I’m lost in a forest, all alone

IMG_8645Am Fuße des Fuji, dem für die Japaner heiligen Berg, liegt auf der Nordwestseite der 35 Quadratkilometer große Aokigahara Forest, ein echter, unberührter Urwald, nur ca. 100 km Luftlinie von Tokio entfernt. Man kann ihn also problemlos im Rahmen eines Tagesausflugs von Tokio aus besuchen. Am einfachsten ist die Anreise mit dem Highway Bus. Vom Shinjuku Busbahnhof aus dauert die Fahrt nach Kawaguchiko ca. zwei Stunden und kostet hin und zurück 35 Euro. Die Busse fahren halbstündlich, aber man sollte vorsichtshalber reservieren, vor allem an Feiertagen und in der Fuji-Wandersaison von Juli bis August. Übersetzt bedeutet Aokigahara „Sea of Trees – Meer der Bäume“, was auf den Anblick vom Gipfel des Fuji anspielt, von wo aus der Wald wie ein grünes Meer erscheint.
Einige Filmhandlungen drehen sich um den Aokigahara (Forest of the living Dead [2011], Aokigahara [2012], Grave Halloween [2013], The Sea of Trees [2015], The Forest [2016], The People Garden [2016]), und die Black Metal Band Harakiri for the Sky hat sogar ein ganzes Album nach ihm benannt. Was also macht diesen Wald so besonders? Er ist in Japan der mit Abstand beliebteste Ort für Selbstmörder und rangiert auf der „Weltrangliste“ der Suicide Spots unter den ersten drei, zusammen mit der Nanjing Yangtze River Bridge (China, >2000 Selbstmorde 1968-2006) und der Golden Gate Bridge (USA, >1500). Da nicht alle Zahlen bekannt sind, könnte er sogar auf Platz eins weltweit liegen.

Es mag etwas pietätlos erscheinen ausgerechnet einen Wald besuchen zu wollen, in dem sich viele Menschen umbringen, aber die schiere Zahl derer hat mich fasziniert, seit ich das erste mal vom Aokigahara gelesen habe. Warum so viele, warum gerade hier? Das habe ich für mich ergründen wollen.

Was die Recherche vor der Reise ergeben hat:
Seit 1971 wird der Wald jährlich von Polizei und Feuerwehr durchkämmt, um die Toten zu bergen und eine Bestattung zu ermöglichen, daher weiß man relativ genau, wie viele Menschen hier aus dem Leben scheiden. 1971 fand man 74 Tote, 1998 dann 73, 2002 gab es 78 Tote, 2003 sogar 105, 2010 waren es 54 Tote bei 247 Selbstmordversuchen. Natürlich ist die Dunkelziffer noch höher, weil manche Menschen erst Jahre später oder nie gefunden werden. Mittlerweile wird die Statistik nicht mehr veröffentlicht, um Nachahmungstäter zu vermeiden, die sich durch die Zahlen ermutigt fühlen könnten.
Vor allem nach Veröffentlichung des Romans Nami no tō (Der Wellenturm) von Bestsellerautor Matsumoto Seichō im Jahre 1960, in dem die Protagonistin hier aus unglücklicher Liebe Suizid begeht, ist die Zahl der Selbstmorde sprunghaft angestiegen. 1993 veröffentlichte Wataru Tsurumi The complete Manual of Suicide, in dem der Aokigahara Forest als der perfekte Ort zum Sterben beschrieben wird. Das Buch ist in Japan ein Bestseller und wird immer wieder bei den sterblichen Überresten gefunden. Dabei reicht die Tradition der Selbstmorde, wenn man das so bezeichnen mag, viel weiter zurück. In den Zeiten der Samurai war der rituelle Seppuku, im Westen meistens als Harakiri bekannt, eine Möglichkeit, seine befleckte Ehre zurückzuerlangen. Außerdem folgte man so ehrenvoll seinem verstorbenen Herrn in den Tod. Auch unter Frauen war ritueller Suizid nicht ungewöhnlich, allerdings stach man sich dabei etwas damenhafter mit einer Haarnadel die Halsschlagader auf.
Aber schon von alters her gilt der Aokigahara als verflucht. Der Legende nach hat man in Zeiten des Hungers alte und kranke Familienmitglieder in den Wald geführt, um sie ihrem Schicksal zu überlassen. Die Yūrei, die Geister der Verstorbenen, sollen im Wald umhergehen und Menschen in den Wald locken, um sich umzubringen. Vor allem nachts soll man ihre Schreie hören können. Erhängen ist hier die häufigste Todesursache, gefolgt von Vergiftung mittels Drogen oder Medikamenten.
Bis heute ist der Suizid in Japan nicht in dem Maße tabuisiert, wie das in den westlichen Ländern der Fall ist. Er ist noch immer mit der Aura der Ehre behaftet, dass man Verantwortung übernimmt für sein Fehlverhalten, und so ist der Suizid nicht religiös oder gesetzlich verboten. Wenn man dazu noch den enormen beruflichen Erfolgsdruck und die zunehmende Vereinsamung auch unter jungen Leuten betrachtet, ist es letzten Endes kein Wunder, dass Japan zu den Industrienationen mit den höchsten Selbstmordraten zählt.

