The sore in my soul, the mark in my heart
Die Electro Götter von Front 242 laden zum Tanz und haben darüberhinaus mit der Black Out Tour ihren Abschied von der Live-Bühne angekündigt. Sie sind die Gründungsväter der Electronic Body Music und nicht nur das: Ohne den Einfluss von Front 242 als Wegbereiter ist die komplette spätere Tekkno-Szene und Rave-Bewegung undenkbar. Was für uns jedoch wichtiger ist, quasi seit Anbeginn der Zeit (1981) sind Front 242 ein wichtiger und elementarer Bestandteil der schwarzen Szene, und trotz aller musikalischen Zersplitterung derselben immer ein bedeutender Fixpunkt gewesen. Insofern geht hier wirklich eine Ära zuende. Ein letztes Mal die Hits live hören, einfach dabei sein, das wollen sich viele nicht nehmen lassen, und so vermeldet das Backstage völlig zu Recht „ausverkauft“.
Im Vorprogramm stellen sie Rein vor, eine junge und talentierte Elektro-Künstlerin aus Schweden mit bürgerlichem Namen Joanna Reinikainen, deren Vater Paul Reinikainen als Produzent und Songwriter ebenfalls kein Unbekannter ist. Das wird also ein spannender Abend.
Schon zwanzig Minuten vor der offiziellen Einlasszeit ist die Schlange bereits dreißig Meter lang und wächst zügig. Dafür wird auch pünktlich geöffnet, und es geht ungewöhnlich schnell voran. Drinnen sichern wir uns einen strategisch guten Standplatz, einige Bekannte gilt es zu begrüßen, und dann harren wir der Dinge. Das Werk füllt sich kontinuierlich und ist bereits voll und warm, als pünktlich um 20 Uhr das Intro von Rein erklingt. Eine Person im Hintergrund bedient den Maschinenpark, und schließlich betritt Rein die dunkle Bühne, während die harten Beats von „Transmutation“ erklingen. Auf der Bühnenleinwand laufen dazu Videospielhintergrundanimationen. Rein trägt eine große Sonnenbrille, hohe Stiefel, Hotpants, Lederhandschuhe und Bomberjacke, alles ganz in schwarz. Außerdem bewegt sie sich leicht abgehackt, was bei dem Licht einen coolen Robotereffekt erzeugt. Weiter geht es mit „Accelerate“, bevor das Publikum nach dem Beifall begrüßt wird: „München, something? Vielen Dank! I haven’t been here before. So my name is Rein, I’m from Stockholm.“ Das folgende „Reincarnate“ besitzt einen Front-242-Beat, und fast schon automatisch gerät das Publikum in Bewegung. Jetzt gibt es extra Applaus, der mit „Vielen Dank!“ entgegengenommen wird. Alle sind warmgetanzt, und auch Rein zieht ihre Jacke aus. Nun überrascht „Reactivity“ mit einem richtig harten Tekkno-Bass, das sind locker 120 BPM. So ganz will der Funke aber nicht überspringen, und so wird es mit „Dystopia“ erst einmal ein wenig ruhiger.
Dem fügt sich auch „Bruises“ zunächst, steigert jedoch im Lauf des Songs die Intensität und lässt die aufgebaute Spannung mit dem Drop platzen. „München! Munich! Woohoo!“ Die Menge tanzt ebenso wie die Menschen auf den Live-Aufnahmen, die auf der Leinwand im Hintergrund gezeigt werden. Nach „How’s it gonna be?“ heißt es schließlich: „Are you ready to tie up?“ Damit folgt „Refuse the pressure“, das auf der Leinwand mit eindrücklichlichen Bildern von martialischen Riot-Cops und brennenden Barrikaden untermalt wird. Zum Abschluss wird kämpferisch die Faust nach oben gestreckt. Derart wachgerüttelt knallt „Bodyhammer“ um so mehr rein, das richtig abgeht. Auch Rein tanzt wild auf der Bühne. Entsprechend laut ist der Applaus, und scheinbar etwas überwältigt bedankt sie sich überschwenglich mit „Vielen, vielen, vielen, vielen, vielen Dank!“ Nach kurzer Atempause fügt sie hinzu: „OK, this is our last song! Please do a moshpit for me!“ Und tatsächlich bildet sich zu „There’s no authority but yourself“ ein kleiner Kreis, in dem es rund geht. Zum Abschied wird noch mal gewunken, und damit endet die Show nach etwas kurz wirkenden 37 Minuten. Trotzdem hat Rein heute mit Sicherheit neue Fans gefunden und das Publikum in beste Feierstimmung gebracht. Überhaupt gibt es im typischerweise männlich-martialischen EBM-Bereich noch viel zu wenig Frauen auf der Bühne, und da ist Rein einfach ein Lichtblick und Vorbild zugleich.
