Das alternative Oktoberfest oder ein Abend mit Sweden’s Finest
Diese Septemberwoche meint es wirklich gut mit mir. Nachdem ich am Montag schon bei den wunderbaren Pristine aus Norwegen ausflippen durfte (Review hier), stehen heute meine schwedischen Doom-Rock-Lieblinge von Avatarium auf dem Programm, in die ich mich vor zwei Jahren bei ihrem Konzert im Backstage rettungslos verliebt habe (Review hier). Mittlerweile haben sie ihr drittes, hochgelobtes Album Halos and hurricanes veröffentlicht, das etwas rockiger, aber nicht weniger sensationell ausgefallen ist (Rezension hier), haben ein paar Personalwechsel und viele, viele Livekonzerte hinter sich. Ich bin ein wenig verwundert, dass die Band wieder im kuscheligen Backstage Club spielt und nicht in der Halle, aber andererseits ist man dann viel näher dran, was ja immer ein Geschenk ist. Also, Hurricanes and halos noch mal auf die Ohren gepackt und ab ins Backstage!
Der Club füllt sich eher langsam, was sicher an der Wiesnzeit liegt und daran, dass die Vorband The Slayerking aus Griechenland in Deutschland noch nicht sehr bekannt ist. Die Schützlinge von Avatarium-Gitarrist Marcus Jidell, der gerade das zweite Album der Band, Tetragrammaton, produziert hat, spielen tonnenschweren Düsterdoom mit mystischer Note, der auf Konserve schon mal ansprechend klang. Pünktlich betritt das Trio um Sänger/Bassist Efthimis die schmucklose Bühne und legt mit seinem Set los. Nicht nur ich, sondern auch das restliche Publikum braucht ein paar Songs, um mit der Musik warmzuwerden, anfangs klingt alles noch recht eintönig, wenn auch nicht schlecht. Sänger Efthimis versteckt das Gesicht hinter einem Hut mit dichtem Fransenvorhang, was mich etwas irritiert – hier hätte ich ein einheitliches Bühnenoutfit der Musiker besser gefunden. Aber das ist letztendlich Nebensache, die Musik soll ja zählen. Ab „Black mother of the lord of the night“ vom Debütalbum Sanatana Dharma kommt auch etwas mehr Schwung in die Sache, auch wenn die Musiker beharrlich nach unten auf ihre Instrumente blicken. Die Ansagen sind sehr mystisch gehalten und mit grabestiefer Stimme vorgetragen, was das Verständnis der Erläuterungen zu den Songs etwas erschwert. Das Publikum hält weiterhin Sicherheitsabstand zur Bühne, nickt und klatscht aber immerhin eifrig bei den nächsten Songs. Mit dem Abschlusstrack „Southern gate of the sun“ präsentiert die Band ihren meiner Meinung nach bisher stärksten Song, der wirklich gut aufgebaut ist und ordentlich in die Nackenmuskeln geht. Wenn das neue Material in die Richtung geht, wäre das klasse, und wenn die Band noch ein bisschen an der sehr statischen Bühnenshow arbeitet, wird das noch eine runde Sache. Im Auge behalten lohnt sich aber auf jeden Fall.
