Pimmel Fotze Hodensack!

P1100603Isolation Berlin sind endlich wieder in München zu Gast, nachdem es zur Lesung im Rahmen des Literaturfestes letztes Jahr zumindest im Anschluss ein paar akustische Lieder gab. Mit ihrer Show im Feierwerk vor zwei Jahren (Link zum Bericht) katapultierten sich Isolation Berlin für mich ad hoc an die unangefochtene Spitze aktueller deutschsprachiger Bands. Heute präsentieren sie ihr aktuelles Album Vergifte dich (Link zur Review).
Als Vorband sind die Staatsakt-Labelkollegen Swutscher am Start. Klingt merkwürdig? Ist es auch, denn Swutscher ist ein Begriff aus dem Plattdeutschen und bezeichnet Herumtreiber und liederlich lebende Menschen. Die Mitglieder, die Gitarristen Sven Stellmach und Velvet Bein, Sänger und Gitarrist Sascha Utech, Drummer Martin Herberg, Bassist Mike Krumhorn und Keyboarder Sebastian Genzink, stammen aus dem sagenumwobenen Rehn (wenn Google Maps nicht lügt) irgendwo an der A7 zwischen Hamburg und Neumünster.

P1100377Es ist zunächst ruhig in der Hansa 39, weil die meisten draußen den lauen Abend genießen, bevor sich zum angekündigten Beginn um 21 Uhr der Saal füllt. Als Swutscher zehn Minuten später die Bühne betreten, ist die Hütte voll. Nach dem Eröffnungssong legt Sänger Sascha die Gitarre weg und begrüßt das Publikum mit: „Hallo, wir sind Swutscher!“, und es folgt der Titel „Samstag Nacht“. Für den Song „Drahtesel“ greift Sebastian zum Tamburin und Sascha wieder zur Gitarre. Ebenso wie das Publikum bin ich noch etwas verhalten, denn deren Indie-Sound ist schon etwas schräg und sperrig. Etwas Garage, etwas Country, dazu 70er und eine Prise Rock ’n‘ Roll, das muss man erst mal verdauen. Nach „Im Westen“ zieht Sascha nun doch sein viel zu warmes Wollsakko aus und legt wieder die Gitarre weg. „Der nächste Song heißt ‚Karussell‘.“ Keyboarder Sebastian spielt dabei Akkordeon, was man abseits vom Musikantenstadl nur selten auf der Bühne sieht. Nun wird der Applaus lauter, die Leute werden langsam warm mit Swutscher, und auch ich finde besser ins Konzert hinein. Nun erklärt Sascha: „Wir haben heute unser Debütalbum dabei, das erst nächsten Monat rauskommt. Kauft es, stockt unseren Hartz-IV-Satz auf!“, was für reichlich Gelächter sorgt. Das folgende „Kalt“ erinnert mich in der Darbietung stark an Ton Steine Scherben, was mir richtig gut gefällt. Vor allem das Zusammenspiel der beiden P1100399_SWGitarristen Sven und Velvet ist klasse. Nun bittet Sascha Tobias Bamborschke von Isolation Berlin auf die Bühne für eine gemeinsame Darbietung, doch der wiegelt grinsend den seinetwegen aufbrandenden Applaus ab: „Gestern war das echt grenzwertig!“ Der Song heißt „Bierstübchen“, und passend dazu hat Tobias auch ein Augustiner dabei. Anschließend preist Tobias die Band etwas ironisch noch einmal an: „Swutscher, die schönste Band der Welt!“ Das sorgt für Jubel und zahlreiche Lacher. Daraufhin stemmt Bassist Mike seine Bierflasche in die Höhe und ruft: „Prost! Ihr Säcke!“ – „Prost! Du Sack!“, schallt es reflexartig zurück. Derart gut gelaunt wird zum nächsten Song ausgiebig getanzt, auf den „V-Mann im Blaumann“ folgt, bei dem Gitarrist Sven an den Effektgeräten herumschraubt und für abgefahrene Sounds sorgt. Zum Abschluss wird die Ballade „Bodo“ gespielt, der wohl bekannteste Song der Band, und es gibt verdientermaßen reichlich Applaus. „Vielen Dank! Wir sind Swutscher! Viel Spaß mit Isolation Berlin!“ Nun zeigen sich die Münchner verständnisvoll und sorgen am Merchandise dafür, dass der Hartz-IV-Satz der Rehner deutlich höher ausfällt. Also ihr Swutscher, kiekt mol wedder in!

