Wasserleichen und warum man über sie singt

Heute soll es in dieser Rubrik einmal weniger martialisch zugehen, dafür aber etwas morbide. Jeder, der in der schwarzen Szene unterwegs ist, kennt ihre Musik: Subway to Sally sind die Helden des deutschen Folk Metal. Und vermutlich auch fast jeder kennt ihr Album Hochzeit von 1999. Darauf wiederum ist mit dem zweiten Track, „Die Rose im Wasser“, eines ihrer melodisch komplexesten Lieder. Wer nun aber auf den Text hört, fragt sich unweigerlich: Singt der da wirklich über eine Wasserleiche? Ja, das tut er. Die Rose im Wasser ist tatsächlich ein totes Mädchen. Aber warum singt man über sowas?

Bild: „Ophelia“ von Theodor van der Beek

Das Motiv eines toten Mädchens im oder am Wasser ist in der Musik und Kunst bei Weitem kein unbekanntes, sogar im Pop kommt es gelegentlich zur Anwendung, siehe Nick Cave’s Hit mit Kylie Minogue zusammen „Where the wild Roses grow“, wo das tote Mädchen sogar auch mit einer Rose verglichen wird. Trotzdem steckt hinter dieser Wasserleichen-Poesie weit mehr als nur seichtes Gebrabbel von verzweifelten Textern. Während in der Literaturgeschichte seit Jahrtausenden immer mal wieder tote Mädchen und Selbstmörderinnen auftauchten, wurde das spezielle Motiv des toten Mädchens im Wasser um 1900 in Deutschland erst richtig populär.
Den Startschuss gab sozusagen Shakespeare mit seiner Ophelia, die sich in seinem Theaterstück „Hamlet“ ertränkt. Während im Theater, wohl aus rein praktischen Gründen, nicht dargestellt wird, was mit ihrer Leiche im Fluss geschieht, nahmen sich zuerst Maler des Motivs an und zeigten die wunderschöne Tote umgeben von Seerosen.
Bereits 1870 hatte der französische Dichter Arthur Rimbaud ein Gedicht über Shakespeares Ophelia geschrieben, wo zum ersten Mal das Verschmelzen der Toten mit der Natur zum Thema wurde. 1907 wurde dieses Gedicht ins Deutsche übersetzt und plötzlich musste jeder junge wilde deutsche Dichter auch seine Meinung zur Thematik kundtun. Wahre Meisterschaft zum Thema Wasserleichen erreichte dann der Expressionist Georg Heym, aus dessen Gedicht „Ophelia I“ Subway to Sally fast wörtlich zitieren. Heym perfektionierte das Bild vom verzweifelten Mädchen, dessen Leid sogar die Natur zum Trauern bringt – und das durch seinen Selbstmord in der Natur aufgeht und Erlösung findet. Hier zeigt sich ein klassischer Trend des Expressionismus: Die menschliche Welt ist hart, technisch und böse – während die Natur friedlich und unschuldig bleibt. 1920 griff mit Bertolt Brecht selbst einer der größten deutschen Dichter das Motiv in seiner Ballade „Vom ertrunkenen Mädchen“ auf.
Um 1900 war Europa im Umbruch: Die industrielle Revolution hatte das Leben der Menschen einschneidend verändert. Viele junge Poeten beklagten die Entfernung des Menschen von der Natur – und griffen gern ein Motiv auf, das Erlösung und Trost durch ein vollkommenes Aufgehen in der ungestörten Natur versprach. Weltschmerz und Suizid wurden zu bevorzugten Themen in allen literarischen Genres.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wie kamen die alle ausgerechnet auf das Thema Wasserleiche? Gab es um 1900 wirklich so viele junge Selbstmörderinnen, die im Wasser trieben? Tatsächlich stieg mit der industriellen Revolution die Selbstmordrate sprunghaft an. Zunehmend wurden bäuerliche Großfamilien aufgebrochen und junge Töchter zur Arbeit in die wachsenden Städte geschickt. Gleichzeitig explodierten die Raten an ausgesetzten Säuglingen, denn ohne Familie waren diese jungen, meist armen und ungebildeten Frauen Übergriffen schutzlos ausgeliefert. Ein uneheliches Kind bedeutete aber in dieser Zeit noch gesellschaftliche Ächtung. So sahen viele ungewollt Schwangere nur noch Selbstmord als Ausweg. Ins Wasser zu gehen wiederum erschien vielen als einfachste Lösung. Die Verklärung des Selbstmordes als Erlösung tat wohl noch ein Übriges dazu, in Frankreich zum Beispiel wurde die Totenmaske einer jungen Selbstmörderin aus der Seine zum Verkaufsschlager. Künstler des Expressionismus waren fasziniert von ihrer Schönheit und dem seltsam friedlichen Gesichtsausdruck. Tausende rätselten, was sie zu ihrem Schritt bewogen haben könnte.

Bild: Totenmaske der Unbekannten aus der Seine.

Beim Motiv der Rose im Wasser spielen also viele verschiedene Aspekte eine Rolle: Verzweiflung, Erlösung, Schuld und Unschuld, Entfremdung, Einsamkeit und Trost, Tod, unerfüllte Liebe … Wen wundert es da noch, dass das Thema so viele Künstler inspiriert hat?
Mit diesem Wissen im Hinterkopf bekommt „Die Rose im Wasser“ doch noch einmal eine ganz neue Dimension. Für mich ist es mit Abstand der berührendste Song von Subway to Sally.

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