Dahoam

„Dahoam“ – das ist nicht nur der Titel des neuen Waldgeflüster-Albums, dessen Release an diesem Abend gefeiert wird, sondern auch das Gefühl, das sich sofort einstellt, als ich die Einlasskontrolle hinter mir habe und unter das Vordach des Backstage trete. Der Konzertabend mit Bald Anders, Karg, Waldgeflüster und Harakiri for the Sky ist mit über 500 Tickets ausverkauft, und dementsprechend groß ist der Trubel vor dem Werk. Einige Konzertbesucher*innen scheinen auch extra angereist zu sein, und das ist großartig. Dank der gelockerten Corona-Regularien konnten noch mal neue Tickets verkauft werden, die Vorschriften für den Innenraum haben sich auch geändert bzw. verbessert. Die Biertischgarnituren stehen um den Pit herum, die frühere Werkstatt ist jetzt auch Werk, hier hängt eine Leinwand, auf der das Konzert gestreamt wird (und parallel im Internet – super Sache! Hier könnt ihr das Konzert noch mal anschauen). Im Pit vor der Bühne darf man sich wieder wie früher stapeln, muss allerdings Maske tragen, und es herrscht ein Getränkeverbot. Ich kann gut mit diesen Regeln leben, die übrigen Anwesenden wohl auch, einem gepflegten Metal-Abend steht also nichts mehr im Weg.

DSC_7845Als um halb sieben Bald Anders die Bühne betreten, steht mir tatsächlich fast niemand im Weg, die Publikumsneugier hält sich noch sehr in Grenzen. Den meisten dürfte die Truppe um die früheren Lunar-Aurora-Mitglieder Benjamin und Constantin König wenig bis nichts sagen, denn auch mit Bald Anders halten sich die Musiker ebenso bedeckt wie damals – sogar noch mehr. Zwei Alben haben Bald Anders mittlerweile herausgebracht, Sammler (2017) und Spiel (2018), die beide die verschiedensten musikalischen Einflüsse miteinander verbinden. Prog-Rock-Elemente, Folk, irgendwie auch Metal und Rock, alles dramatisch, aber auch märchen- bis albtraumhaft umgesetzt – keine ganz leichte Kost und definitiv kein Black Metal. Unvorhersehbarkeit ist Programm, alles könnte schon bald wieder ganz anders sein. Genauso abwechslungsreich und mystisch gestaltet sich auch der Auftritt, der quasi ohne Ansagen auskommt, die Musiker sind hinter Gesichtsmasken verborgen, vor allem die aufwändige venezianische von Sänger Izzy setzt einen tollen optischen Akzent. Beide Alben werden bedacht, aber auch bisher unveröffentlichtes (?) Material gespielt. Stimmlich werden alle Register gezogen, etwa beim schön aggressiven „Safari outer space“, die Songs von dramatischen Gesten begleitet. In Verbindung mit der düsteren Bühnenbeleuchtung und dem Mikrofonständer in Form einer Eule, deren Augen leuchten, macht das ordentlich was her, auch wenn Gitarre, Bass und Schlagzeug dadurch ein wenig unauffällig bleiben. Doch nur optisch – musikalisch ist hier nichts unauffällig. Aber eben auch für den frühen Abend und die allgemeinen Erwartungen vielleicht etwas zu anders. Das Publikum klatscht artig Beifall, hier und da werden auch die ersten Nackenmuskeln trainiert, aber insgesamt sind die Reaktionen verhalten. „Drei Wünsche“ geht mit einem schnellen, leidenschaftlichen Zwischenteil gut nach vorne und ist damit etwas leichter zugänglich, hier kommt ein bisschen mehr Stimmung auf. Nach vierzig Minuten ist der Auftritt zu Ende, der mir persönlich gut gefallen hat, gerade wegen der Unvorhersehbarkeit der Stücke und der musikalischen Vielfalt.

DSC_8038Nach einer halbstündigen Umbaupause, die fast alle draußen unter dem Vordach verbringen, füllt sich der Raum vor der Bühne merklich, denn jetzt stehen Karg auf dem Programm, das Soloprojekt von Harakiri for the Sky-Sänger J.J. Karg haben im August 2020 ein wunderschönes Konzert im Backstage gespielt (da noch mit Biertischgarnituren bis vor die Bühne und strengem Sitzgebot), ich freue mich sehr, sie so bald schon wiederzusehen. Lange, raumgreifende Songs, abwechslungsreiche Songstrukturen, verspielte Elemente, harsche (Post Black) Metal-Eruptionen – bestes Futter, um sich von der Musik mitreißen zu lassen und die Umgebung vollständig zu vergessen. Schon bald nach den ersten Takten von „Alaska“ (vom aktuellen Album Traktat) bewegen sich die ersten Köpfe, immer mehr lassen sich forttragen von Melancholie, Intensität, Aggression und ganz, ganz viel Weite. Und auch vom Bier, denn zwischen den Songs erschallt immer wieder ein inbrünstiges „Die Krüge hoch!“ von der Seite, was für Komik und Gelächter sorgt. Und natürlich gereckte Kaltgetränke und viele, viele Pommesgabeln. Das Publikum kennt und liebt die Songs, vor allem bei „Petrichor“ (vom Album Dornenvögel) ist der Jubel groß und die Luft vor der Bühne sehr haarig. Das Geschehen auf der Bühne ist weitgehend in Dunkelblau und Dunkelrot getaucht, sprich, man sieht nicht viel von dem, was J.J. und seine Band so treiben, aber hier zählt auch das Versenken in die Musik. Der fünfzigminütige Auftritt vergeht viel zu schnell, nach den letzten Tönen von „Tod, wo bleibt dein Frieden“ muss man (oder ich zumindest) erst mal tief durchatmen und in die Umgebung zurückfinden. Eine wunderschöne, harsch-melancholische Reise, die mit viel Beifall honoriert wird.