Nach der Umbaupause, in der unter anderem das Drumkit von Lars Sköld hinter einer Kunststoffwand verschwindet, ist es dann zum Glück bald so weit, Avatarium entern die Bühne und werden mit frenetischem Applaus und Jubel empfangen. Jennie-Ann Smith, im bodenlangen, roten Seidenmantel, begrüßt uns auf Deutsch und kommt zusammen mit den anderen aus dem Grinsen überhaupt nicht mehr heraus. Heute sind wohl wirklich nur beinharte Fans anwesend, das merkt man jetzt schon, das verspricht ein wunderschöner Abend zu werden. Los geht’s mit „Into the fire/into the storm“ vom aktuellen Album, ein perfekter, dynamischer Opener, bevor es mit „Pearls and coffins“ ein wenig ruhiger und melancholischer wird. Die erste richtige Attacke auf die Nackenmuskulatur wird uns mit „A kiss (from the end of the world)“ verabreicht, kein richtiger Doom mehr, aber immer noch schwer genug. „Starless sleep“, ebenfalls vom aktuellen Album, bringt wieder etwas mehr Tempo rein und zeigt die rockige Seite der Band, die ihr ganz hervorragend steht. Obwohl der Song ungewöhnlich eingängig ist, gehört er mittlerweile zu meinen Lieblingstracks der Band. Geile Riffs, eine fiese Ohrwurmmelodie, ein betörender Keyboardteppich … passt! Das nachfolgende „Run killer run“ vom Vorgängeralbum The girl with the raven mask bringt noch einmal etwas Härte ins Programm, bevor etwas ganz Besonderes ansteht: Jennie-Ann und Marcus tragen allein und mit Akustikgitarre das Traditional „In my time of dying“ (wurde unter anderem auch von Led Zeppelin vertont) vor, und da wächst nicht nur mir eine zentimeterdicke Gänsehaut. Jennie-Anns einzigartige Stimme, Marcus‘ großartiges Gitarrenspiel, der bluesige Song – man vergisst wirklich Zeit und Raum um sich. Dementsprechend groß und donnernd ist der Jubel – wie überhaupt nach jedem Lied. Spätestens jetzt liegt jeder Jennie-Ann und den anderen zu Füßen. Und der Abend wird noch besser! „Medusa child“, einer der experimentellsten Tracks auf dem neuen Album, wirkt live genauso wahnsinnig und toll wie auf Platte, und sogar die Kinderstimme wird mittels eines tragbaren Kassettenrecorders eingespielt, den Jennie-Ann kurzerhand ans Mikro hält.
Nachdem die Frontfrau die Bandmitglieder vorgestellt hat, darunter die Neuzugänge an Bass und Keyboard, Mats Rydström und Rickard Nilsson, peitscht „The girl with the raven mask“ durch den kleinen Club, der Übersong vom gleichnamigen Vorgängeralbum. Bei „Deep well“ können wir etwas Atem schöpfen, der aber gleich wieder gebraucht wird, denn Jennie-Ann bittet uns charmant, doch mitzusingen. Machen wir, dieser Frau kann man eh nichts abschlagen. Nach dem rasanten „The sky at the bottom of the sea“ wird es langsam, hart und tief: „Mother, are there horses on the moon?“ – genau, das Doom-Meisterwerk „Moonhorse“, das perfekt zwischen brachialen und zarten Passagen wechselt und nach dem man eigentlich restlos glücklich ist. Aber nein, gehen lassen wollen wir die Band noch nicht, da fehlen doch noch ein paar Songs! Man lässt sich auch nicht lange bitten, sondern kommt noch mal für zwei Lieder zurück: „When breath turns to air“, das Jennie-Ann mit zauberhaften, anrührenden Jazz-Vocals singt (ein erneuter Beweis, dass sie meiner Meinung nach die beste Sängerin im ganzen Rockuniversum ist) sowie den Klassiker vom ersten Album, „Avatarium“, bei dem noch mal Nackenwirbel knacken und die Wände des Clubs erzittern. Wahnsinn!
Dieser Abend war etwas ganz Besonderes, und mir fehlen tatsächlich ausnahmsweise ein bisschen die Worte, diese Atmosphäre angemessen zu beschreiben. Jennie-Anns phänomenale Stimme, Marcus‘ Gitarrenkünste, die langjährige Erfahrung aller Musiker und die großen Fortschritte als Live-Band in dieser Konstellation sind das eine. Mich hat vor allem aber wieder begeistert, wie ungeheuer freundlich und ungekünstelt die Band ist, wie echt die immense Freude über die Publikumsreaktionen wirkt, und wie groß die Leidenschaft ist für das, was sie tun. Letztendlich ist es natürlich immer Geschmackssache, aber diese Band macht einfach alles richtig. Wer sie auf dieser Tour verpasst hat, darf sich in den Hintern beißen, denn jetzt gibt’s erst mal eine längere Tourpause.
für The Slayerking, für Avatarium
Setlist Avatarium:
1. Into the fire/into the storm
2. Pearls and coffins
3. A kiss (from the end of the world)
4. The starless sleep
5. Run killer run
6. In my time of dying
7. Medusa child
8. Girl with the raven mask
9. Deep well
10. The sky at the bottom of the sea
11. Moonhorse
12. When breath turns to air
13. Avatarium
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