Recap

the-dead-south-all_davide_gostoliBremen, Schlachthof, Ende März, kurz vor acht Uhr abends; erster Termin der Europatour von The Dead South. Ein paar Stunden nach dem Interview bin ich wieder im Venue, diesmal brav mit Eintrittskarte und mit sehr vielen anderen Leuten. Der Tour-Auftakt – wie die allermeisten der anstehenden Shows – ist ausverkauft. Trotzdem werden alle etwas sehen, dank der raumhohen Zuschauertribüne; ich bleibe allerdings unten vor der Bühne, da tanzt es sich doch besser als auf steilen Stufen.
Ausverkauft heißt im Schlachthof ca. 1000 Leute und wirklich voll: Nach der ersten Vorband gibt es eine Zwischenansage vom Venue, man möge doch etwas zusammenrücken, damit alle in die Halle passen, die noch im Gang feststecken. Machen wir – es wird kuschelig, die Luft bleibt aber atembar und die Stimmung entspannt. Zusammengekommen ist, was jedenfalls bei The Dead South zusammengehört: Leute jeden Alters (geschätzt zwischen 15 und um die 80), alles von „straight“ bis „irgendwie alternativ“, mit oder ohne Folk-Hintergrund, Hipster, Mods, Metalheads und dunkelbunte Seelen, natürlich auch ein gutes Kontingent stiltreu gekleideter Fans (schwarze Hose, weißes Hemd, schwarze Hosenträger, schwarze Krawatte nach Wahl), das sich jeder weiteren Zuordnung entzieht. Die ist heute Abend aber sowieso egal. Und bei aller Liebe zu den jeweils eigenen Szenen und Communities: Genau dieses „wurscht, wer du bist und ob wir sonst irgendetwas gemeinsam haben, wir mögen dieselbe Band“, die von jedem Dünkel befreite, grundfreundliche Haltung aller beteiligten Bands und des Publikums zueinander machen für mich einen Teil des Charmes eines TDS-Konzerts aus. Möge das in Zeiten größeren Erfolgs so bleiben, es ist selten genug.
Wie schon auf der GB-Tour sind auch auf dem Kontinent gleich zwei Vorbands mit dabei, mir sind beide noch unbekannt, das ist ja immer ein bisschen spannend. Es ist, wie gesagt, eng, den einmal ergatterten Platz zu verlassen wäre keine gute Idee – „hier stehe ich, ich kann nicht anders“? Nein, wie ich sehr schnell feststelle: Ich will auch nicht anders.

Danny_OlliverErster Akt: Danny Olliver kommt ebenfalls aus Regina, SK und hat The Dead South schon früher auf Tour begleitet. Musik nur mit Stimme, akustischer Gitarre und sporadischem Kickdrum-Einsatz, ruhig, wunderschön – und ja, das funktioniert auch und gerade als Auftakt eines anschließend durchfeierten Abends. Die allererste Ansage geht noch etwas im allgemeinen Geräuschpegel unter, aber bei den ersten Takten von „For Hannah“ kehrt einigermaßen Ruhe ein, in den ersten Reihen wird umgehend mitgewippt. Danny Ollivers Musik ist unprätentiös und virtuos, Singer/Songwriter mit einer sehr starken Stimme und ohne Gejammer, ein bisschen Folk, ein bisschen Blues. Dass die Gitarre nicht die eigene ist – die ist von Kanada aus woandershin geflogen als ihr Eigentümer und noch nicht wieder aufgetaucht –, macht sich zumindest für die Zuhörer nicht bemerkbar. Die Stimmung in der Halle groovt sich angenehm ein, und insgesamt sechs Songs reichen dem Publikum, um von freundlichem Applaus zu vehementen Jubelrufen überzugehen. Das hätte ruhig auch ein bisschen länger so gehen dürfen, aber nach einer knappen halben Stunde sind wir schon beim letzten Stück angekommen: ein Instrumental, ohne Titel, laut Ansage seit etwa zehn Jahren in Arbeit, noch immer unvollendet – und ein absolutes Meisterwerk von ineinander verflochtenen Melodien, schwindelerregenden Zupfmustern und gleichzeitiger Percussion auf dem Korpus der Gitarre, so unwirklich schön, dass man die immense Spieltechnik, die es erfordert, darüber fast vergisst. Bremen ist endgültig hingerissen, ich auch. Es ist doch eigentlich gar nicht meine Musikrichtung, aber in das dieser Tage erschienene Album For all my former lovers werde ich auf alle Fälle reinhören.

