Tanzt mit uns ein letztes Mal
Mein letztes Konzert des Jahres 2024, zwischen Plätzchenkoma und Silvestersause, verspricht noch einmal ein echtes Highlight zu werden. Mit Anomalie und Nebelkrähe zwei Bands mit einer Releaseshow sowie mit Vinsta eine ebenso spannende Vorband, alles innovativer Black Metal aus dem Alpenraum – genau richtig für die Rauhnächte. Vinsta müssen dann leider kurzfristig wegen Krankheit als Opener absagen und werden durch die Münchner von Sum Lights ersetzt, über die es nicht viel zu recherchieren gibt, aber das wird zweifellos passen. Auf geht’s zu einem stimmungsvollen Black-Metal-Abend zwischen den Jahren ins Backstage!
Zwischen den Jahren heißt allerdings auch, dass einige Leute weggefahren sind, noch im erwähnten Plätzchenkoma liegen, mal eine Pause einlegen wollen oder schon auf vielen anderen Konzerten waren. Bei Sum Lights verlieren sich daher die Besucher noch ein wenig in der Backstage Halle, die Anwesenden bekommen aber einen schönen Auftritt des Quartetts geboten, der eine Dreiviertelstunde und doch drei ganze Songs umfasst. Nebel, Wucht und Atmosphäre regieren hier, eine Mischung aus Black und Death, mit zeitweise vielleicht ein klein wenig langatmigen Passagen, aber insgesamt viel Mitnickpotenzial. 2021 gab’s das Album Emanating Fulguration, der Song „The sense of a sun“ ist von 2022 – auf der Setlist hingegen stehen „Single 1“, „Serpents jaw“ und „Single 2“, ganz neues Material also und insofern perfekt zu den beiden nachfolgenden Releaseauftritten passend. Sum Lights sind eine hervorragende Einstimmung auf den Abend und werden mit verdientem Applaus von der Bühne verabschiedet.
Vor ziemlich genau einem Jahr haben die Münchner Nebelkrähe die Veröffentlichung des Albums ephemer nebenan im Club gefeiert, ganz so kuschlig ist es heute in der Halle leider nicht, auch wenn die wunderbar nostalgisches Licht verbreitenden Lampen wieder mit auf der Bühne sind. Dafür ist es im Publikum fast kuschlig geworden, eindeutig sind viele Besucher heute wegen Nebelkrähe da und feierwütig. Zu feiern gibt es die (schon ein paar Monate zurückliegende) Veröffentlichung der Neueinspielung des allerersten Albums entfremdet. Fünfzehn Jahre liegen zwischen den beiden Versionen, die beide ihre absolute Berechtigung haben. entfremdet 2009 markiert den Grundstein der Band, entfremdet 2024 den zurückgelegten Weg mit verbesserter Produktion und mehr Erfahrung sowie moderaten, aber punktgenauen Veränderungen an den Songs. Ein Herzensprojekt der (Kern-)Band, das heute Abend live vorgestellt und gewürdigt werden soll. Die anderen Alben werden natürlich auch berücksichtigt, und bei Songs wie zum Beispiel „Tumult auf Claim Abendland“, dem „Blick vom Ebenholzturm“ oder dem furiosen „Et in Arcadia Ego“ kommen die Stärken von Nebelkrähe voll zum Tragen. Avantgarde und Eingängigkeit, Black Metal und … einfach gute Musik, hochklassige Musiker und vor allem Sänger/Performer umbrA, der sich barfuß durch die Songs flüstert, kreischt und singt, sie deklamiert, sie mit Grimassen und raumgreifenden Gesten voll und ganz lebt. Auch beim Äußeren führt die Band Widersprüche gekonnt zusammen – Corpsepaint ja, aber dazu leicht Wildwest-anmutende weiße Hemden, dunkle Westen und ebensolche Hosen. Und die schon erwähnten Lampen, deren Licht die Musik perfekt untermalt. Das Publikum würdigt Band und Songs entsprechend, die Stimmung ist euphorisch, die Luft haarig. Das epische „Nielandsmann“ von ephemer darf natürlich nicht fehlen, bevor es zum letzten Song und Tanz in der „Strandbar von Scheria“ geht, nach dem Gitarrist Morg die Lampen nacheinander ausknipst und die Bühne ins Dunkel taucht. Intelligenter Black Metal, um die Ecke gedacht und trotzdem auf den Punkt gebracht, herausfordernd und trotzdem direkt im Gehörgang – wer sich angesprochen fühlt und Nebelkrähes Musik noch nicht kennt, sollte das dringend nachholen.
