “Do you want to take a picture with us?” Klar, das machen wir doch gerne. “Thank you! See you later!” Er und Robert winken zum Abschied und verschwinden im Backstage. Doch kurz darauf stehen sie schon am Merchandise-Stand und signieren auch bereitwillig ihre Alben. Schade, dass der Beamer teilweise ausgefallen ist, aber auch so ist das ein sympathischer Auftritt. Kein Wunder, dass Rodney Orpheus die beiden auch für den zweiten Teil der Tour wieder engagiert hat.
Der Umbau ist in vollem Gange, mittels Leiter wird auch der defekte Beamer ausgetauscht. Der neue Synthies-Turm wird verkabelt, und nur fünf Minuten später betreten Paul Dillon und Rodney Orpheus schließlich umjubelt die Bühne. Letzterer begrüßt kurz einen Fan in der ersten Reihe, bevor er sich ans Publikum wendet: “Hey, how are you? We are The Cassandra Complex, but I think you already know about that.” Das lässt alle etwas schmunzeln. Pauls Shirt trägt den Aufdruck “FUCKING EXPENSIVE”, während Rodney eine elegante lila Krawatte und ein schwarzes Hemd zur Armeehose gewählt hat. Sie lassen sich nicht lang bitten und starten fulminant mit dem Klassiker “Nightfall”. Sofort sind wir mitten im Konzertfieber, warm werden muss hier niemand mehr. Die Menge reagiert euphorisch, und Rodney bedankt sich kurz. “Alright! Let’s go!” Weiter geht es mit “Why?”, zu dem schräge Propaganda-Bilder gezeigt werden, u. a. wie Soldaten einen Mann wie den gekreuzigten Jesus tragen. Rodney ist ganz in seinem Element und verheddert sich mit dem Mikrofonkabel. Er nimmt das aber ganz locker: “I’m Irish, we don’t need microphones!”, und hat damit die Lacher auf seiner Seite. Mit “Hotline to Elvis” folgt der erste Song aus dem aktuellen Album The Plague, was spontan begeisterte Rufe auslöst. Da haben einige scheinbar nur drauf gewartet. Optisch untermalt wird das Stück natürlich mit Elvis-Ausschnitten. Rodney tanzt dabei auf der Bühne und wickelt sich wieder mit dem Mikrokabel ein. Einen Sternenflug durch den Hyperraum kündigt “Mouth of heaven” an, währenddessen starke Laserstrahlen für zusätzliche Atmosphäre sorgen. Für den begeisterten Applaus bedankt Rodney sich und meint: “OK, what’s next?” Während er auf sein Tablet schaut, ruft jemand: “One millionth happy customer!” Rodney lacht und erklärt: “Well, we can play whatever you want!” Sie hätten die Backing Tracks für alle Songs bei Paul im System dabei, und natürlich ruft sofort jemand “Moscow Idaho!” Aber klar, so früh im Set wollen sie nicht alle großen Hits verschießen. Stattdessen geht es mit “(In search of) Penny Century” weiter, ebenfalls eine tolle Nummer und auch immerhin von 1988. Rodney bedankt sich hinterher und fragt: “Thank you so much! Alright, is the sound ok for you? It’s one of my favourite songs, ‘Penny Century’.“ Er nimmt einen Schluck Wasser und fügt hinzu: “This one ist called ‘Valis’!” Das löst wiederum neue Begeisterung aus, sodass er sich hinterher sogar verbeugt: “Thank you so much! What a fantastic audience!” Daran schließt sich “Voices” an, und hinterher wird wieder nach “One millionth happy customer” verlangt. Doch Rodney entgegnet leicht genervt: “Yeah, yeah, take it easy. We’re here all night.” Er macht ein wenig Werbung für den Merchandise und erklärt: “This is a love song from the same album. It’s called ‘Realm of senselessness’!” Doch auch damit sind einige Angetrunkene nicht zufrieden und stören durch Zwischenrufe, die Rodney aber sehr cool kontert: “Remember the first night you got drunk?” Der gesamte Club lacht.