P1100473Normalerweise wird es in der Umbaupause immer etwas leerer, weil viele zum Rauchen rausgehen, aber nicht heute. Scheinbar will niemand etwas verpassen. Schließlich betreten Schlagzeuger Simeon Cöster, Bassist David Specht, Gitarrist Max Bauer und natürlich Sänger und Texter Tobias Bamborschke die Bühne. Sie lassen gar nicht erst viel Zeit für Begrüßungsjubel, sondern legen direkt mit „Annabelle“ los, der ersten Single. Besonders Tobias sprüht vor Energie und springt zur Titelzeile jedes Mal in die Höhe. Er steigert die Intensität von Mal zu Mal, bis er „Annabelle“ fast schon schreit, das Publikum tut es ihm gleich. Ein toller Auftakt, und wir sind alle direkt mitten im Konzert. „Das nächste Stück ist über den Alltag eines Gedichteschreibers, und das ist ein ganzes Stück auch mein Alltag“, verrät uns Tobias und legt erst einmal seine Gitarre beiseite. „Wenn du mich suchst, Du findest mich am Pfandflaschenautomat … der aus leeren Flaschen Hoffnungsträger macht.“ Max steht dabei am Keyboard und sorgt für die begleitenden Orgelklänge. Eigentlich wäre es jetzt Zeit für eine erste Gänsehaut, denn das chansonartige „Serotonin“ ist mein Lieblingslied des neuen Albums Vergifte dich, aber gleichzeitig fotografieren zu müssen lenkt mich ein bisschen von den Emotionen ab. Mit „Antimaterie“ und „Marie“ folgen zwei weitere neue ruhige Stücke, und vor allem Letzteres erzeugt live einen ganz besonderen Zauber. Irgendwie ist es schon ungewöhnlich, wenn zahlreiche gestandene erwachsene Männer im Publikum sich ganz der Melancholie hingeben und sichtlich ergriffen „Marie, trockne deinen Tränen“ singen. Das findet auch Tobias, begnügt sich aber mit einem schlichten „Vielen Dank!“. Derart emotional aufgeladen schieben sich auffällig viele zu Beginn von „Ich wünschte, ich könnte“ nach vorn in die Mitte, und zur Textzeile „Ich will doch nur gefallen“, das immer irgendwie nach „Ich will doch nur Gewalt“ klingt, explodieren die Leute, und Männer wie Frauen hüpfen quer durcheinander. Das war Pogo quasi mit Ansage, und Max erzeugt dazu extra Feedbacks auf der Gitarre. Doch dann folgen mit „Melchiors Traum“ und „Wenn ich eins hasse dann ist es mein Leben“ die nächsten zwei ruhigen Songs. Ersterer wird mit einem starken 70er Psychedelic Vibe gespielt, der das Stück noch einmal anders beleuchtet als auf dem Album, und letzterer erinnert mich in der Darbietung dann doch ein wenig an Ton Steine Scherben, auch wenn die Band diesen Einfluss vor allem im Vergleich zum letzten Konzert an selbiger Stelle an sich abgeschüttelt hat und dies mit einigen Lärmausbrüchen noch einmal unterstreicht. Ganz stark, was sich auch in lautem Jubel zeigt.

