München kann Metal

Große Dinge sind für heute Abend im Backstage Werk angekündigt, nämlich die Doppel-Headliner-Tour von Amorphis und Soilwork. Begleitet werden die beiden nordischen Metal-Urgesteine von den Ukrainern Jinjer und den Deutschen Nailed to Obscurity. Ein ultrafettes Package also, kein Wunder, dass die Schlange beim Einlass um halb sechs schon beeindruckend ist. Das Backstage hatte am Tag zuvor schon „Ausverkauft!“ gemeldet, es wird also höllisch voll werden, und wer einen vernünftigen Platz mit guter Sicht möchte, muss tatsächlich früh da sein. Der Merch der vier Bands ist diesmal im Nebenraum vor der Werkstatt aufgebaut, auch die dortige Bar ist offen, was die Ströme der Kaufwütigen, Durstigen und Klogänger doch etwas entzerrt. Soweit wäre also alles vorbereitet, das Werk füllt sich kontinuierlich, es kann losgehen. Mrs. Hyde erzählt euch was über die ersten zwei Bands, torshammare über die zweite Hälfte des Abends.
DSC_1761Bereits seit 2005 sind Nailed To Obscurity aus dem ostfriesischen Esens unterwegs und haben schon vier Alben eingespielt. Das neueste Werk Black frost ist frisch erschienen und passt titelmäßig optimal zur klirrenden Kälte in München heute. Raimund Ennenga steht am Mikrofon, außerdem mit dabei sind Volker Dieken und Jan-Ole Lamberti (beide Gitarre), Carsten Schorn (Bass) und Jan Hillrichs (Schlagzeug). Früher als erwartet eröffnen sie bereits um 18:10 den Abend und starten direkt mit dem Titeltrack „Black frost“ des neuen Albums. Getragen beginnt das Stück, und dann entwickelt sich eine Melange aus Melodic, Death und Doom, die typisch ist für Nailed To Obscurity. Der Gesang von Raimund wechselt dabei zwischen Growls und Klarstimme. Die Bandmitglieder schütteln allesamt ihr langes Haupthaar im Rhythmus, was auch im immerhin locker halbvollen Werk erwidert wird. Nun wird das Publikum begrüßt: „Schönen guten Abend, München! Wir sind Nailed To Obscurity, schön wieder hier zu sein!“ Beim folgenden „Feardom“ wächst die Schar derjenigen, die rhythmisch mitwippen. „Dankeschön! Wir haben ein neues Album draußen: Black frost!“ Der Death-Faktor wird bei „The abberant host“ deutlich erhöht, bis Raimund für einen ruhigen Zwischenpart kurz die Bühne verlässt, nur um sich dann mit wuchtigen Growls zurückzumelden. Die Faust zum Gruße wird im immer volleren Werk mit Pommesgabeln erwidert, und dermaßen angestachelt beginnt die Band fulminant mit „Tears of the eyeless“. Wieder wechselt die Stimme die Stilrichtungen, wobei es dem Klargesang gegenüber den Instrumenten insgesamt etwas an Druck fehlt, er ist leider ein bisschen flach und zu gefällig. Dennoch freut sich Raimund: „Geil, dass ihr die Halle schon so früh so voll gemacht habt!“ Nun folgt der letzte Song „Desolate ruin“, gegen dessen Ende er verkündet: „Dankeschön München! Das war der absolute Abriss!“ und verschwindet. Die Band lässt den Song noch ausführlich ausklingen. Für das obligatorische Bandselfie ist er wieder da, denn vor voller Kulisse will sich die Band das nicht nehmen lassen. So ganz der Abriss war es jetzt zwar nicht, aber die Jungs kommen im Publikum gut an und haben in ihrer Spielzeit von 35 Minuten definitiv überzeugt.