Und was habe ich erwartet?
Eigentlich nichts, denn die Toten werden kaum vorne auf dem Weg liegen, und als Kind habe ich viel im Wald gespielt, in den Sommerferien auch schon mal nachts. Ein Wald ist für mich daher nichts Unheimliches, sondern einfach ein schönes Stück Natur und hier außerdem eine prima Gelegenheit, der Großstadt Tokio einmal zu entfliehen und auch etwas vom Land und vielleicht den Fuji zu sehen, wenn es die Wolken zulassen.

IMG_8591In Kawaguchiko kaufen wir Tageskarten für den Touristenbus, der mehrere hübsche Strecken entlang der Seen Lake Kawaguchiko und Lake Saiko fährt. Wir nehmen die grüne Linie und steigen an der Saiko Bat Cave aus, um hier zunächst eine von Fledermäusen bewohnte Höhle zu besichtigen. Der Souvenirshop hat übrigens ein paar nette Goodies. Wir werden mit Helmen bewaffnet und können die Höhle auf eigene Faust erkunden. Auf dem Weg zur Höhle bekommt man schon einen guten ersten Eindruck vom Aokigahara. Die Helme sind tatsächlich bitter nötig, denn die Decke ist teilweise sehr niedrig, und wer daran Spaß hat, kann parallel zum eigentlichen Weg wie ein Höhlenforscher durch Engpässe kriechen und sich richtig schmutzig machen. Eine Gruppe Spanier ist typisch südländisch lautstark dabei und sorgt immer wieder für Lacher, wenn jemand steckenzubleiben droht.
IMG_8613Vom Parkplatz aus führt ein rund eine Stunde dauernder Wanderweg einmal durch einen vorderen Teil des Aokigahara zur Wind Cave. Schon nach wenigen Metern wird endgültig klar, das hier ist kein normaler Wald. Hier wird nicht von Forstarbeitern aufgeräumt, die Natur kann sich völlig frei entfalten und tut dies auch auf beeindruckende Weise. Manche Bäume wachsen völlig unnatürlich verdreht und wecken schon fast Erinnerungen an Geschichten von H. P. Lovecraft. Noch dazu bin ich nie zuvor in einem so dichten Wald gewesen, um uns herum ist eine beinahe undurchdringlich erscheinende grüne Wand. Die Straße hinter uns ist nicht nur aus dem Blickfeld verschwunden, sondern auch aus dem Gehör. Wir hören nichts mehr außer den Geräuschen, die wir selbst verursachen. Die Stille ist förmlich greifbar, und nichts ist in dem Zusammenhang zutreffender als Totenstille. Und trotz des schönen Juli-Sommertages ist es hier insgesamt eher dunkel. Der Wald steht ja auf ehemaligen Lavafeldern vom Fuji, und so ist der Waldboden immer wieder aufgerissen und zeigt größere Löcher und kleine Höhlen, mal mehr und mal weniger zugewuchert. Wie tief mag es da hinein gehen? Die düstere Atmosphäre dieses Waldes ist einmalig, geradzu mystisch. Diese Löcher machen es aber auch gefährlich, die Wege zu verlassen, da man ohne weiteres plötzlich in eine dieser Höhlen einbrechen kann. Außerdem soll das Lavagestein zum Teil stark eisenhaltig sein, was eine Orientierung mittels Kompass unmöglich macht. Auch GPS soll wegen der dichten Vegetation nicht funktionieren. Wir haben aber weder Kompass noch Handy dabei und können das nicht prüfen.
Nach ca. halber Strecke kommen wir an eine Wegkreuzung und bleiben stehen, um uns kurz zu orientieren, denn auf gar keinen Fall wollen wir uns hier verlaufen. Da wir ja allein auf eigene Faust unterwegs sind, würde uns niemand vermissen oder suchen. Aber nur dreißig Sekunden später tauchen hinter uns plötzlich die lautstarken Spanier wieder auf – und wir haben geglaubt, wir wären völlig allein im Wald! Wir haben sie weder gesehen noch gehört, und spätestens jetzt ist uns richtig mulmig zumute, denn das ist wirklich unheimlich. Wie kann das sein? Der Aokigahara schluckt wirklich alle Geräusche. Wir biegen links ab, die Spanier nehmen rechts den kürzeren Weg zurück, wir sind also wieder allein. Der Weg wird immer schmaler, und es geht auch schon mal über umgestürzte Baumstämme hinweg und sogar mitten hindurch, hier sind also generell nur noch sehr wenige Touristen unterwegs. IMG_8620In diesem Abschnitt entdecken wir auch die ersten Baummarkierungen mittels Klebeband und Schnüren. Irgendwie unheimlich, denn diese werden von Suizidwilligen angebracht, die sich ihres Vorhabens noch unsicher sind, sodass sie gegebenenfalls wieder zurückfinden können. Denn auch wenn es unglaubwürdig klingt: Geht man nur zehn Meter seitlich in den Wald hinein und dreht sich dann um, dann sieht man den Weg nicht mehr. Dabei ist es wahnsinnig verlockend, tiefer in den Wald zu gehen. Es ist übrigens nicht verboten hier zu zelten. Manche Menschen verbringen daher Tage oder gar Wochen im Wald, bevor sie eine endgültige Entscheidung für oder gegen das Leben treffen.