Setlist:
ebenbürdig
Über den Fluss hinweg
Tumult auf Claim Abendland
ephemer
Blick vom Ebenholzturm
Gewissheit:
Et in Arcadia Ego.
Nielandsmann
Die Strandbar von Scheria
Danach leert sich die Halle ein wenig, was etwas schade ist, denn mit Anomalie steht ja noch eine weitere namhafte Band aus dem Alpenraum auf dem Plan. Die Band von Marrok (live u. a. bei Harakiri For The Sky und Schammasch) aus Niederösterreich hat im November ihr fünftes Album Riverchild veröffentlicht, dessen Release heute Abend gefeiert werden soll und auf dem die Band den auf der Vorgängerscheibe Tranceformation eingeschlagenen Weg konsequent weiterführt. Anomalie konzentrieren sich auch hauptsächlich auf diese beiden Alben, die mit viel Cleangesang und fast schon mystischer, ritualistischer Atmosphäre punkten. Post Black Metal als Näherungswert, aber mit immer stärker werdender eigener Note, die nicht zuletzt der kräftigen, gefühlvollen Stimme Marroks zu verdanken ist. Marrok – unterstützt von drei Gitarristen, Bass und Schlagzeug – führt mit viel Charisma und Introspektion (will heißen: ohne Kommunikation mit dem Publikum) durch Songs wie „An unforgiving tide“, „Among shadows“ (beide von Riverchild), „Trance III: Alive“, „Trance II: Relics“ oder „Aurora“ (vom Album Integra), in Szene gesetzt von einer beeindruckenden Lightshow. Die knapp halbvolle Halle feiert Anomalie gebührend ab, und nach der Zugabe (mit u. a. dem wunderschönen „Trance I: The tree“) gibt es dann auch ein „Vielen Dank, München“ zu hören.
Setlist:
Vision I: Towards the sun
An unforgiving tide
Perpetual twilight
Temples
Among shadows
Trance III: Alive
Trance II: Relics
Awakening
Aurora
Trance I: The tree
Vision IV: Illumination
Normalerweise würde ich jetzt hier schreiben „drei tolle Bands irgendwo in der Schnittmenge aus Black-Post-Doom-Death-Atmospheric Metal, alle drei lohnen sich, alle drei sollte man schnellstmöglich wieder auf der Bühne sehen“. Für Sum Lights und Anomalie gilt das auch, für Nebelkrähe leider nicht. Wie ich nach dem Gig erfahre, war dies der letzte Auftritt. Das ist nach den zwei letzten superstarken Veröffentlichungen ein Schock und ein echter Verlust für die ja sich sonst gern an die Genrebegrenzungen klammernde Black-Metal-Szene. Aber so ein Entschluss hat natürlich immer Gründe, und die werden gewichtig genug sein. So liegt über der Zeit nach dem Konzert nicht nur ein Hauch von Melancholie, als sich viele Fans und Freunde noch mal am Merch-Stand mit den Bandmitgliedern treffen, T-Shirts, Hoodies und Tonträger kaufen (oder sogar geschenkt bekommen) und das alles auch noch nicht recht fassen können. Ein Releaseabend, der gleichzeitig zum Abschied wird – damit rechnet man nicht. Vielen Dank, Nebelkrähe, für Innovation und Leidenschaft, fürs Anderssein und das musikalische Vermächtnis!
Dank geht an alle drei Bands, die für einen musikalisch stimmigen und hochklassigen Konzertjahresabschluss (zumindest für mich) gesorgt haben!
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