DSC_1899Die nun folgenden Jinjer aus der Ukraine sind mir irgendwann mal zufällig in einer Hardcore-Playlist auf YouTube untergekommen, und was mir da entgegenschallte, war extrem in jeder Hinsicht – extrem brachialer Sound, extrem progressiv, extrem gute Musiker und ein extremer Gesang, von dem man kaum glauben mag, dass eine Frau ihn produziert. Neben Tatiana Shmailyuk sind die weiteren Musiker Roman Ibramkhalilov (Gitarre), Eugene Kostyuk (Bass) und Vladislav Ulasevish (Schlagzeug). Jinjer haben bislang drei Alben veröffentlicht und die brandaktuelle EP Micro im Gepäck. Und nun bin nicht nur ich extrem gespannt auf den Auftritt, denn mittlerweile ist das Werk trotz der frühen Uhrzeit proppenvoll, und es sind einige Jinjer-Shirts auszumachen.
Zwei Minuten vor sieben betreten Roman und Eugene mit der Faust grüßend die Bühne, was vom Publikum erwidert wird. Vladislav nimmt seinen Platz am Schlagzeug ein, bei dem sofort auffällt, wie tief die Becken eingestellt sind. Das ist speziell, aber effizient, und so kann man den Schlagzeuger auch mal spielen sehen. Nach dem Intro der Band kommt auch Tatiana nach vorn und legt zu „Words of wisdom“ mit ihrem markanten Growlgesang los, der einen starken Kontrast zu ihrer zierlichen Erscheinung bildet. Der Klargesang kommt dem, was man erwartet, deutlich näher, aber auch hier fehlt es an Druck und Volumen in der Stimme, die in den ruhigen Passagen etwas oberflächlich wirkt. Wahrscheinlich ist das mit den abrupten Wechseln sehr schwer abzumischen. Über die Stimmfarbe selbst werden sich die Geschmäcker vermutlich scheiden. Für einen besseren Überblick springt Tatiana auf eine Kiste am Bühnenrand, hier wird erst einmal das Publikum begrüßt: „Hello Munich! Nice to see you again! So here is something new for you!“ Mit „Ape“ geht es weiter, das durch Einsatz von Double-Bass-Drums besticht. Eugene geht richtig ab und animiert so auch das Publikum. Auf „I speak astronomy“ folgt „Dreadful moments“, zu dem die ersten in der Menge herumhüpfen. Mit Jubel und Pommesgabeln wird die Band gefeiert. Tatiana verschwindet kurz, während das Intro zu „Teacher, teacher“ läuft, das nach marschierenden Stiefeln klingt. Der Song selbst offenbart Hip-Hop-Einfluss, und dazu gibt es jetzt richtigen Pogo in der Saalmitte. Eugene spielt seinen fünfsaitigen Bass mit beiden Händen am Instrumentenhals. Nun wird auch klar, warum er seinen Bass ungewöhnlich hoch trägt, das gibt ihm mehr Kontrolle bei dem komplizierten Gefrickel. Verdammt stark! Roman an der Gitarre auf der anderen Seite bildet im Gegenzug den ruhigen Pol.
Dennoch geht es bei „Who’s gonna be the one“ auf der Bühne ab. Der Moshpit ist auf ca. dreißig Leute angewachsen. Tatianas Growls scheinen direkt aus der Hölle zu kommen, denn sie klingen tiefer als bei manchem männlichen Kollegen und erinnern mich an die verzerrte Stimme der kleinen Regan im Film Der Exorzist, was mir eine kleine Gänsehaut beschert. Originellerweise bekommt der Song dann einen beschwingten Reggae-Vibe, zu dem fleißig mitgeklatscht wird. Für das nächste Intro, das nach Wasserrauschen klingt, verschwindet Tatiana wieder, dann legt die Band mit „Pisces“ einen ruhigen Beginn hin, fast wie eine Ballade. Doch auch hier entwickelt sich wieder ein Mix aus Growl- und Klargesang. „Come on, Germany! Put your fucking hands up!“ Die Menge reagiert begeistert, und im Pogo geht es wieder ab. Zum Intro von „Perennial“ kniet Tatiana auf der Kiste, doch dann legen alle gemeinsam los, und mehrmals wechselt das Tempo. Sie schneidet ein paar irre Grimassen und streckt auch mal die Zunge raus. „Thank you so so much. We have to go but we have one more song!“ Zu „Sit stay roll over“ räumt der Moshpit noch einmal ordentlich ab, bevor als Outro noch „Beggars dance“ vom Band läuft. Bandselfie? Nee, das klemmen wir uns mal ganz selbstbewusst, denn den Geheimtipp-Status dürften Jinjer spätestens heute abgelegt haben. Auf innovative Weise verbinden sie Metalcore und Death Metal und erweitern ihren Sound durch vielfältige Einflüsse, die im Metalbereich eher ungewöhnlich sind. (Mrs. Hyde)

