The sound of noise

Seit der ersten Party im Januar 2017 ist die Dark Infection zu einer liebgewonnenen Einrichtung im Münchner Veranstaltungskalender geworden, bedient sie doch die etwas extremeren elektronischen Geschmäcker, die auf „normalen“ schwarzen Partys oft nicht oder nur sehr wenig berücksichtigt werden können. Hier darf es rumsen, wummern und scheppern, was die Anlage so hergibt, und nach Hause gegangen wird erst, wenn die Socken in den Schuhen qualmen. Dafür hat bisher immer zuverlässig Udo Wiessmann (Winterkälte, Hands) in Kombi mit DJ Mephi gesorgt, heute wird uns DJ Hells aus Leipzig (auch als Sans-Fin auf dem Hands-Label vertreten) an seiner Stelle einheizen; natürlich wieder mit DJ Mephi zusammen. Nach der letztjährigen Konzertpremiere auf der Dark Infection (Winterkälte und PAL) wird es auch heute wieder zwei Live-Acts für die nach rhythmischem Lärm ausgehungerte Meute geben: Phasenmensch + ICD-10 und Proyecto Mirage.
DSC7102Hinter Phasenmensch steckt Wolfram Bange, hinter ICD-10 Henning Hinck und Daniel Himmelreich, und die drei arbeiten schon einige Jahre sehr erfolgreich zusammen, live (zum Beispiel auf dem WGT 2015) und im Studio. Phasenmensch solo klingt oft sehr introvertiert, nachdenklich und meditativ, ICD-10 dagegen gehen ganz im Dark Techno mit starken IDM-Einflüssen auf. Das macht die Kollaboration der beiden Gruppen auch so spannend, wie zum Beispiel das gemeinsame Album Divinity/Unity/Nothingness aus dem Jahr 2017 sehr anschaulich zeigt, das mit viel Rhythmus und Beat perfekt für die Tanzfläche geeignet ist, nach innen gewandte Momente der musikalischen Einkehr aber auch nicht vernachlässigt. Am 21. Juni 2019 ist jetzt – ganz frisch zum Konzert – zum zehnjährigen Bandjubiläum das neue Phasenmensch-Album Haunted [The gentle indifference of the world] erschienen, das nach einem ersten Hördurchgang bei Bandcamp sehr schön düster und vielschichtig ausgefallen ist, sich aber eher zum aufmerksamen Hören daheim eignet als für die Tanzfläche. Daher bin ich gespannt, wie sich das Live-Set der drei Herren heute gestalten wird. Auf dem WGT vor ein paar Wochen konnten sie schon am Nachmittag das Täubchenthal füllen (ich war da leider anderweitig verbucht), was definitiv ein Qualitätsurteil ist. Heute versammeln sich nicht ganz so viele Leute vor der mit drei Leuchtkästen dekorierten Bühne (die leider nicht alle gleichzeitig leuchten, was die Wirkung der Schriftzüge – Divinity, Unity, Nothingness – etwas mindert), doch so haben alle Platz zum Tanzen, und der wird auch genutzt. Kein Wunder, die Songs – die weitgehend vom Divinity/Unity/Nothingness-Album stammen – gehen direkt in die Füße und in die Nackenwirbel und werden teilweise auch noch etwas druckvoller gespielt als auf Konserve. Nach anfänglichem Dröhnen pendelt sich der Sound auch schnell ein, sodass einer ordentlichen IDM-Dark-Techno-Party nichts mehr im Weg steht. Doch trotz des harten Wummerns lohnt es sich, öfter mal innezuhalten und Songs wie „Divinity“, „Unity“ oder „Dreamscape“ aufmerksam anzuhören, damit einem die vielen soundtechnischen Feinheiten nicht entgehen. Gleichermaßen interessant ist es, den Jungs ein bisschen auf die Finger zu schauen (was in der Hansa 39 mit seitlichem Blick auf die Bühne ja gut geht), denn es ist wirklich faszinierend, wie handgemacht die Musik eigentlich ist und wie hochkonzentriert die drei Herren Computerbildschirme, Knöpfe und das iPad im Blick haben, auf dem Daniel Himmelreich mit Fingerbewegungen sphärische Soundwelten erzeugt, die krönend über allem schweben. Genauso interessant und mitreißend ist es, die drei bei ihrer Interaktion hinter den vielen Reglern zu beobachten, wie sie selbst zur Musik abgehen und mit welchem Spaß sie bei der Sache sind. Neben den Songs vom D/U/N-Album gibt es unter anderem auch zwei Titel von Tagebuch eines Eremiten zu hören („Rotoskopie“, „Anschlag bei Nacht“) sowie mit „Discipline and trust“ einen Track vom brandneuen Album in einem Remix. Das sanftere „Nothingness“ geleitet uns schließlich aus diesem schweißtreibenden und hochenergetischen Auftritt heraus.

