img_8294Der zweite Festivaltag beginnt bedeutend entspannter und freundlicher. Die Sonne scheint, das ganze Gelände kann genutzt werden, beide Außenbühnen sind ab Mittag in Betrieb ([:SITD:] eröffnen schon um halb elf den Tag in der Halle), die Händler- und Futtermeile kann endlich in Augenschein genommen werden. Schon fühlt man sich viel eher wie auf einem Festival und nicht nur auf einem langen Konzerttag, und die gestern noch deprimierende Betonwüste um die Arena herum erscheint schon viel freundlicher.

img_8102Meine erste Band des Tages ist um halb zwölf in der Halle Patenbrigade: Wolff, die ich bisher noch nie live gesehen habe. Die Show ist wirklich einzigartig, unterhaltsam, durchgeknallt, voller skurriler Details, und die Musik macht ja sowieso Laune. Wer die Bauarbeitertruppe noch nie gesehen hat, sollte das schleunigst nachholen. Leider muss ich bei „Der Brigadier trinkt Bier“ (inklusive Bierleitung von der Bühne in die ersten Reihen, beaufsichtigt und betrieben von Dr. Mark Benecke) nach draußen zur Green Stage – die sehr schön auf einer Wiese liegt -, um die vom Samstag verlegten Diorama anzuschauen. Zwölf Uhr ist normalerweise für diese wunderbare Band viel zu früh, es haben sich aber schon erfreulich viele Leute versammelt. Torben Wendt und seine Mitstreiter sind guter Dinge, und so wird img_8172dieser Auftritt unter strahlendem Sonnenschein ein voller Erfolg. „Why“ und „Hope“ eröffnen das Set sehr stimmungsvoll, ein Song vom neuen Album macht schon mal mächtig Lust auf mehr, und die großen Hits „Synthesize me“ (in einer etwas abgeänderten und sehr intensiven Version), „Ignite“ und „Advance“ fehlen glücklicherweise auch nicht. Auch wenn drei „meiner“ Bands vom Samstag nicht umgelegt werden konnten – Diorama entschädigen dann doch für die verpassten Highlights, und ich bin froh, dass ich sie wenigstens noch sehen konnte. Gänsehaut im prallen Sonnenschein.
Etwas rüpelhafter und chaotischer wird es danach mit Pokémon Reaktor, die wie eine verrückte Schulklasse auf Speed wirken – und genauso klingt die Musik auch. Mal brachiales Metalgeschredder und –geschrei, mal eine elektronische Wand, wild auf der Bühne herumhüpfende Musiker, Chaos pur. Ich finde es ganz witzig, sehe mir img_8265aber nicht den gesamten Auftritt an, da in der Halle bald die schwedische Synthie-Legende S.P.O.C.K. auftreten soll. Auch als Nicht-Trekkie kann man bei den Schweden Spaß haben, allerdings wird das Star-Trek-Konzept auf Dauer ein klein wenig eintönig. „E.T. Phone Home“, „Dr. McCoy“, „Astrogirl“, „Not human“ und natürlich „Never trust a Klingon“ sind aber absolut unterhaltsam, die drei Schweden auf der Bühne sehr sympathisch, und der Vulkaniergruß zum Abschluss fehlt auch nicht. Passt.
img_8286In der Halle geht es weiter mit Das Ich, die ich vor ein paar Monaten schon auf dem DMF gesehen habe. Doch es ist so schön, dass Stefan Ackermann von Konzert zu Konzert lebendiger und fitter wirkt, dass ich mir die Szene-Urgesteine gern noch mal anschaue. Tatsächlich kommt das Material in der großen Lanxess Arena noch mal beeindruckender rüber, als ich es bisher kannte, sehr viel brachialer. „Kannibale“ und „Kain und Abel“ strapazieren meine Nackenmuskeln, „Kindgott“ und „Gottes Tod“ sind eindringlicher als sonst. Einzig die gesangliche Unterstützung einer langjährigen Freundin der Band auf der Bühne ist für meine Ohren weniger geglückt, das hätte jetzt nicht sein müssen.
Vor der Zugabe geht es allerdings schon zurück an die frische Luft, kurz bei Qntal vorbeischauen, die gewohnt bezaubernd sind, mich aber an diesem Nachmittag ein bisschen auf dem falschen Fuß erwischen, außerdem will img_8325ich einen guten Platz an der Orbit Stage bei den Dänen Euzen ergattern. Ich verziehe mich also schnell wieder, nehme das immer wunderbare „Palästinalied“ im Ohr mit und stehe dann auch tatsächlich gleich darauf in der ersten Reihe bei Euzen. Die Dänen gehören zu den Exoten auf dem Festival, richtig schwarz sind sie nicht, und auch sonst passen sie mit ihrem Prog-Folk-Synth-Gemisch in keine Genreschublade. Was sie umso spannender macht, und mit einer Frau wie der stimmgewaltigen, elfenhaften Norwegerin Maria Franz am Mikro kann auch gar nichts schiefgehen. Der Fokus der Songauswahl liegt auf dem aktuellen Album Phobia, das mit Titeln wie „Mind“, „Wasted“, „Phobia“ oder „Mirage“ den hervorragenden Vorgängern in nichts nachsteht. Die Klassiker „Judged by“ und „The great Escape“ dürfen natürlich auch nicht fehlen, und gerade bei letzterem spielen sich die fünf Musiker in einen wahren Rausch. Das Publikum ist klein, aber fein und besteht aus vielen offensichtlichen Fans, sodass der Auftritt auf der sehr übersichtlichen Orbit Stage etwas von einem Familientreffen hat. Ganz großes Kino bzw. Zeit für eine Zugabe („Place for Friends“) ist auch noch, und trotzdem ist das alles viel zu schnell vorbei. Danke, Amphi, dass ihr diese Ausnahmeband geholt habt!