Wir gelangen schließlich zur touristisch besser erschlossenen Wind Cave, die nur eine von unzähligen Höhlen im Gebiet ist. Hier ist deutlich mehr los, und inmitten der Menschen auf dem Weg und im Sonnenschein kommen uns die Erlebnisse kurz zuvor unwirklich vor. Zur Höhle geht es fünfzehn Meter eine steile Treppe hinunter. Auf halber Treppe müssen wir innehalten und Jacken aus dem Rucksack holen, denn von einer Stufe zur nächsten fegt ein wahrlich eiskalter Wind vorbei und unterstreicht damit den Namen der Höhle. Im Inneren ist selbst jetzt im Hochsommer jede Menge Eis vorhanden, kein Wunder bei nur drei Grad Innentemperatur. Nicht weit entfernt liegt auch noch die Ice Cave, aber auf die verzichten wir danach dankend. Zurück auf dem Parkplatz entdecken wir ein IMG_8637Auto, das von der Spurensuche der Polizei gerade völlig auseinandergenommen wird. Der erste naive Gedanke ist noch „Was machen die da?“, aber dann wird klar, hier ist jemand nicht aus dem Wald zurückgekehrt. Steht ein Auto hier ein paar Tage unberührt herum, wird routinemäßig nach Spuren gesucht, um die Identität der vermissten Person in Erfahrung zu bringen. Urplötzlich sind wir viel dichter an diesem Suizidthema dran, als wir uns das daheim hätten vorstellen können. Trotzdem gehen wir zum Ausgangspunkt des nächsten Wanderweges, der ein paar Meter weiter beginnt. Hier wurde ein Hinweisschild aufgestellt, das lebensmüde Menschen vom geplanten Suizid abhalten soll, in dem es an die Familie erinnert. Für eine weitere große Runde fehlt uns die Zeit, aber auch hier gehen wir in den Wald hinein und sind sofort wieder allein. Die landschaftliche Szenerie ist wie im ersten Teil, allerdings entdecken wir hier sehr schnell die schon beschriebenen Baummarkierungen. Es gibt hier deutlich mehr davon, und die Neugier zieht uns immer weiter bis zur nächsten Wegbiegung. Als ich einen kleinen und kaum sichtbaren Trampelpfad entdecke, der vom Hauptweg wegführt, halte ich die innere Anspannung nicht mehr aus. Ich muss da entlanggehen, irgendetwas zieht mich förmlich magnetisch da hinein. Da wir zu zweit sind, habe ich ja noch einen Orientierungspunkt, um zum Weg zurückzufinden. IMG_8646Nach zwanzig Metern endet der Pfad im Nichts, aber ich finde altes und verlassenes Kochgeschirr. Irgendjemand hat sich hier geschützt in einer Bodensenke eine letzte Mahlzeit zubereitet, ich sehe die Überreste eines vergangenen Lebens. Damit hatte ich nicht