Setlist:
1.Intro
2. Divinity
3. Unity
4. Deep within
5. Dreamscape
6. Freedom of speech
7. Infected times
8. Restless memories
9. Sharp lines
10. Rotoskopie (Remix)
11. Complex shape
12. Discipline and trust (Remix)
13. Shape of dissolution
14. Anschlag bei Nacht
15. Nothingness

DSC7187Das nachfolgende Madrider Duo Proyecto Mirage – bestehend aus Alicia H. Willen und Francisco Planellas – macht schon seit Anfang der Neunzigerjahre die Industrial/Powernoise-Szene unsicher und hat es in dieser Zeit auf sieben Full-length-Alben gebracht; das letzte Lebenszeichen Steam tech erschien 2014. Die Band spielt eine höchst dynamische Mischung aus Rhythm’n’Noise, Industrial, Techno und ganz viel Wumms. Alicias Vocals verpassen bei vielen Songs – oft durch ein Megaphon in die Welt geschrien – dieser Mischung noch eine herrliche Aggressivität, sodass man sich voll und ganz von dieser immer höchst tanzbaren Lärmeruption mitreißen lassen kann. Auch hier lohnt es sich, den beiden immer wieder hinter den Reglern zuzuschauen, wie sie die verschiedenen Sounds erzeugen und ihnen die Freude über die Energie ins Gesicht geschrieben steht, die sie hier im Raum verbreiten. Ein bisschen voller ist es noch geworden, und wirklich alle lassen sich nur zu bereitwillig von Songs wie „The alchimist“, „Evil machine“ oder „Cold fire“ mitreißen (alle von Steam tech). Alicia – die immer wieder hinter den Lärmmaschinen hervorkommt und am Bühnenrand performt – und Francisco bieten einen repräsentativen Querschnitt durch ihr Schaffen und berücksichtigen bei der Songauswahl fast alle ihre Veröffentlichungen – das ist toll und macht definitiv Lust auf die Backlist! Zum Beispiel „The blade of God“ vom 2011er-Album Slaves of capital, das einem wirklich vorzüglich die Gehörgänge durchbläst und die Feierwerk-Wände zum Erzittern bringt. Hier vereinen sich treibende Beats, sägende Soundschleifen, hämmernde Noise-Schichten und Alicias Vocals zu einem Gesamtkunstwerk der extrem harten elektronischen Musik, wie man es sonst bei nicht vielen Bands hört. Auch der letzte Song „Big holy machine“ (von Gimme your energy) heizt noch mal gehörig ein – nicht zum ersten Mal am heutigen Abend denke ich mir, dass sich Proyecto Mirage und Atari Teenage Riot wohl gegenseitig beeinflusst haben -, sodass das Publikum völlig zu recht nach einer Zugabe verlangt, die es auch bekommt.

Setlist:
1. Start’n go
2. Forms
3. The alchimist
4. Evil machine
5. Conspiracy
6. Piano song
7. Cold fire
8. The blade of God
9. Digitos
10. Big holy machine

11. Electron
12. Automatic audience

Zwei grundsätzlich sehr unterschiedliche Acts – Phasenmensch + ICD-10 mit ihren helleren Klangfarben, dem technoideren Ansatz und Proyecto Mirage mit düster-brachialen Lärmkaskaden – haben uns Freunden der harten elektronischen Musik, für die wir sonst auf eigene Festivals fahren müssen, einen wunderbaren Abend beschert, den wir nach den Konzerten noch auf der Tanzfläche fortsetzen konnten. Vielen Dank an die Bands und DJs, an die Veranstalter und das tanzfreudige Publikum!

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