img_8497Ich bleibe gleich an der Orbit Stage, denn die nachfolgenden Folk Noir lohnen sich live auch sehr. Faun kann mich mittlerweile leider gar nicht mehr vom Hocker reißen, wegen mir könnte sich Oliver S. Tyr rein auf die weitaus frischer, leidenschaftlicher und echter anhörende Zweitband konzentrieren. Hier stehen vier VollblutmusikerInnen (mit neuer Sängerin/Gitarristin Livy Pear) auf der Bühne, die einen auf eine wilde Reise durch Americana („Dear Misery“), schwedische Polska („Polska“), ruhige Indie-Melodien („The sinking Year“) und das Repertoire von Livy Pears Soloaktivitäten („Autumn Tree“, ganz bezaubernd) mitnehmen. „Under the Surface“ wird zum ersten Mal live präsentiert und macht auch mächtig Eindruck. Besonders schön: Bei der Polska springen und tanzen die Mitglieder von Euzen durchs Publikum und sehen sich den weiteren Auftritt an.
img_8521Schlag auf Schlag geht es weiter mit den Highlights: Der Schwede Henric de la Cour steht nun auf dem Programm, auf den ich mich ganz besonders gefreut habe. Der charismatische Hüne ist mir schon seit seiner Zeit als Bandleader von Yvonne ein Begriff, doch erst jetzt als Solokünstler kann er zeigen, was er draufhat. Düster ist die Grundstimmung, depressiv, melancholisch, und doch wunderschön bei Perlen wie „Dracula“, „Shark“ oder „My Machine“. Der seit seiner Kindheit an Mukoviszidose leidende Sänger ist mit dem Gedanken an den Tod, der seine Songs sowie sein Bühnenoutfit durchzieht, bestens vertraut. Gepaart mit seiner wunderschönen Stimme und seinen mitreißenden (oder zum Weinen schönen) Synthie-Melodien ergibt das eine ganz eigene Mischung, die man – auch wegen seiner intensiven Performance – auf jeden Fall live erleben sollte. Ein echter Ausnahmekünstler, eine große Persönlichkeit – auch hier ein großer Dank ans Amphi für diesen Auftritt!
Nach The Mission (Wayne Hussey ist leider sehr krank, wollte aber nicht absagen und hat sich daher zwei Co-Sänger zur Unterstützung auf die Bühne geholt. Der Auftritt ist aber immer noch sehr professionell und solide, die Halle aber leider relativ leer) gilt es, sich rasch einen guten Platz für den Headliner VNV Nation zu sichern. Es wird höllenvoll werden, da auf den Außenbühnen bereits alle Konzerte beendet sind, und VNV bedeutet einfach fantastische Unterhaltung. Und so kommt es auch. Es wird im Innenraum und auf den unteren Rängen so voll, dass die Security zwischendurch Einlassstop verhängt (und dadurch im Übereifer oft Leute nicht zurücklässt, die nur kurz auf die Toilette gegangen waren), und selbst auf den doch recht abgelegenen obersten img_8574Rängen verteilen sich die Leute. Ronan ist wie immer bestens aufgelegt, sichtlich beeindruckt von der Kulisse in der Lanxess Arena („Ich wollte schon immer mal wissen, wie ein Depeche-Mode-Konzert aussieht“) und hat die Menge fest im Griff. Auf seine Anweisung hin gehen diverse La-Ola-Wellen durch die Halle, im Innenraum (und auch bald schon auf den Rängen) wird ab dem ersten Ton von „Space and Time“ getanzt. Mein persönliches Lieblingslied „Darkangel“ sowie „Standing“ versöhnen mich mit der für meinen Geschmack etwas zu modernen Setlist, bei „Genesis“ und „Control“ hält es wirklich niemanden mehr auf den Sitzen, bei „Illusions“ habe sicher nicht nur ich Tränen in den Augen, und beim absoluten Höhepunkt „Nova“ herrscht eine wirklich unbeschreibliche Stimmung in der Arena. Feuerzeuge, Handytaschenlampen – alles, was leuchtet, verwandelt die Halle in ein Sternenmeer, das sogar Ronan die Sprache verschlägt. Eine einmalige Atmosphäre und ein unvergessliches Konzert. Der übliche Abschluss „Perpetual“ kann da eigentlich nicht mehr mithalten.
Etwas abrupt geht danach das Amphi 2015 zu Ende, es gibt keine Aftershowparty, weshalb alle schnell zu den Parkplätzen, der Bahn oder zu Fuß ins Hotel eilen.