Zweiter Akt, und „Es ist doch eigentlich gar nicht meine Musikrichtung“ zum Zweiten: Matthew Logan Vasquez kommt aus Texas und bietet mit seiner Band Kontrastprogramm zum Eintanzen – sie spielen, kurz gesagt, Rock. Rock‘n‘rolligen, aus allen Traditionen schöpfenden (Southern) Rock, ganz klassisch mit Gitarre, Bass, Drums, einer Lead- und zwei Background-Stimmen. Aber wie sie ihn spielen! Schnell, vor allem, die ersten drei Songs werden ohne jede Pause rausgehauen; später kommen die Ansagen mit einer Geschwindigkeit, die kaum genug Zeit zum Jubeln oder Lachen lässt. Ich bekomme zugegeben von  Drums und Bass optisch recht wenig mit, denn das charmante One-Man-Rock‘n‘Roll-Cabaret von Matthew Logan Vasquez selber macht Wegsehen schwer. Der Frontman sprudelt über die Bühne und um sein Mikro herum, flirtet, zitiert Rockposen, um sie gleich wieder lachend zu brechen – das einhändige Gitarrensolo (die andere Hand wird zum Biertrinken gebraucht) darf nicht fehlen. Die Songs sind beinahe zwingend tanzbar, und jedes Mal, wenn aus dem Mit- doch mal ein Wegnicken zu werden droht, kommt ein überraschendes Lick, ein Break, ein kleiner Salto im Gesang, und schon ist selbst der rockentfremdetste Zuhörer (also ich) wieder bei der Sache. Oder man biegt mal rasch in „Ace of spades“ ab, steigert sich kurz ins Falsetto und kehrt dann hastenichgesehen zum eigenen Song zurück. Um mich herum ist man begeistert, und ja – ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt einen Rock-Gig so uneingeschränkt genießbar und vor allem so extrem unterhaltsam fand. Der letzte Longplayer vor dem gerade erschienenen Light‘n up trägt den Titel Matthew Logan Vasquez does what he wants; merkt man, und er macht das sehr gut.