DSC_8170Nach einer weiteren halbstündigen Umbaupause bzw. Luftschnappen stehen die Mottogeber des Abends auf der Bühne, Waldgeflüster feiern ja den Release ihres neuen Albums Dahoam. Leider verzögert sich die physische Veröffentlichung des Langspielers, doch ein paar Exemplare sind beim Konzert zu erwerben, und auf Bandcamp ist das Album auch schon erhältlich. Sieben Songs umfasst Dahoam, die alle im bayrischen Dialekt geschrieben sind und das Dahoam behandeln, die Heimat, die Orte, an denen Waldgeflüster und vor allem Sänger/Mastermind Winterherz verwurzelt sind. Diese Gedanken und Gefühle sind in rasenden Black Metal verpackt, der immer wieder von Melodien und Klargesang aufgelockert wird sowie auch von akustischen Elementen. Viel Atmosphäre also, und es fällt einem – falls man selbst einen Bezug zu Bayern hat, aber auch sonst – nicht schwer, sich sofort heimisch in den Songs von Dahoam zu fühlen. Auch die Bühnendeko, die unter anderem aus zwei mit allerlei geschnitzten Anhängern bestückten Baumskeletten an den Bühnenrändern besteht, trägt dazu bei. Besonders freut mich der wohl jüngste anwesende Konzertgast, ein etwa acht-/neunjähriges Kind, das direkt vorne an der Bühne mehr ausrastet als das gesamte Werk zusammen. Und das ist eine Leistung, denn die Stimmung ist überall euphorisch. Haare werden geschüttelt, Fäuste und Pommesgabeln gereckt und Songs wie „Im Ebersberger Forst“ oder das ältere Stück „Traumschänder“ gnadenlos abgefeiert. Noch ein bisschen lauter wird es, als bei „Am Tatzelwurm“ J.J. auf die Bühne kommt und wie auf Dahoam seinen Part singt. Stimmungsvoll und energiegeladen – was sich auch in der Beleuchtung widerspiegelt – geht es weiter, und nach einem „Blick aufn Kaiser“ und „Weltenwanderer“ sind diese siebzig Minuten plötzlich auch schon wieder vorbei. Dahoam ist ein schönes, seelenvolles Album geworden, die Live-Präsentation rundum gelungen.

DSC_8420Ganz schön viele Eindrücke sind das bis jetzt, drei auf ihre Weise sehr intensive Bands, da kommt die Verschnaufpause im Freien gerade recht. Zu gemütlich darf man es sich aber nicht machen, denn der Special Headliner des Abends steht ja noch aus, Harakiri for the Sky. Die Österreicher haben gerade erst ihr fünftes Album Maere veröffentlicht, das hervorragende Kritiken eingeheimst hat. Im Fach atmosphärischer Post Black Metal ist die Band nicht ohne Grund ganz weit vorn dabei und beliebt, und wer seinen Post Black Metal gern mit einem ordentlichen Schuss Trostlosigkeit, Schmerz und Verzweiflung zu sich nimmt, ist hier erst recht nicht verkehrt. Das Publikum stapelt und drängt sich vor der Bühne, was nach den letzten anderthalb Jahren erst einmal ein seltsamer Anblick ist, aber alle tragen brav Maske, und die Begeisterung der Fans ist einfach wunderschön. „Sing for the damage we’ve done“ von Maere läutet den Abriss ein, im Pit sieht man ein wogendes Haarmeer, und das ist definitiv kein Albtraum. Nach „Funeral dreams“ vom Album III: Trauma liegt der Fokus wieder auf der aktuellen Veröffentlichung, das Energielevel auf der Bühne ist mindestens genauso hoch wie im Publikum. J.J. steht keine Sekunde still (außer er kniet mal), Gitarrist und Bassist tauschen ständig Plätze, während Matthias Sollak majestätisch ein Solo nach dem anderen auf seiner Gitarre raushaut. Ich muss gestehen, bisher konnten mich Harakiri for the Sky nie so packen wie Karg, aber heute erwischen sie mich. „Calling the rain“ bildet mit inbrünstig gezeigtem gestrecktem Mittelfinger und dem noch inbrünstiger gebrüllten „Fuck this life“ den Abschluss des regulären Sets, doch dann gibt es doch noch eine Zugabe, „Song to say goodbye“ von Placebo holt noch mal alle Kraftreserven aus der Meute im Pit. Und dann ist die Band plötzlich still und leise verschwunden, der Konzertabend zu Ende.

Dahoam – genau das habe ich an diesem Abend empfunden. Daheim im Backstage, daheim auf einem Konzert, daheim als Fotografin und Reviewschreiberin, daheim bei euphorisch bejubelten Bands. „Vielen, vielen Dank, München, es tut gut, euch zu sehen“, hat Waldgeflüsters Winterherz das Publikum begrüßt, und das lässt sich auf den ganzen Abend erstrecken. Es hat gut getan, all die Menschen zu sehen, vier Bands, die das hohe Niveau von Anfang bis Ende gehalten haben. Es hat gut getan, mal wieder in einer (immer rücksichtsvollen) Meute vor der Bühne zu stehen. Danke an die beteiligten Bands, das Backstage und MRW Concerts für diesen denkwürdigen alpenländischen Abend.

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