Fazit: Was lässt sich nun nach zwei Tagen (oder eher eineinhalb) über das Amphi, den Umgang mit der Sturmsituation und die neue Location sagen? Die Meinungen im Netz sind gespalten und oft sehr negativ, ich sehe es etwas positiver.
Ja, die Lanxess Arena hat wirklich gar keinen Charme und hat vor allem am Samstag wie eine unpersönliche Bahnhofshalle gewirkt. Auch die Betonwüste um die Halle herum ist wenig ansprechend, wird aber durch die zwei Außenbühnen und die lange Händler- und Futtermeile doch etwas aufgelockert. Wenn hier noch mehr Sitzplätze geschaffen werden, kann man sich damit definitiv anfreunden. Die Green Stage auf der (leicht abschüssigen) Wiese verbreitet ordentlich Festivalcharakter, und die Orbit Stage bietet Platz für die kleinen, feinen Bands. Die Arena selbst kann mit einem für so eine Halle erstaunlich guten Sound aufwarten, die Klosituation ist himmlisch, auch auf Getränke oder Essen muss man wegen vieler Stände selten lange warten. Die vielen Sitzplätze in der Halle sind auch nicht zu verachten, denn wie sagte Ansager Oliver Klein so schön vor VNV Nation: „Die Szene wird nicht jünger“. Auch die Klimatisierung wird in zukünftigen Jahren bei der sonst üblichen Hitzeschlacht Ende Juli helfen. Ja, der Beach Club und der Blick auf den Rhein fehlen gewaltig. Aber ich denke, man kann sich mit der Zeit das Gelände schon noch gemütlicher machen. Den Bands hat es gefallen, und dass vor allem am Samstag die kleineren Gruppen auf der großen Bühne vor einer beeindruckenden Zuschauerzahl spielen konnten, war doch eine schöne Sache.
Viele vermissen das Tanzbrunnengelände und wollen es zurück – das ist a) nicht möglich, weil das Staatenhaus umgebaut wird, und b) vermisse ich ganz bestimmt nicht die unerträgliche Luft im Staatenhaus, den grottigen Sound und die jedes Jahr mehr herunterfallende Decke. Auch die Toilettensituation war für Frauen unerträglich, vom Essen und den Getränkepreisen ganz zu schweigen. Auf dem neuen Gelände war die Essensauswahl zumindest schon mal vielfältiger, die Getränkepreise waren immerhin beim Wasser etwas humaner. Und noch ein wichtiger Punkt: Ohne die Halle hätte der Amphi-Samstag komplett abgesagt werden müssen.

Verbesserungswürdig ist allerdings die Security bzw. die Kommunikation zu dieser, teilweise waren die Herren und Damen auch sehr, sehr unfreundlich, kamen offensichtlich mit uns Schwarzen nicht zurecht, fanden uns doof und konnten auch mit der großen Menge an Menschen nicht umgehen. Auch die Einlasskontrollen waren vor allem am Sonntag untypisch hart und ruppig, das muss auf einem so grundfriedlichen Festival wie dem Amphi nicht sein. Auch die Ausgabe von Plastikbechern ohne Pfand ist eigentlich eine Unverschämtheit, nach wenigen Stunden watete man schon durch Müllberge, die sich durch das Pfand zumindest ein wenig verbessern ließen. Unpraktisch sind solche Trinkbecher natürlich auch, Plastikflaschen wären hier viel besser. Vielleicht lässt sich da im nächsten Jahr ja noch etwas machen.
Generell könnte man die Wege und Bühnen besser ausschildern, auch nach zwei Tagen hatte ich keine nennenswerte Orientierung auf dem Gelände und in der Halle, und die zweite Händlermeile in der sogenannten Magistrale fand man auch nur durch großen Zufall.

Für alle weiteren Negativpunkte und Diskussionen verweise ich auf die Amphi-Facebook-Seiten – für mich persönlich war es trotz Einschränkungen und doch etwas unzureichender Informationspolitik am Samstag ein schönes Festival mit tollen Bands, und ich werde mich in Zukunft mit dem Gelände arrangieren können. Auch dieses Jahr war das Line-up beeindruckend, alles kann man nie sehen … gespielt und für Begeisterung gesorgt haben aber unter anderem noch: The Creepshow, Stahlmann, Combichrist, Oomph!, Zeraphine, Welle:Erdball, Samsas Traum, Diary of Dreams. Lebanon Hanover, The Devil and the Universe, Neuroticfish und die anderen ausgefallenen Bands spielen dann hoffentlich nächstes Jahr.

Danke, Amphi, für zwei insgesamt schöne Tage, für Euzen und Henric de la Cour, für eine Wahnsinnsstimmung bei VNV Nation und dass ihr das Festival trotz Sturm am Laufen gehalten habt. Bis nächstes Jahr!

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