Dritter Akt! Nach einer gut genutzten Umbaupause von moderaten 20 Minuten erlischt das Licht über Zuschauern, Bühne und Backdrop (tote Bäume samt Geier in Grautönen, Frohsinn!). Noch von Band erklingt „Delirium“, ein etwas außerweltliches Banjo- und Pedal-Steel-Instrumental und das übliche Show-Intro – und nach diesem obligatorischen, kleinen, dunklen Konzertmoment vor der gerade noch leeren Bühne, in dem immer niemand so recht zu atmen wagt außer denen, die schon mal vorsorglich schreien, ist die Band dann da.
Wie immer stehen („stehen“) die vier Musiker nebeneinander auf der Bühne – Scott Pringle und Nate Hilts an Mandoline und Gitarre in der Mitte, Bluegrass-typisch etwas mehr mit der Rhythmik befasst, während Danny Kenyon am Cello und Colton Crawford am Banjo häufig die melodische und harmonische Klammer bilden. Die Percussion geht zu Fuß und kommt per Kickdrum, Stiefel-Tambourin und schlicht Stampfen auf dem Bühnenboden dazu. Leadsänger im engeren Sinne gibt es keinen, oder drei – außer Colton, der sich auf Background-Vocals beschränkt, übernimmt jeder mal den Lead, wenn der stimmliche Schwerpunkt auch klar bei Nate liegt.
Wenn vier sehr, sehr versierte Musiker neben- und miteinander mit allem Musik machen, was Instrumente, Körper und die Bühne selbst gleichzeitig hergeben, obendrein so gut aufeinander eingespielt sind, dass Abstimmung und Timing mit „tight“ viel zu blass beschrieben sind, und grundsätzlich alle Instrumente gleich weit vorne im Sound sind und den Song gleichberechtigt tragen, dann mag das zum Teil die spezielle Energie erklären, die der Band vollkommen zu Recht nachgesagt wird. Der Rest ist, glaube ich, schiere, kompromisslose Begeisterung. Wir wurden von Danny Olliver gewarnt, die ersten paar Meter vor der Bühne stünden wir da, wo später der Musikerschweiß fliegen würde – ein gutes Bild für den Einsatz, mit dem die vier live zu Werke gehen; geschwitzt wird aber schnell auch vor der Bühne. Das dringend notwendige Tanzen ist zwar nicht ganz einfach, wegen der allgemeinen Enge ist man doch sehr auf die Vertikale beschränkt und trotz gegenseitiger Rücksichtnahme bleiben Kollisionen mit Absätzen, Ellbogen und Haaren nicht aus (merke: leichtere Headbanging-Zusammenstöße kann man auch mit pastellfarben gekleideten Nebentänzern haben) – macht aber nichts, besser ein bisschen gerempelt als nicht getanzt.
Getanzt wird durchgängig ab „Recap“, dem Opener, den allermeisten im Publikum gut bekannt. Eine gewisse Kenntnis der Songstruktur empfiehlt sich grundsätzlich, um mitspielen zu können, denn The Dead South nehmen das mit den „Breaks“ gerne wörtlich. Dann ist mitten im Song plötzlich Pause, für einen beliebig langen Moment passiert genau nichts, und während die einen sich schon am Songende angekommen glauben, halten die anderen tapfer den bestimmt gleich folgenden nächsten Ton – oder die Luft an – oder ihre Nachbarn mit einem informativen „Das geht noch weiter!“ von verfrühtem Beifall zurück. Allein bei „Recap“ gibt es drei solcher Breaks, und nein, es unterbricht nicht den Fluss, das plötzliche energische Wiedereinsetzen funktioniert in etwa wie ein Schubs in die Niagarafälle oder ein freundlicher Tritt in den Hintern. Wenn man den überhaupt noch bräuchte angesichts der ungeheuren Energie, die die vier auf der Bühne freisetzen.
the-dead-south-scott_davide_gostoliEnergie ist das eine, atmosphärische Dichte das andere; The Dead South können beides. Wenn „Recap“ samt seines Protagonisten ein finsteres Ende nimmt und die letzte einsame Cellonote in einem langen Vibrato ihr Leben lässt, während das Licht vor der Bühne flackernd wie ein Lagerfeuer erlischt und es Nacht wird in der Halle, kann es einem schon zum ersten Mal kalt den Rücken runterlaufen, egal was die Temperaturen tatsächlich so machen.
Überhaupt, das Licht! Die schlichte, aber wirkungsvolle Idee mit den vier dimmbaren Leuchtfadenglühbirnen vor der Bühne ist Teil eines exzellent abgestimmten Konzepts, das von Zeit zu Zeit massiv Atmosphäre zaubert – es wabert tiefrot, wenn im Song entsprechend Blut fließt, oder es schweben während eines verwickelten Intros kleine Lichtschlangen durch den Zuschauerraum –, um sich dann wieder ganz hinter die Musiker zurückzunehmen. Alles passt, nichts stört, und genau dasselbe lässt sich über den exzellenten Sound sagen. Man muss sich innerlich fast ein wenig zurücklehnen, um das technische Drumherum und die Leistung der Crew angemessen zu würdigen, so gut greift hier alles ineinander, ohne je von der Musik abzulenken. Honig.
The Dead South spielen sich im Lauf der nächsten guten eineinhalb Stunden einmal quer durch ihre beiden schon veröffentlichten Alben, was nicht heißt, dass sie genau das spielen würden, was dort zu hören ist. Kein Song, der live nicht irgendwo variiert würde, seien es ein paar auf den Punkt gebrachte zusätzliche Noten, ein geänderter Rhythmus oder ein Intro, bei dem man erst einmal herausfinden muss, wo es überhaupt hingeht.
Und es gibt auch einige der neuen Songs zu hören; im Publikum sind sie teilweise schon von Live-Mitschnitten bekannt und die Freude bei der Ansage groß. „The snake man“ ist ein schneller, komplexer Song mit reichlich Breaks und Rhythmuswechseln und Läufen auf Banjo und Mandoline, für die mir wirklich kein angemessenes Adjektiv mehr einfällt, auch nachdem Herzschlag und Atmung wieder eingesetzt haben. „Black lung“ bietet jeder der drei Lead-Stimmen in je einer Strophe gebührenden Raum, und „Spaghetti“ ist, wie der Name schon sagt, großes Italo-Western-Kino, wunderschön und beinahe behutsam gespielt; das kurze Banjo-Solo pustet kalten Wind über eine desolate Prärie und am (selbstverständlich desaströsen) Ende habe ich, glaube ich, was ins Auge bekommen. Dazu kommt noch ein zumindest mir völlig neuer Song, der auch nicht angesagt wird – wie auch immer er heißt, ich freu mich drauf, ihn öfter zu hören. Das alles verheißt fürs nächste Album nur Gutes – wie lange noch bis Oktober?
Gegen Ende dürfen es dann wieder die Hits sein – wobei das mit den „Hits“ hier so eine Sache ist. Die meisten im Raum dürften die Band, wie ich, erst seit dem Erfolg von „In hell I’ll be in good company“ kennen. Dieser Song ist auf dem ersten Longplayer zu finden, das Video dazu ging aber viral, als das zweite Album schon veröffentlicht war, so dass man als Neuberufener gleich mal zwei Alben und eine EP zu entdecken hatte – jede Menge Material, um seine persönlichen Präferenzen zu verteilen. Trotzdem, einige Songs sind bekannter als andere, und das hat nicht viel mit Single-Auskopplungen und nicht einmal unbedingt mit gut gemachten Videos zu tun. „Boots“, die offizielle Single von Illusion & doubt und mit einem sehr unterhaltsamen Video ausgestattet, kennt man freilich, wenn man irgendetwas außer „In hell“ kennt, aber bei „Bastard son“, gegen Ende des ersten Albums zu finden, sind Begeisterung und Textsicherheit im Publikum beinahe noch größer. Das selbstbetitelte „The dead south“, extrem schnell und grade heraus, wird zumindest vor der Bühne gebührend mitgefeiert – aber klar, alles gar nichts gegen „In hell“, als es schließlich kommt und von der Zuschauertribüne herab mehrhundertstimmig mitgesungen und mitgepfiffen wird (und das ist gar nicht mal so einfach!). Selber freue ich mich fast noch ein bisschen mehr über „Deep when the river‘s high“ – Abriss auf der Bühne; wie im Interview erwähnt, der Song ist heavy, und wer am Ende nicht headbangt, hat keine Ohren.