Die Umbaupause fällt kurz aus, viel muss ja auch nicht umgestellt werden. Im Wesentlichen werden die Drumkits in Position gerückt und der Synthesizer aufgestellt. Um 20:55 ertönt ein blubberndes Intro, begleitet von einem lautstarken „Zwei! Vier! Zwei!“-Sprechchor aus dem Publikum. Dann erlischt das Saallicht, und der Maschinen-Rhythmus von „W.Y.H.I.W.Y.G.“ setzt ein. Die Mitglieder von Front 242 sind dabei erst einmal nur im Hintergrund auf der Leinwand zu sehen, wie sie auf das Publikum zuschreiten. Im Prinzip ist noch nichts passiert, und dennoch habe ich eine erste Gänsehaut wegen der erwartungsvollen Atmosphäre. Erst als sie den Bildrahmen durchschritten haben, betreten sie tatsächlich die Bühne, natürlich euphorisch bejubelt. Von links nach rechts sind da Tim Kroker an den E-Drums, Sänger Richard 23 (eigentlich Jonckheere), Sänger Jean-Luc De Meyer und Patrick Codenys am Synthesizer. Sie tragen einheitlich schwarze Jacken und Kampfhosen und natürlich große Sonnenbrillen. „We’re coming down for you!“ verstehe ich textlich statt dem eigentlichen „They’re“, und sofort gerät die Menge in Bewegung. Kroker zieht gleich mal die zu warme Jacke aus, und weiter geht es springend mit „Moldavia“, und die vordere Hälfte der Menge springt begeistert mit. Der Song geht im Mix nahtlos in „Neurobashing“ über. „Pull up, pull down, yeah!“ Wir singen mit, und die Party ist im vollen Gange. Jetzt folgt auch noch „Body to body“, und der Moshpit gerät ins Brodeln. Auf der Leinwand heizen Fetisch-Bilder von Brüsten, Netzen und Ketten das Geschehen an, und ich habe die nächste Gänsehaut, weil ich mich emotional in die frühen 90er versetzt fühle. „Thank you so much!“, ruft Richard 23 in den Jubel nach diesem ersten Hitfeuerwerk, was De Meyer noch einmal wiederholt.
„Don’t crash“ wird mit U-Boot-Szenen untermalt, und „U-Men“ wird von japanischen Masken und Kriegern begleitet. Bei „Generator“ zeigt sich, dass auch der weniger im Mittelpunkt stehende Codenys eine gute Zeit hat, weil er nicht nur energisch hinter seinen Synthesizer mit dem Kopf wippt, sondern auch mitsingt. „This is a song called ‚Quite unusual‘, meint De Meyer. Richard 23 trommelt dazu auf dem zweiten Drumkit, um Kroker, der ohnehin schon beständig alles gibt, zu unterstützen und dem Ganzen noch mehr Druck zu verleihen. Wir verlieren uns im Rhythmus und im Tanz, und er lässt seine Emotionen raus: „Dankeschön! I feel so fucking alive!“ und „München!“ Im Anschluss wird „Punish your machine“ nur zu dritt bestritten, bei dem nicht weniger getanzt wird. Nun wendet sich der zurückgekehrte De Meyer wieder ans Publikum: „OK, this is a new song. It’s called ‚Hide and seek'“ (ein UnderViewer Cover). Damit wird uns eine kleine Atempause gegönnt.
Anschließend wird die Bühne in rotes Licht getaucht, denn es folgt „Red team“. Richard 23 entledigt sich seiner Sonnenbrille, und im Hintergrund werden beeindruckende Bilder vom verfallenden Busludscha-Denkmal in Bulgarien gezeigt. „Take one“ werden wir aufgefordert, und in „Masterhit“ singen wir „give me some more“. Das wird mit einem „Dankeschön!“ quittiert, und wir werden mit „Tragedy >For You<“ belohnt. Sofort sind unzählige Handys oben, um den Moment festzuhalten, der trotz der Hitze wieder Gänsehaut auslöst. „The sore in my soul, the mark in my heart“, das lässt sich heute durchaus auch auf den Abschied beziehen. Und wer nicht filmt, lässt die Emotionen im Pit vor der Bühne raus. Das folgende „Fix it“ wird von Richard 23 allein bestritten, der heute wirklich voller Energie ist. „Dankeschön! This is our last song!“ Kaum wieder komplett, ertönt auch schon das berühmte Sample „Hey, poor!“ aus „Welcome to paradise“. Klar, jetzt geht es wieder rund, und wirklich alle rufen mit: „No, no, no… no sex until marriage!“ Gegen Ende heißt es von Richard 23: „Raise your fists! You’re running on dope!“ Die Euphorie kann er wohl nicht so recht glauben. „Thank you! Make some noise!“, verabschiedet sich auch De Meyer.