Zu „Vergifte dich“ gibt es die von den Tänzern schon sehnsüchtig erwartete nächste Pogoaktion, denn es wird herrlich rotzig gespielt und rückt das Stück so in Punk-Nähe. Nun wird „Der Bus der stillen Hoffnung“ abgefeiert, denn „Schlafen kann ich auch noch, wenn ich tot bin!“ wie die meisten lauthals mitsingen. Bei „Die Leute“ gestikuliert Tobias mit den Händen und rollt wild mit den Augen, und es wirkt, als ob er damit Politiker persifliert. Das Bassspiel von David ist hier besonders geil, und zur regelrecht herausgebrüllten Textzeile „Die Leute wollen Blut sehen“ unterstützt eine Lärmorgie die Gewalt im Text. Nun ist es nur noch konsequent, „Prinzessin Borderline“ in den Untergang zu folgen. „Wir kommen jetzt langsam zum Ende des Konzerts, wir spielen jetzt noch ein, zwei Stücke“, kündigt Tobias an, doch das erregt Unmut im Publikum. „Noch fünf!“, ruft der erste, „Noch zehn!“, ruft der zweite, und dann noch einer: „Alle!“, woraus sich ein Sprechchor bildet. Die Band reagiert darauf mit der Hymne „Fahr weg“, und nun ist sie doch da, die Gänsehaut, weil der Körper mit der Mischung aus gleichzeitiger Euphorie und Melancholie nicht umzugehen weiß, und viele singen mit, als ob der Text ihrer eigenen Seele entspringt. Das will Tobias auch belohnen: „Das nächste Lied beginnt mit den drei schönsten deutschen Wörtern“, und brüllt dann zur allgemeinen Erheiterung unvermittelt: „Pimmel Fotze Hodensack!“ Daraufhin wächst der Pogokreis beim folgenden „Meine Damen und Herren“ noch einmal ordentlich an, und auch Tobias geht auf der Bühne ab, dass ihm die Mütze vom Kopf fliegt. Vor dem letzten Song bedankt er sich bei der Vorband: „Vielen Dank, dass wir mit so einer großartigen Vorband touren dürfen. Applaus für Swutscher!“, der auch entsprechend laut ausfällt. Mit dem selbstbetitelten „Isolation Berlin“ beweisen sie einmal mehr, dass Post Punk auch auf Deutsch wunderbar funktionieren kann, bis die Post abgeht und mit dem herausgezögertem lärmigen Ende der Punk die Oberhand gewinnt, was noch einmal in wüstem Pogo endet. Auch Drummer und Bassist von Swutscher mischen mit.

P1100710Zur Zugabe lassen sich die vier Musiker zum Glück nicht lange bitten, denn einige sind mit Sicherheit schon heiser. „Vielen Dank, wir spielen noch ein Stück.“ – Zwischenrufe: „Alle!“, und das ist, mit Max wieder am Keyboard, „Alles Grau“, eines meiner Lieblingslieder, das mir zuverlässig die zweite Gänsehaut beschert. „Hab endlich keine Emotionen mehr …“, doch halt, das ist gelogen,schließlich muss ich mir ein paar Tränchen wegwischen. Nun folgen das energetische und NDW-lastige „Kicks“, das wieder zahlreiche Tänzer animiert, und direkt im Anschluss „Wahn“, das Mike von Swutscher mit einer Croud-Surfing-Einlage abfeiert. Tobias steigert sich in den Song rein wie einst Ian Curtis, bis er sich schreiend am Boden wälzt. Anschließend taucht er in die Menge vor der Bühne ein, soweit es das Mikrofonkabel zulässt, und das ist ziemlich lang. Nun verschwinden die vier unter tosendem Applaus endgültig im Backstage, wobei Tobias das Mikro mitnimmt und erst im Off aufhört zu singen. Das Licht geht an, und nun gilt es erst einmal sich zu sammeln. Doch plötzlich tauchen Tobias und Max noch einmal auf. Der setzt sich hinten mit der Gitarre aufs Schlagzeugpodest, und Tobias singt dazu leise „Vergeben heißt nicht vergessen“ und wirkt plötzlich so zerbrechlich, wenn sein Blick in die Ferne schweift. Man fragt sich unwillkürlich, ob er zuviel von seiner Seele preisgibt, um unsere so zu berühren. Das ist ein bewegender Abschluss eines grandiosen Konzerts. Anschließend steht die gesamte Band am Merchandise für einen Plausch und Autogramme zur Verfügung, und man kann sich auch den Gedichtband Mir platzt der Kotzkragen von Tobias Bamborschke signieren lassen.

Fazit: Mit Swutscher ist eine originelle Vorband am Start, die einen unkonventionellen und eigenständigen Stil verfolgt und die man sich unbedingt einmal anhören sollte, da sie heute eine Menge Fans hinzugewonnen haben. Isolation Berlin liefern eine wahrlich mitreißende Show, denn dass die Leute so abgehen, erlebt man im oftmals eher steifen München auch nicht alle Tage. Pimmel Fotze Hodensack, war das ein geiler Abend!
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Tracklist Isolation Berlin:
Annabelle
Serotonin
Antimaterie
Ich wünschte, ich könnte
Melchiors Traum
Wenn ich eins hasse dann ist es mein Leben
Vergifte dich
Der Bus der stillen Hoffnung
Die Leute
Prinzessin Borderline
Fahr weg
Meine Damen und Herren
Isolation Berlin

Alles Grau
Kicks
Wahn

Vergeben heißt nicht vergessen

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