Ein großartiger Abend

Es ist Donnerstag, der 22. September, 19.15 Uhr. Auf dem Weg von der S-Bahn zum Backstage ist fast nichts los, habe ich mich geirrt? Findet vielleicht gar kein Konzert statt? Aber nein, die Kasse ist geöffnet, rein geht’s ins Werk, das Konzert von Empathy Test, Aesthetic Perfection und Mesh wurde von der Halle dorthin verlegt, also kommen trotz Oktoberfest sicherlich noch ein paar Besucher. Mesh haben mit ihrem aktuellen Album Looking Skyward die Messlatte sehr hoch angelegt, und ich bin gespannt, wie das neue Material live rüberkommen wird. Aesthetic Perfection sind immer wieder gern gesehene Gäste in München, Empathy Test spielen zum ersten Mal in der Stadt. 

DSC_9844Ich stehe ins Gespräch vertieft im seitlich durch schwarze Tücher verkleinerten Werk, plötzlich geht das Licht aus, die erste Band des Abends steht schon auf der Bühne: Empathy Test. Ganz ohne Ankündigung beginnt die aus London stammende Band ihren Gig, 30 Minuten früher als angegeben. (Erst beim Recherchieren stoße ich auf den Vermerk auf ihrer Facebookseite: „If you’re coming to any of the dates make sure you get there early as we will be on 30 mins after doors open. Check w/ the venue“.) Ihren ersten Auftritt in München bestreiten Empathy Test wohl auch deswegen vor einem kleinen Publikum, Frontman Isaac Howlett und seine zwei Mitstreiter lässt das aber anscheinend unberührt, und sie offerieren uns ihren Electronic Pop. Passend dazu läuft im Hintergrund ein interessantes Gewirr aus Rohren über die Leinwand. Die Electro-Schlagzeugerin und der Mann hinter dem Synthesizer sind konzentriert bei der Sache, Isaac beherrscht die Bühne mit vollem Körpereinsatz und großen Gesten und bezieht auch immer wieder die kleine Menge in den ersten Reihen mit ein, fordert zum Klatschen und Näherkommen auf. Auf der Setliste stehen „Demons“, „Seeing Stars“, „Last Night on Earth“, „Holding on“, „Loosing touch“ und „Here ist the Place“, honoriert wird der ganze Auftritt auch immer wieder mit anfangs verhaltenem und abschließend größerem Applaus. Die junge Combo hat sich wacker geschlagen, von Anfang an stellte sich bei mir ein Kopfnicken zur Musik ein. Empathy Test haben das Publikum gut eingestimmt, ihr sanfter, aber durchaus melancholischer und tiefgründiger Electro Pop ist gerade heraus, ohne Allüren und Schnörkel, die halbe Stunde war schnell vorbei. Der erste Auftritt hat den Abend gelungen angewärmt.

DSC_0079Die 20-minütige Pause wird zum Bühnenumbau genutzt, die Leinwand bleibt und wird auch von Aesthetic Perfection genutzt. Die herabrinnenden roten Streifen haben Anlaufschwierigkeiten, aber das nimmt das mittlerweile größere Publikum fast nicht wahr. Laut und mächtig erschallt das Intro. Vor zwei Monaten war die Band noch zu dritt in München, heute stehen nur Elliott Berlin (Synthesizer) und Daniel Graves auf der Bühne. Das Zitat von der Facebook-Seite „On this run we’re performing as a duo and have tailored our set to be a bit more … pop…“ hat sich für den ersten Teil schon bewahrheitet, das mit dem Set gilt noch abzuwarten. Zuletzt habe ich Aesthetic Perfection vor einigen Jahren auf dem WGT gesehen, damals war der Gesang aggressiver, beißender, heute wirkt die Stimme leiser, angenehmer, gefälliger, poppiger, somit wäre die zweite Ansage auch erfüllt. Man sollte sich von dieser Beschreibung aber nicht abschrecken lassen, es steckt noch genug urtypische Aesthetic Perfection im Auftritt, „Tomorrow“ hat zum Beispiel noch genug Biss, und die ersten Reihen tanzen schon hingebungsvoll. Mit „Antibody“ erweitert sich der Tanzreigen auf die ersten vier Reihen. Mich wundert es, dass dieser Track nicht mehr zündet, also ich kann mich hinter dem Mischpult definitiv dafür begeistern. Die beiden Künstler haben auf jeden Fall Spaß bei ihrem Auftritt und geben alles zur Unterhaltung der Menge. Dass man unter anderem zur Bedienung des Keyboards darauf knien muss, erschließt sich mir allerdings nicht so ganz. Daniel Graves läuft einige Kilometer während des 40-minütigen Gigs auf und ab. Das eher poppige Set mit für normale AestheticPerfection-Auftritte ungewöhnlicheren Liedern wie dem astrein gesungenen „Little Death“, aber auch die bekannten Kracher wie „Antibody“, „Never enough“ oder auch „Big bad Wolf“, ergeben eine super Show. Ich war von Anfang bis Ende am Tanzen, und zumindest mir haben Aesthetic Perfection ordentlich eingeheizt …