DSC_1961Nach einer recht langen Umbau– bzw. Wartezeit kommen so um Viertel nach acht die Schweden von Soilwork auf die Bühne (an anderen Abenden fängt da gerade mal die Vorband an, heute sind wir schon von zwei Bands verwöhnt worden – meine innere Uhr findet das ein wenig seltsam), die seit den Neunzigerjahren aktiven Veteranen des melodisch-aggressiven Metals. Sänger Björn „Speed“ Strid hat sich in den letzten Jahren auch auf anderen musikalischen Spielwiesen ausgetobt, unter anderem dem auch bei uns in der Redaktion sehr beliebten Hardrock-Projekt The Night Flight Orchestra (Review 1, Review 2, Review 3). Ein bisschen scheint es auch auf Soilwork abgefärbt zu haben, zumindest kam mir der Gedanke beim Durchhören des aktuellen Soilwork-Albums Verkligheten doch immer mal wieder. Für mich eine positive Entwicklung, da ich bisher mit dem typischen Sound der Band nicht so ganz warmgeworden bin. Die Single „Stålfågel“ hat sich bei mir dann aber als veritabler Ohrwurm eingenistet, und ich bin wirklich gespannt, wie Soilwork 2019 live klingen. Zuletzt gesehen habe ich die Band 2006 beim Hellfest Neckbreaker’s Ball & W:O:A: Roadshow (ich glaube, das hieß tatsächlich so kompliziert) im Metropolis – lustigerweise auch damals schon zusammen mit Amorphis. Zum Intro „Verkligheten“ kommen die Bandmitglieder dann nach und nach auf die Bühne, bis schließlich auch Björn Strid lässig heranschlendert, das frenetisch jubelnde Publikum begrüßt und mit „Arrival“ loslegt. „The crestfallen“ und „Nerve“ gehen nach dem Beginn mit neuem Material etwas auf Nummer Sicher, das Album Stabbing the drama dürfte jeder halbwegs ernsthafte Soilwork-Fan kennen. Die Stimmung im mittlerweile unerträglich vollen Backstage Werk ist hervorragend, die Band spielt engagiert – und ich sehe nach dem dritten Song leider nichts mehr und kann nur noch als hörende Reporterin berichten. Als wir Fotografen aus dem Graben kommen, steht die Menschenwand so solide, dass zumindest mir nur noch die Flucht in den besser belüfteten Merch-Raum bleibt, von dem ich mir nach einer Klorunde (die ich deshalb erwähne, weil der Sound auf dem Frauenklo paradoxerweise so glasklar ist wie den ganzen Abend in der Halle nicht) den weiteren Soilwork-Auftritt anhöre. Mrs. Hyde erzählt mir später, dass die Band das Energielevel keine Sekunde absacken lässt, und dass der Moshpit mehrmals in einen Circle Pit übergeht, auch wenn es dafür heute eigentlich zu eng ist. Die Setlist ist für Fans sowieso vom Feinsten mit ihrem Querschnitt durch sieben Alben mit leichtem Gewicht auf Verkligheten, und Björns Gesang ist einwandfrei – wenn auch wie bei allen Bands des Abends der Klargesang etwas schlechter abgemischt ist. Die neuen Songs passen sich live perfekt in das ältere Material ein, und das große Finale aus „Stabbing the drama“ und „Stålfågel“ (also alt und neu) macht selbst im Merch-Raum richtig Spaß. Soilwork haben also alles richtig gemacht. Das Publikum jubelt auch ordentlich beim Bandselfie und hat jetzt hoffentlich auch noch Kraft für die Band, auf die zumindest ich seit Stunden fieberhaft warte: Amorphis.

