Eine emotionale Achterbahnfahrt

 

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Klangstabil – Maurizio Blanco und Boris May aus Süddeutschland – habe ich schon etliche Male gesehen, aber immer wenn ich von einem bevorstehenden Auftritt lese, reizt es mich sie erneut anzuhören und zu sehen. Nürnberg ist ja nun nicht so weit von München entfernt, und man kann das Konzert mit einem Stadtbummel und dem weltberühmten Weihnachtsmarkt verbinden. Bloß, wo, verdammt nochmal, ist das „Cult“? Öffentlich ist es nicht so leicht zu erreichen, mich verunsichert, dass kein Konzertvolk mit mir in der U-Bahn ist, und an der Haltestelle „Stadtgrenze“ muss ich mich erst einmal zurechtfinden. Der Weg geht endlos an einer Straße entlang, am Orientierungspunkt MöMax in eine Gasse rein und dann noch einmal an Industrieanlagen einen baumgesäumten Weg parallel der befahrenen Straße entlang. Ein Alptraum für Frauen – wie gut, dass ich eine liebe männliche Begleitung habe.

Das „Cult“ stellt sich als überaus nette Location heraus, liebes Personal am Eingang und an der Bar, schöne Toiletten, gepflegte Getränke, Sitzgelegenheiten, hübsche Tanzfläche und eine etwas erhöhte, kleine, gut einsehbare Bühne. Das Geheimnis, warum wir fast alleine dorthin unterwegs waren, ist schnell gelüftet: Fast jeder kommt mit dem Auto oder Taxi. Das allmählich eintrudelnde Publikum trägt durchaus das eine oder andere Klangstabil-T-Shirt, „I create, you destroy“ zum Beispiel. Mit diesem Song beginnt auch gegen 21 Uhr ihr Konzert.

Boris May hat abgenommen, das war mein erster Gedanke. Und: Heute zieht er seine Schuhe nicht aus. Ansonsten: Boris stellt schnell Kontakt zum Publikum her. „I create, you destroy, you made me the Shadowboy“ mit so viel Inbrunst, Gestik und nicht kitschig wirkender Dramatik auf der kahlen Bühne, heute kommen mir die Zwei emotionaler denn je vor. Ich dachte ursprünglich, naja, vielleicht wollen sie auf eine neue CD aufmerksam machen, denn im süddeutschen Raum haben sie eigentlich erst vor ein paar Monaten gespielt. Aber schnell merke ich, nein, das hier, heute wird irgendwie anders. Es kommen gleich die wundervollen Hits wie „Pay with Friendship“ – Boris fragt uns, wie es uns geht, ihm geht es gut, wieder gut – „Math and Emotion“, „You may start“, „Push yourself“ und „Lauf, lauf“. Wieder nimmt er den Dialog zum Publikum auf. Es stellt sich heraus, dass er sich in diesem Jahr von seiner Frau getrennt hat, dass es ihm sehr schlecht ging, und dass ihn die Liebe und Freundschaft zu anderen Leuten aufgefangen und gerettet hat. Er begrüßt persönlich einige Konzertgäste, die er zu seinen Freunden zählt, zu engen Freunden wie Maurizio im Hintergrund, und er erinnert uns daran, im Glück seine Freunde nicht zu vergessen, sie ruhig mal in den Arm zu nehmen, denn sie sind für dich da, wenn du sie brauchst. Sie sind lebenswichtig und wollen auch spüren, dass du sie liebst. Ich habe in diesem Jahr auch eine emotionale Achterbahnfahrt gemacht, und ich muss kurz aus Empathie weinen. Boris ruft uns dazu auf, egal wie alt wir sind, weiterhin auf Konzerte zu gehen, nicht auf der Couch sitzen zu bleiben, einfach immer weiter rauszugehen, das sei sehr wichtig. Ich bin froh, hier zu sein, bei ihm, dem minimalistischen Mann auf der kargen Bühne, nur mit einer Laserlightshow und etwas Nebel unterstützt, und mit der musikalischen und emotionalen Unterstützung von Maurizio hinter ihm. Dieser singt ein Lied auf italienisch, so toll! Nach fast zwei Stunden ist das Konzert zu Ende, die Männer gehen nach hinten, das Publikum klatscht und ruft „Zugabe“, doch ich bin nicht beunruhigt, ich WEISS, was noch kommt. Und als Boris alleine auf der Bühne erscheint und auch alleine bleibt, ist es soweit: „Und warum lieben Sie Anke?“. Jeder kennt die ersten Töne, die ersten Wörter von „Vertraut“, das Publikum ist begeistert und ergriffen. Wie man nur so viel Stimmung, Leidenschaft und Schmerz darstellen kann, alleine auf einer Bühne, hinter ein paar Gerätschaften, ohne zu singen! Aber Boris kann‘s und tut‘s. Und dann ist es vorbei. Klangstabil haben im Kreis von Freunden einen Abend gehabt und gegeben, für Boris war dieses Bad in einer Menge von Freunden wohl eine Art Therapie. Vielleicht gibt es zu dieser Trennung kein eigenes Lied, aber ich werde mich immer an dieses ganz besondere Konzert erinnern.

Bild: Archiv (Konzert 18.06.16, Feierwerk, München)

 

 

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