Nun folgt eine längere Story zum nächsten Song “N. U. D.”, einem Cover der slowenischen Band Borghesia, die sich homosexuellen Themen zu einer Zeit gewidmet hat, in der diese noch strafrechtlich verfolgt wurden. Die Bandmitglieder wurden wiederholt Opfer von homophober und staatlicher Gewalt. “Naked uniformed dead” ruft Rodney, und der Track zieht uns in seinen dunklen Bann zwischen Dark Electro und EBM. Er singt dabei mit sehr rauer Stimme, verzerrt das Gesicht, geht auf die Knie – er fühlt die Botschaft regelrecht mit. Einen Zwei-Meter-Riesen zerreißt es vor Begeisterung, er drängt sich nach vorn und ruft: “It’s a pleasure tonight! Borghesia! Borghesia!” Er lässt sich von Rodney abklatschen, der in dem Moment trotz der Bühne kaum größer wirkt. Anschließend stellt dieser den zweiten Mann Paul Dillon vor, “from England”, kleine Frotzeleien unter Freunden müssen eben auch mal sein. ”Satisfy me” wird von künstlerisch verpixelten Betty–Page-Aufnahmen begleitet, die einen leichten Sado-Maso-Touch vermitteln. Passend dazu fesselt sich Rodney quasi selbst mit dem Kabel. Anschließend kündigt er in einer kleinen Ansprache “Second shot” an: “This is about Alan Shepard!” Der Song setzt ein, wird jedoch nach ein paar Takten abrupt unterbrochen. Ein Aufschrei geht durch den Club, aber kein Problem. Beim Neustart geht alles glatt, und wie immer habe ich dabei eine stabile Gänsehaut. Dies ist eine Hymne für die Ewigkeit, und ich muss mir ein Tränchen im Augenwinkel wegblinzeln. Für mich ist der Song einfach magisch und katapultiert mich für den Moment aus Raum und Zeit. Passend dazu sind natürlich NASA-Aufnahmen zu sehen. Vom epischen alten Klassiker kommen wir als Kontrast zum neuen “Old boys network”, der einfach ein Gute-Laune-Song ist und mächtig Spaß macht. Natürlich singt das Publikum dabei lautstark mit. Noch lauter wird es jedoch beim folgenden Suzi–Sabotage-Cover “Nazi Goths Fuck Off”. Rodney erklärt dazu überdeutlich: „Ich hasse die AFD! Ich habe keine Liebe für die AFD!“ Bilder von Trump und dessen fanatischen Wählern werden eingeblendet, und damit es auch der Letzte wirklich versteht zusätzlich die Lyrics in Englisch und Spanisch. „Goticos Nazis, vete a la mierda!“ Statt einer Atempause heißt es: „Alright, let’s go!“, und “Moscow Idaho” setzt ein, was sofort wieder frenetisch bejubelt wird. Die Stimmung ist so gut, dass es wie auf dem Rummel „another round“ gibt. Nun erklärt Rodney: „We didn’t play this song for thirty years!“, insofern ist “Motherad” heute wirklich etwas Besonderes, das durch beeindruckende Laser in Szene gesetzt wird. Anschließend erklärt uns Rodney lächelnd, dass er und Paul sich vor 41 Jahren kennengelernt haben, als er dessen Geburtstagsfeier besucht hat. „This is the first song we ever wrote!“ Von 1985 ist “March”, aber es hämmert heftig, da es zeitgemäßer präsentiert wird. „All I want is freedom!“, ruft Rodney, und aktueller könnte es dank der Weltlage kaum sein. Doch damit kommen wir auch zum Ende. „Thank you! Dankeschön! Good night!“ Auch Paul winkt kurz, doch kann es das um 22:31 schon gewesen sein? Natürlich nicht, die Münchner*innen machen Stimmung und fordern nach Zugaben.
Und die folgt nun endlich mit dem lang ersehnten “One millionth happy customer”, das begeistert aufgenommen wird. Doch noch mehr beeindruckt mich direkt im Anschluss “The war against sleep”, bei dem Paul eine mächtige Wall of Sound aufbaut. Zuvor weist Rodney noch die Zwischenrufer in ihre Schranken: „We’ve been making music for 41 years, we wrote so many great songs! Maybe we should put it at random!“ Dennoch geht es weiter, und er fragt: „You have time for one more?“ Das wird lautstark bejaht, denn wirklich niemand möchte heute frühzeitig nach Hause. „This is a really old song: ‚Power‘!“ Solche unerwartete Perlen finde ich besonders schön, doch dabei soll es heute nicht bleiben. Nachdem er sich beim Backstage rückversichert hat, meint Rodney: „OK, we have time for one last song. This song is for this guy“, und deutet auf den Fan in der ersten Reihe, den er zu Beginn schon begrüßt hat. „He comes to every fucking show in Europe!“ Der Angesprochene zuckt nur lässig mit den Schultern, als wäre es das normalste von der Welt. Respekt, Alter! „He always asks for one song: ‚Frankie Teardrop‘, but we didn’t play it. But today we will!” Und das Stück hat es in sich. Sehr experimentell und mit Drone-Sound, Rodneys Stimme kippt teilweise mit voller Absicht. Es ist eine einzigartige Erfahrung wie ein langer Drogentrip und ein genialer Abschluss des heutigen Abends. „Thank you! You’ve been a fantastic audience! Thank you so much! See you guys!“ sind die letzten Worte an das lärmende Publikum, das heute wirklich einen ganz besonderen Abend mit einer extralangen Playlist erleben durfte. Nur kurze Zeit später steht Rodney am Merchandise bereitwillig für Autogramme und Fotos zur Verfügung, und auch bei SJÖBLOM wird es völlig verdient noch einmal voll.
Fazit: Was für ein grandioser Abend. Zwei Ausnahmebands in so einem kleinen und intimen Rahmen, wie ihn der Club bietet, erleben zu dürfen, ist für uns Fans schon ein Geschenk. SJÖBLOM sind musikalisch und menschlich eine tolle Vorband, die trotz der musikalischen Unterschiede wirklich gut zu The Cassandra Complex passen. Schade ist nur, dass das Set etwas kurz ist, und Johans schöne Stimme hätte manchmal etwas lauter abgemischt sein können. Trotzdem hoffe ich auf ein baldiges und dann längeres Wiedersehen. (Ich auch. torshammare)
Und The Cassandra Complex sind auch zu zweit live eine Macht. Dunkel, bedrohlich, episch, magisch und auch überraschend. Das ist es, was die Faszination des alten Gothic ausmacht, und die mir in der Generation Future Pop einfach verloren geht. Und offensichtlich geht es auch vielen anderen der älteren Gothics so. Umso mehr gilt es Abende wie diese auszukosten.
Setlist SJÖBLOM:
Intro Number Ten
Dead for years
Oh my heart
It’s a lie
Turn my head
Tape
The last call
Weirdo
Not a man for you
Telephone
Setlist The Cassandra Complex:
Nightfall
Why?
Hotline to Elvis
Mouth of heaven
(In search of) Penny Century
Valis
Voices
Realm of senselessness
N. U. D. (Borghesia-Cover) Naked uniformed dead
Satisfy me
Second shot
Old boys network
Nazi Goths Fuck Off (Suzi-Sabotage-Cover)
Moscow Idaho
Motherad
March
–
One millionth happy customer
The war against sleep
Power
Frankie Teardrop
Bilder: torshammare
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