Und dann ist es aus? No way, erst wird gejubelt und gepfiffen, und dann fallen alle in den „Zwei! Vier! Zwei!“-Sprechchor ein. Lange werden wir nicht hingehalten, dann kehren Front 242 zurück. „Thank you so much!“, bedankt sich Richard 23, De Meyer ist noch hinten geblieben. „Happiness (More angels)“ ist die erste Nummer, zu der sich wieder ein amtlicher Moshpit bildet, und die anderen tanzen einfach auf den Rängen. „A-A-A-Alright!“ Mit dem aufbrandenden Jubel kehrt auch De Meyer zurück, und dann heißt es „Jump! Jump!“ Die zwei hüpfen auf der Bühne und die Menge davor, das Ganze mündet in den Überhit „Headhunter v1.0“. Klar, dass hier alle mit erhobenen Fingern mitzählen. I – II – III – IIII You catch the man! „Thank you, München!“ De Meyer nimmt sogar seine Brille ab. Alle sind verschwitzt, aber glücklich und hatten offensichtlich einen Riesenspaß. Gemeinsam verabschieden sie sich am Bühnenrand und gehen ab, es ist nun 22:17 Uhr. Plötzlich erlischt das Licht noch einmal, vom Band wird „Work 242“ eingespielt. Dazu gibt es auf der Leinwand eine berührende Diashow mit Fotos und Momentaufnahmen aus der langen Karriere. Völlig unerwartet stehen Front 242 plötzlich wieder da, alle ganz in schwarz und mit Sturmhauben, im Dunkeln. Das wird noch einmal ordentlich bejubelt, aber leider gibt es nach einem letzten Winken doch keine weitere Zugabe mehr. Wir bleiben etwas ratlos zurück und müssen erst einmal durchschnaufen. Beim Merchandise geht es nun verständlicherweise rund, und auf mich wartet die Bahn. Die kalte Nachtluft holt mich jäh wieder in die Realität zurück, während das „Zwei! Vier! Zwei!“ in meinem Hinterkopf nachhallt.
Fazit: Rein legt einen insgesamt sehr coolen und mitreißenden Auftritt hin und präsentiert sich live härter und tekknoider, als ihre Musik auf den Alben klingt. Das ist bei Live-Konzerten zum einen oft der Fall, zum anderen ist dies heute vielleicht auch der Versuch, sich von den großen Vorbildern mehr abzugrenzen und moderner zu klingen. Denn der Einfluss von Front 242 ist in ihrer Musik nicht zu verleugnen, auch wenn Nitzer Ebb dabei noch deutlicher hervortreten. Dabei hat Rein zwar diesen Oldschool-EBM-Vibe, verkörpert aber eindeutig einen modernen Twist. Den hat sie heute noch einmal deutlich verstärkt und bei ihrem ersten Besuch in München einen hervorragenden Eindruck hinterlassen, was völlig verdient mit viel Action im Publikum und lautem Applaus belohnt wurde. Dennoch hätte ich persönlich mir manchmal etwas weniger Wumms gewünscht.
Front 242 sind heute Abend wieder einmal über jeden Zweifel erhaben und werden ihrem Legenden-Status mehr als gerecht. Die Show ist standesgemäß ausverkauft und die Stimmung einfach großartig, sowohl vor als auch auf der Bühne. Eigentlich unvorstellbar, dass Front 242 keine Lust mehr haben, denn sie präsentieren sich in der Form ihres Lebens und versprühen auch im fortgeschrittenen Alter eine wahnsinnige Energie, die sich zwangsläufig auch aufs Publikum überträgt. Da wird mitgesungen, mitgestampft und in kleinen Moshpits abgegangen. Soll es das wirklich gewesen sein? Das Gefühl ist völlig surreal, und so außer Atem will sich hinterher keine rechte Wehmut einstellen. Mein Verstand weigert sich, das zu glauben. Wie heißt es so schön: Manchmal kommen sie wieder. Wollen wir es hoffen.
Setlist Rein:
Transmutation
Accelerate
Reincarnate
Reactivity
Dystopia
Bruises
How’s it gonna be?
Refuse the pressure
Bodyhammer
There’s no authority but yourself
Setlist Front 242:
W.Y.H.I.W.Y.G.
Moldavia
Neurobashing
Body to body
Don’t crash
U-Men
Generator
Quite unusual
Punish your machine
Hide and seek (UnderViewer Cover)
Red team
Take one
Masterhit
Tragedy >For You<
Fix it
Welcome to paradise
–
Happiness (More angels)
Headhunter v1.0
Work 242 (vom Band)
Bilder: torshammare
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