DSC_2075Vor knapp drei Jahren waren die Finnen das letzte Mal in München, mit dem damaligen Album Under the red cloud. Dieser Auftritt war schon etwas ganz Besonderes, die Energie im Raum war sensationell, und ich bin gespannt, wie es heute wohl wird. Auch Amorphis lassen sich ein wenig Zeit, bis sie auf die – schick mit zwei Podesten für Drums und Keyboards bestückte – Bühne kommen, doch dann gibt es kein Halten mehr. Ab dem ersten Ton von „The bee“ fliegt die Kuh, Tomi Koivusaari an der Rhythmusgitarre zockt tiefenentspannt seine Riffs, Rückkehrer und Urmitglied Olli-Pekka Laine wirkt, als hätte er die letzten 28 Jahre mit den Jungs auf der Bühne gestanden und nicht zwischendrin 17 Jahre was anderes gemacht, Jan „Snoopy“ Rechberger trommelt sich die Seele aus dem Leib, Santeri Kallio thront fröhlich grinsend hinter seinen Keyboards, und Esa Holopainen zaubert lässig eine Wahnsinnsmelodie nach der anderen aus seiner Gitarre. Mittelpunkt der zelebrierten Perfektion ist Sänger Tomi Joutsen, der diesmal ohne futuristisches Haartrocknermikro, dafür mit cooler Schlaghose mühelos zwischen voluminösen Growls und kräftigem Klargesang wechselt und die Fans zu immer neuem Jubel motiviert. „The golden elk“ ist ein weiterer Song vom aktuellen Album Queen of time – nicht ganz so komplex wie andere Tracks, aber höllisch eingängig und mit ordentlich Tempo. „Sky is mine“ vom Skyforger-Album kennen dann ganz bestimmt alle, und es wird auch gebührend abgefeiert. Diesmal gelingt es mir nach dem dritten Song, einen Platz mit Bühnensicht zu ergattern, sodass ich beim Mitsinggassenhauer „Sacrifice“ zusammen mit allen anderen ordentlich mitgrölen kann. Als die prägnante Anfangsmelodie von „Message in an amber“ ertönt, fliegen nicht nur meine Haare, und als Ursänger Tomi Koivusaari ganz wunderbare Growls dazu beisteuert, bin ich wirklich im siebten Himmel. Das sieht das Publikum bis weit hinten zum Mischer genauso, überall gereckte Pommesgabeln und Fäuste. Nach „Silver bride“ meint Tomi Joutsen fröhlich grinsend: „You really know how to behave in a metal show“, und die ganze Band ist sichtlich erfreut über die euphorischen Reaktionen. Davon angefeuert liefern sie eine extraharte Version von „Bad blood“ von Under the red cloud, die ich am nächsten Tag im Nacken spüren werde. Bei „Wrong direction“ zieht sich Tomi Joutsen auf den hinteren, erhöhten Bühnenaufbau zurück und singt von dort, einen Großteil des Songs vom Publikum abgewandt. Aber das macht nichts, mit Tomi K., Olli-Pekka und Esa am Bühnenrand gibt es genug zu sehen. Bemerkenswert ist auch, dass die Band anstelle von Monitorboxen drei Podeste aufgestellt hat, auf die vor allem Tomi J. immer wieder gern steigt und da wie ein Weltmeister post. „Daughter of hate“ ist eins meiner liebsten Stücke vom aktuellen Album, weil es hochkomplex ist und zum Teil sehr aggressiv – hier kann die Band und vor allem Tomi J. sämtliche Stärken ausspielen. Zum Glück lässt der Sound – der nicht immer optimal ist – das Saxophon durch sowie die von Amorphis-Texter Pekka Kainulainen gesprochenen Textpassagen. Bei „Heart of the giant“ kann Keyboarder Santeri Kallio mit einem ausgedehnten Solo glänzen, bei „Hopeless days“ dafür das Publikum, das nicht nur den Refrain sehr textsicher übernimmt. Und dann kommt der Song, auf den sicher mindestens alle Oldschool-Fans im Raum gewartet haben (leider bleibt es der einzige alte Klassiker, der es auf die Setlist geschafft hat): „Black winter day“. Die Bandhymne schlechthin und live immer wieder ein Erlebnis. Um mich herum fliegende Haare, hochgereckte Fäuste, selige Gesichter. Ja, München kann Metal. Danach verschwindet die Band kurz, doch natürlich gibt es noch eine Zugabe, und für „Death of a king“ (aua, mein Nacken) und „House of sleep“ inklusive Publikumschor werden noch mal alle Kräfte mobilisiert. Tomi J. und Esa erklären, dass die heutige Show die bisher beste und lauteste der Tour gewesen sei. Für mein Empfinden war es vor drei Jahren noch großartiger und euphorischer, aber das heute war schon großes Begeisterungskino. Zu Recht, denn Amorphis schaffen es trotz aller hör- und sichtbaren musikalischen Perfektion, ihre Auftritte nie routiniert wirken zu lassen, sondern immer frisch und engagiert. Viele Worte – sind ja Finnen – werden nicht gemacht, das muss aber auch nicht sein. Nach obligatorischem „Band posiert vor Pommesgabeln“-Foto zerstreut sich die Meute zu Eläkeläisets Version von „House of sleep“, „Vaivastalossa“. (torshammare)

Fazit: Wir sind uns einig, dass der Sound heute nicht immer optimal war, was man vor allem bei den Klarstimmen der vier Bands gemerkt hat – was aber garantiert auch am komplexen Material lag, bei dem sich die abrupten Wechsel zwischen Growls und Gesang bestimmt nicht leicht abmischen lassen. Abgesehen davon und dass ein ausverkauftes Werk immer anstrengend ist, war der Abend insgesamt tatsächlich „der totale Abriss“. So wirklich fit ist von uns am nächsten Tag keiner, aber wir sind sehr glücklich.

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Setlist Soilwork:
Verkligheten (Intro)
1. Arrival
2. The crestfallen
3. Nerve
4. Full moon shoals
5. Death in general
6. Like the average stalker
7. The akuma afterglow
8. Drowning with silence
9. The phantom
10. The nurturing glance
11. Bastard chain
12. As we speak
13. The living infinite II
14. Witan
15. Stabbing the drama
16. Stålfågel

Setlist Amorphis:
1. The bee
2. The golden elk
3. Sky is mine
4. Sacrifice
5. Message in an amber
6. Silver bride
7. Bad blood
8. Wrong direction
9. Daughter of hate
10. Heart of the giant
11. Hopeless days
12. Black winter day

13. Death of a king
14. House of sleep

Bilder: torshammare

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