DSC_0175Eine kürzere Umbauphase als vorher, und dann gibt es den Headliner des Abends: Mesh – eine seit über 20 Jahren bestehende Synthie-Pop-Band aus Bristol, die auch in München eine große Fangemeinschaft ohne Altersbeschränkung hat, wie das anwesende Publikum zeigt. Das Bühnenbild ist mittlerweile größer: die Leinwand ist nach hinten gerutscht, dazugekommen sind das Drumset, zwei Keyboards und die Gitarre, in der Mitte gibt es genug Platz für den Sänger. Dazu sind vier große eiserne Vierecke aufgestellt, die später mit verschiedenen Abbildungen beleuchtet werden. Zum Intro wird filmisch ein Sternenhimmel gezeigt, den zwei Personen betrachten, eben wie es der vor kurzem erschienene Longplayer beschreibt: „Looking Skyward“. Zwischen dem rosa Licht und dem mächtig aufgedrehten Verstärker begibt sich die Band an ihre Plätze: Richard Silverthorn, der während des Abends zwischen der Gitarre und dem Keyboard hin- und herwechselt, Sean Suleman am Schlagzeug und Richard Broadhead, der Mann für das zweite Keyboard. Und dann kommt der Mann mit der Mütze, der mich vom ersten Ton an mitnimmt zu einem großen Konzertabend: Mark Hockings. Wir beide begegnen uns das erste Mal live, aber ich habe ihn seit Tagen in meinem Ohr. Schon der erste Titel aus der zuletzt veröffentlichten CD, „My Protector“, berührt und weiß das Publikum zu begeistern. Der Sound im Werk ist voller und lauter, aber dieser ergreifende Text verliert dadurch nicht seine Wirkung. Nach der kurzen Begrüßung wird die Bühne in rot-weißes Licht getaucht und die Halle von „Once surrounded“ erfüllt. Die Lichtshow wird übrigens den ganzen Abend lang beeindruckend sein, was erheblich zum positiven Gesamteindruck beiträgt. Mittlerweile tanzt auch die letzte Reihe, die Interaktion zwischen Publikum und Band ist perfekt, es wird geklatscht, gefeiert, mitgesungen, einfach eine tolle Stimmung. Die Show fährt auf einem hohen Niveau, das süchtig machen kann. Mark Hockings ist eine coole Socke am Mikro, die lange Bühnenerfahrung zeigt Wirkung. Er verschwindet mitunter in den dunkleren Hintergrund, entzieht sich dem Publikum, singt dort weiter und überlässt das Augenmerk Richard Silverthorn, der Herr seiner Instrumente ist, aber immer auch als Motivator des Publikums agiert. Sehenswert sind auch die Videoeinspielungen, wie zum Beispiel die Achterbahnfahrt, die einen mitzieht. „Tactile“ kommt live noch besser rüber, ich geb’s zu, ich habe einen Kloß im Hals, in dem Text steckt einfach wahnsinnig viel Gefühl. Als Nächstes kündigt Hockings den allerersten Track von Mesh an: „Waste of Time“, bildlich wird es untermalt durch alte Backstagepässe von verschiedenen Touren und Festivals, was eine beeindruckende Strecke an gemeinsamen Banderlebnissen darstellt. Mit technischen Anfangsschwierigkeiten beginnt „The Traps we made“, man hört den Gesang nicht. Der routinierte Sänger lässt sich nichts anmerken, schon bald ist die Stimme wieder da. Mit „Kill your Darlings“ bebt und tanzt die Menge noch mehr. Eine sensationelle Version von „Taken for granted“, bei der das Publikum den Refrain noch lange mitsingt, beschließt den regulären Teil des Abends um etwa 23 Uhr, aber es ist klar, wenn die Briten schon mal in München sind, dann muss doch da noch mehr kommen. „Before this World ends“ setzt ähnlich wie am Beginn des Mesh-Auftritts an, „Born to lie“ ist härtere Synthpop-Spielart, die Begeisterung bewegt sich immer weiter nach oben. „From this Height“ bildet den Abschluss, danach geht das Licht an, der Abend ist vorbei.
Ich habe selten eine so routinierte und doch mitreißende Band im Bereich Synthpop erlebt. Die Texte und Melodien bieten viele Möglichkeiten zum Feiern, Tanzen oder auch zum Mitsingen, Nachdenken, Abgleiten … Ich habe den gesamten Abend genossen, mir ist heiß!

Ein Synthpop-Abend der besonderen Art: Empathy Test, die Newbies, die noch etwas an Erfahrung dazugewinnen müssen, aber auf einem guten Weg sind. Aesthetic Perfection, die schon vielerorts bekannte und beliebte Band, mit einer weicheren Spielart, die ihnen gut steht, die aber auch ihre ureigene Art nicht verleugnen. Mesh, das Highlight des Abends, die Erfahrenen, die aber immer noch mit Herz und Verstand bei der Sache sind und ein Publikum zu begeistern wissen.

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Setlist Mesh:
Intro (End of the World)
My Protector
Once surrounded
Paper thin
Hold it together
Little Missile
Circles
The Ride
Tactile
Waste of Time
The Traps we made
Last one standing
To be alive
Leave you nothing
Kill your Darlings
Runway
Just leave us alone
The Fixer
Friends like these
Taken for granted
Zugabe: Before this world ends – Born to lie – From this Height

Bilder: torshammare

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