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Vampire dieser Welt, schaut auf diese Stadt!

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Arbeitsplätze und Renten sind sicher in Berlinoir: Alles, was die Menschen dafür tun müssen, ist, den Herrschern der Stadt ihr Blut zu spenden. Im Gegenzug sorgen die Vampire, die von ihrem Anführer, dem „Bürgermeister“ Szerbenmundt, auf Linie gehalten werden, für alles, was die Einwohner zum Leben brauchen. Oder zumindest für fast alles.
Unter den Menschen, denen es ja eigentlich gut geht, regt sich eine Widerstandsgruppe um den charismatischen Niall. Sie töten Vampire, die sie einfach nur Kadaver nennen, und leben in ständiger Gefahr, entdeckt zu werden. Eines Nachts verschont Niall die wunderschöne Vampirin Hellen – und verliebt sich in sie. Doch ihre Liebe endet tragisch, als die Widerstandskämpfer einen Aufstand der Bevölkerung anzetteln, in dessen Wirren Hellen den endgültigen Tod findet. Dabei zeigt sich auch, dass der verhasste Szerbenmundt Nialls geringstes Problem war, denn nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes kommt Vampirgeneralin Rada Cadressis an die Macht, die sie rücksichtslos zu nutzen weiß – auch gegen die eigenen Reihen …


Berlinoir. Die Stadt unter den Zelten. Regiert vom Blutroten Rathaus

Das Charmante an Berlinoir ist, dass der Comic nicht zu verbergen sucht, dass es sich bei der skizzierten Stadt um Berlin handelt, das einmal mehr zum Spielball von Großmächten, in diesem Fall Menschen und Vampiren, wird. So geraten viele Passagen zu Parabeln auf die neuere Stadtgeschichte, inklusive Belagerung und Teilung der Stadt, was den Lesegenuss für die zeitgeschichtlich Interessierten noch erhöht. Auch die Fragen, wie viel die Menschen hinnehmen können, ob es eine Pflicht zum Widerstand gegen korrupte, brutale Regimes gibt, die von ihren Untertanen Blut fordern, stehen immer wieder im Mittelpunkt an markanten Wendungen der Handlung. Die Romanze zwischen Niall und Hellen fällt angenehm kurz aus und ist hier eher dramaturgisches Mittel als Zweck der Handlung, man muss also keine Angst haben, es mit einem Twilight-Comic zu tun zu haben.
Gekonnt werden hier drei einzelne Geschichten erzählt, die sich problemlos in eine übergeordnete Handlung einfügen. Die Verbindung zwischen abgeschlossener Kurzgeschichte und größerem Zusammenhang funktioniert einwandfrei. Einziger Makel sind manche Passagen in den Dialogen, etwa wenn Niall, gerade von Vampirschergen entführt und zu Hellen gebracht, erklärt: „Ich begehre dich wie wahnsinnig. Wie kann das sein …?“ Die Monologe machen das jedoch wieder mehr als wett, ich hatte beim Lesen der Passagen, die die Stadt und ihren Zustand beschreiben, mitunter Rorschachs Stimme im Kopf.

Vielleicht würden sie uns weniger hassen, wenn sie wüssten, dass wir träumen

Das wirklich Spannende an Berlinoir ist, dass es gelingt, die Welt eben nicht stur Schwarz-Weiß zu zeichnen, obwohl es im ersten Moment so aussieht, als wären die Rollen klar: Menschen = gut, Vampire = böse. Stattdessen entpuppt sich Szerbenmundt, von dem man einiges über den Hintergrund der Herrschaft der Vampire erfährt, als beinahe fürsorglicher Stadtvater, und so mancher Mensch kommt nicht gerade gut weg. Das merkt auch nach und nach Protagonist Niall, für den die Welt zu Beginn tatsächlich ganz einfach ist, im Laufe der Handlung aber hinterfragt er nach und nach seine Motive. Das bringt ihn zwar nicht weiter aus der Bahn, denn er bleibt davon überzeugt, dass die Unterdrückung ein Ende haben muss. Dafür liefert das Autorenduo auch die ultimative Antagonistin in der Figur der Generalin.
Immer wieder eingestreut sind intelligente, oft theologisch unterfütterte Betrachtungen über die Philosophie der Vampire. Kein Licht ohne Schatten, so lautet hier die Devise, auf die sich die Blutsauger immer wieder in mehr oder weniger ausgefeilten Varianten berufen. Aus den Gejagten wurden Jäger, die die Macht über eine Stadt errangen, um sich selbst zu retten, ihr eigenes Un-Leben zu schützen. Dabei versuchen die untoten Machthaber, das Ganze so zu verpacken, dass auch die Menschen das irgendwie begreifen können, und ziehen niemand Geringeren als Jesus heran, der ja auch von den Toten wiederauferstanden ist und zudem dieses makabre „Dies ist mein Blut“-Ritual beim letzten Abendmahl eingeführt hat (dabei wissen wir doch alle, dass Jesus ein Zombie und kein Vampir ist!). Es macht sehr viel Spaß, den Figuren dabei zuzuhören, wie sie die jeweiligen Positionen untermauern und verteidigen, ohne dass Berlinoir zu philosophisch ausfällt. Gut gemacht!

Hier liegt ein süßlich schwerer Duft in der weltberühmten Luft

Die grafische Gestaltung wagt, soweit ich als Laie das beurteilen kann, keine großen Experimente. Farbgestaltung und Stil assoziierte ich beim Lesen mit der Vokabel „klassisch“, was meinem Geschmack sehr entgegenkommt. Die Bilder sind eindringlich, viele Details, Momentaufnahmen gleich, bleiben einfach hängen. Geschickt wird in den Zeichnungen vor allem die Stimmung der Stadt eingefangen, die – natürlich – sehr düster ist. Seien es Straßen oder das Cabaret, es wird eine Atmosphäre geschaffen die an Vorkriegszeit, Golden Twenties und geteilte Hauptstadt zugleich denken lässt, hochgradig verdichtet zu einer postapokalyptischen Mischung.
Insgesamt bin ich durchweg zufrieden mit Berlinoir: Gute Geschichten, die überzeugend und in eindringlichen Bildern umgesetzt werden. Für Fans der Hauptstadt, von Max Schreck und schrägem Gothic Horror ist Berlinoir ein absolutes Muss.

Reinhard Kleist wurde 1970 in der Nähe von Köln geboren. Er studierte Grafik und Design in Münster und zog 1996 nach Berlin, wo er seitdem lebt. Für Berlinoir hat sich der mehrfach ausgezeichnete Künstler mit Tobias O. Meissner, geboren 1967 in Oberndorf am Neckar, zusammengetan. Auch Meissner lebt heute als freischaffender Schriftsteller in Berlin und schreibt vorwiegend Fantasy- und Cyberpunk-Romane, die unter anderem bei Piper veröffentlicht werden. Berlinoir ist sein erstes Comic-Szenario – und ich hoffe, dass es nicht das letzte bleiben wird!

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Reinhard Kleist und Tobias O. Meissner: Berlinoir.
Carlsen Verlag, 2013.
148 S. 24,90 Euro.
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