Nach „Honey you“, einem geradezu atypisch ungebrochenen Liebeslied, ist dann kurz Schluss, aber man lässt sich nicht lange um eine Zugabe bitten. „Banjo odyssey“ fehlt ja noch! Das muss natürlich noch kommen – samt eines fabelhaft beklemmenden Zwischenteils, der sich hauptsächlich zwischen Banjo und dem im kältesten Abgrund der Hölle klagenden Cello abspielt, während die Bühne in blutrotes Dämmer abtaucht und die Temperatur in der Halle gefühlt noch einmal um etwa dreißig Grad absackt. Diesen Part gibt es in der Album-Version schon, aber was live inzwischen daraus entstanden ist, ist eine völlig andere Hausnummer. Huh.
Dann kippt alles um, man taucht mit einem energischen Einsatz in den Refrain wieder auf und ans Licht. Wer auch noch mal auftaucht, ist Danny Olliver, der nach der Danksagungsrunde der Band an Venue, Crew, Publikum und überhaupt alle die Vorstellung der Bandmitglieder übernimmt. Traditionell bekommt dabei jeder seinen Burn ab und das Publikum was zu lachen, vermutlich, damit man über das nahe Konzertende nicht zu traurig wird.

Beim abschließenden „Travellin‘ man“ – upbeat und schneller als sein Schatten – geben alle noch einmal radikal alles, vor allem Scott setzt bei den Lead Vocals noch mal einen drauf. Wo sie diese Steigerung noch hernehmen nach einer Show, bei der man durchgängig den Eindruck von hundertprozentigem Einsatz hatte, man weiß es nicht. Der Schweiß fließt endgültig in Strömen, vermutlich fliegt er tatsächlich meterweit, wir würden es nicht mehr merken, klatschnass sind wir selber – und dann ist wirklich Schluss.

Für diesmal.

Wie lange jetzt noch bis Oktober?

 

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Bilder von Davide Gostoli und Danny Olliver, vielen Dank!

Setlist Danny Olliver:
For Hannah
Josephine
Wind
Speak to you
Dead end road
*untitled*

Setlist Matthew Logan Vasquez:
Sierra blanca
Trailer park
Ghostwriters
Heat
Red fish
Halfcolt
Blue eyes
Same

Setlist The Dead South:
Delirium (intro)
The recap
Dead man‘s isle
Every man needs a chew
Boots
The good lord
Spaghetti
Snake man
Smoochin‘ in the ditch
Miss Mary
Time for crawlin‘
Black lung
*another new one*
Bastard son
The dead south
In hell I‘ll be in good company
Deep when the river‘s high
Honey you

Banjo odyssey
Travellin‘ man

(2299)