gerechnet. Mich befällt eine tiefe Traurigkeit. Warum so viele, warum gerade hier? Ich beginne langsam zu verstehen. Der Tod ist für mich plötzlich in einer Art und Weise greifbar geworden, wie ich es bislang noch auf keinem Friedhof verspürt habe. Rational betrachtet sind meine Gefühle nicht nachzuvollziehen. Eigentlich glaube ich nicht an Geister, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Habe ich den Ruf der Yūrei vernommen, die mich in den Wald locken wollen? „A Forest“ von The Cure könnte exakt hierfür geschrieben worden sein, der Text passt perfekt. Ich reiße mich aus meiner Starre und kehre zum Weg zurück, denn ich will nicht noch mehr als nur Kochgeschirr finden, und auf gar keinen Fall will ich nach Einbruch der Dunkelheit noch in diesem Wald sein.

Der Aokigahara Forest ist ein magischer Ort von bezaubernder Schönheit und erscheint auch mir jetzt als ein perfekter Ort für einen Suizid. Wenn man es nicht will, dann wird man hier nicht gefunden. Die Totenstille hilft einem, sich auf sich selbst zu fokussieren und sein Leben noch einmal Revue passieren zu lassen. Die Nähe zum Fuji, der für die Japaner ein heiliger Berg ist, ist sicherlich auch von großer Bedeutung, denn er spendet zum einen Trost für erlittenes Leid, zum anderen Kraft für das Vorhaben. Außerdem ist man ja in diesem Wald irgendwie nicht allein. Die Tatsache, dass so viele Menschen vor einem hier ihr Leben beendet haben, schafft eine Art Gemeinschaftsgefühl, das die unter Vereinsamung leidenden Japaner wahrscheinlich lange nicht gespürt haben. Wenn man dafür empfänglich ist, dann kann man die Traurigkeit fühlen, vor allem, wenn man alleine unterwegs ist. Ist die Traurigkeit ohnehin und vielleicht auch nur unterbewusst in einem vorhanden, kann diese auf verhängnisvolle Weise verstärkt werden. Das ist wohl etwas, das man mit dem Ruf der Yūrei umschreiben kann.

Ich bin mir bewusst, dass mein Bericht teilweise ziemlich irrational klingt, aber ich kann nur meine Gefühle beschreiben, wie ich sie erlebt habe. Und dennoch: Sollte ich noch einmal nach Japan kommen, so möchte ich definitiv noch einmal in den hinteren Teil des Waldes tiefer eindringen. Ich spüre eine drängende Sehnsucht, die mich dorthin zurückzieht. Wie bei so vielen zuvor hat der Aokigahara auch meine Seele berührt, aber ich weiss, dass das nicht ungefährlich ist. Ich darf die Wege nicht verlassen.

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