Gogol im Fritsch-Panoptikum

Nikolai Gogol: Der Revisor

Residenztheater München

 

Wie schön haben sie es sich doch eingerichtet in ihrem Dorf irgendwo in der russischen Provinz: Vor allem die Stadtoberen – der Bürgermeister, der Richter, der Leiter des Krankenhauses, der Polizeichef und andere Honoratioren – pflegen eine Mischung aus vollkommener Pflichtvernachlässigung und „Leben und leben lassen“-Toleranz. Das einzige, was die Gemeinschaft noch am laufen hält, ist das von jedem jederzeit gern angenommene Schmiermittel Geld.

In diese korrupte Beschaulichkeit platzt auf einmal die Ankündigung, ein Revisor aus der Hauptstadt werde den Ort und seine Bewohner auf Herz und Nieren prüfen. Und es herrscht Einigkeit: Wer anders soll das sein als der vornehme Herr, der schon seit zwei Wochen mit seinem Diener im Gasthof wohnt, freilich ohne bisher auch nur eine Kopeke bezahlt zu haben? Dass der aber nur ein kleiner, mittelloser Beamter auf der Durchreise ist, der den Irrtum jedoch rasch erkennt und finanziell wie amourös weidlich ausnutzt, wird allen erst nach seiner Abfahrt klar.

Soweit das Grundgerüst von Nikolai Gogols 1835 entstandener Komödie. Daraus könnte man einen schön bebilderten, ebenso feinsinnigen wie harmlos netten Abend machen, doch wer die letzten Arbeiten von Regisseur Herbert Fritsch verfolgt hat, vor allem seine Oberhausener Nora aus dem Jahr 2010 und die zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladene(S)panische Fliege, der weiß, dass dies nicht seinem Stil entspricht.

Fritsch versucht nicht zu psychologisieren, er steht vielmehr für ein extrem körperliches, die Charaktere überzeichnendes Theater, bei dem alles erlaubt ist außer Langeweile. Und dementsprechend ist auch sein Revisor ein slapstickhafter Parforceritt in Hochgeschwindigkeit.

Das Bühnenbild, für das ebenfalls Herbert Fritsch verantwortlich ist, zeigt kein russisches Dorfidyll, sondern ein rundes Dutzend hintereinander gehängter durchsichtiger Plastikplanen in Hausform, die herauf- und hinuntergefahren werden können. Diese auf das Symbolische reduzierte Kulisse bevölkert ein bleich geschminktes Panoptikum fast schon zombiehafter Gestalten: die Männer verwahrlost anmutend mit strähnigen, gelblichen Haaren, gekleidet in schmutziges beige-grau, die Frauen schrille Püppchen mit monströsen Frisuren (Kostüme: Victoria Behr).

Die Nachricht von der Ankunft des Revisors löst Panik in dieser seltsamen Gesellschaft aus und macht aus ihr einen aufgescheuchten, hysterisch überdrehten Hühnerhaufen. Sebastian Blomberg als dieser (vermeintliche) Revisor Chlestakow ist ein tuntig wirkender Schönling im engen rosa Anzug, der seinem Diener Ossip (Stefan Konarske, der die vom Rezensenten besuchte Vorstellung bewundernswerterweise mit Bänderriss auf Krücken spielte) gerne mal den Hintern tätschelt, dennoch aber auch erfolgreich der lokalen Damenwelt nachsteigt (Barbara Melzl als lüsterne Gattin des Bürgermeisters, Britta Hammelstein als dessen piepsig-mädchenhafte Tochter).

Vor ihm buckeln und kriechen alle, und das im wörtlichen Sinne. Die Furcht vor der Enttarnung ihres korrupten Gemeinwesens macht aus den Obrigkeiten armselige Speichellecker, deren Angst sich in verzerrter Mimik und grotesk verdrehten und verrenkten, nahezu nie stillstehenden Körpern ausdrückt. Chlestakow nutzt jeden einzelnen gnadenlos aus und erleichtert ihn um sein Geld. Die Szenen mit ihm und seinen jeweiligen Opfern sind teils herrlich absurde Kabinettstückchen mit pantomimisch geschwungenen Säbeln oder skurrilen Spielchen mit einer von Mund zu Mund weitergegebenen Zigarre.

Das ist schräg, schrill und hemmungslos albern, und vor allem in der ersten Hälfte der Aufführung wird der Klamauk bis an die humoristische Schmerzgrenze (und mitunter auch darüber hinaus) getrieben. Dazu trägt auch die sehr freie, mit mal mehr, mal weniger originellen Wortspielen nicht geizende Textfassung von Sabrina Zwach bei.

Doch zwischendurch stoppt plötzlich das sich rasant drehende Komödienkarussell abrupt, und Fritsch schafft eines der eindrucksvollsten Bilder, wenn er im Bühnenhintergrund das gesamte Personal mit Chlestakow in der Mitte aufreiht und dort eine gute Minute lang stumm und bewegungslos stehen lässt, bevor es im Gleichschritt aufs Publikum zumarschiert. Da schleicht sich etwas unterschwellig Bedrohliches in die bisherige Komik.

Deren Doppelbödigkeit äußert sich auch, wenn schließlich Geld in Massen vom Bühnenhimmel regnet und von einer Schar maskierter Statisten, die das Geschehen bis dahin immer wieder stumm beobachtet hatten, gierig eingesammelt, aber auch von Chlestakow und Ossip ins Publikum geworfen wird – sind nicht auch wir ein Teil einer sich um des lieben Geldes willen selbst belügenden Gesellschaft?

Dieser Revisor ist sicher kein Abend für Freunde fein ziselierter Seelenanalysen, doch durchaus ein Vergnügen, wenn man sich auf den präzise choreografierten und vom famos aufgelegten Ensemble lustvoll gespielten, grellen Irrwitz einlässt. Über die eine oder andere Peinlichkeit oder Platitüde kann und muss man dann schmunzelnd hinwegsehen.

 

Residenztheater München

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