Eins, zwei, drei, Peter kommt vorbei …

 

Avalon liegt im Sterben. Die einst friedliche Insel, Heimat von Elfen, Feen und sonstigen Fabelwesen, ist von einer Krankheit befallen, die von den Bewohnern nur die Geißel genannt wird. Ausgelöst wurde die Geißel von den Fleischfressern, schwarzhäutigen Dämonen, die seit Jahrhunderten Krieg gegen die Dame, Herrin von Avalon führen. Immer mehr Teile der Insel fallen der vernichtenden Seuche und den Fleischfressern zum Opfer. Die Lage scheint aussichtslos. Der Hof der Dame hat sich auf Anordnung von Lord Ulfger, dem Sohn des Gehörnten, verbarrikadiert und verschließt die Augen vor der Lage.

Avalons Hoffnungen und Zukunft liegen auf den Schultern von Peter, dem Kinderdieb. Der spitzohrige rothaarige Junge lebt schon seit mehreren hundert Jahren auf der Insel. Als Kind musste er miterleben, wie die Menschen ihn im Wald aussetzten und seinen Ziehvater brutal ermordeten. Darum hegt er für Erwachsene nicht besonders viele Sympathien. In den Kindern unserer Welt sieht Peter jedoch dieselbe Magie, die auch Avalon innewohnt. Genau deswegen werden sie vom Kinderdieb gestohlen.
Peter führt die Kinder, die er stiehlt, durch den Nebel nach Avalon. Dieser wurde von der Dame Mordon um die Insel gelegt, um sie von der Außenwelt abzuschirmen. Im Nebel hausen schreckliche Kreaturen, Gefallene des Krieges zwischen Menschen und magischen Wesen.

Auch Nick durchschreitet den Nebel. Er wurde von Peter aufgegabelt, nachdem er von einem Dealer Drogen im Wert von mehreren tausend Dollar gestohlen hatte. In New York gibt es für Nick keinen sicheren Ort mehr, also beschließt er, dem geheimnisvollen Peter durch den Nebel zu folgen. Keine allzu gute Idee, wie sich herausstellt, denn es gelingt Nick gerade so, die Schrecken hinter sich zu lassen und Avalon zu erreichen.
Dort kommt der Junge vom Regen in die Traufe, denn er wird von den Teufeln gefangen genommen. Die Teufel sind Peters Armee, aufgestellt aus den Kindern, die er über die Jahre gestohlen hat. Die Magie der Insel bewirkt, dass selbst Kinder wie Sekeu, eine Indianerin aus der Zeit der Kolonialisierung, noch im selben Alter wie bei ihrer Ankunft sind.
Nick sieht sich wohl oder übel dazu gezwungen, sich den Teufeln anzuschließen, denn in den Wäldern der Insel würde er alleine schnell den Tod finden. Eine anstrengende Ausbildung beginnt für den Jungen. Eine Ausbildung, die ihn auf das unvermeidbare Ende des Konfliktes vorbereiten soll. Denn am Schluss heißt es Sieg oder Tod für die Bewohner von Avalon.

Urbanes Dark-Fantasy-Spektakel der Extraklasse

Wer bei Der Kinderdieb eine fröhliche Disney-Peter-Pan-Geschichte erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Broms Peter ist ein kaltblütiger Mörder, der das Blutvergießen, das er regelmäßig veranstaltet, sichtlich genießt. Schon seine Kindheit ist, wie bereits erwähnt, nicht die rosigste. Er ist schon wenige Wochen nach seiner Geburt auf sich alleine gestellt, muss sich mit Wölfen und Erwachsenen herumschlagen. Für Avalon würde Peter alles opfern. Die Kinder, die ihm freiwillg folgen, da es meist soziale Außenseiter oder Straßenkinder sind, würden für ihn in den Tod gehen, und ihr Anführer würde sie auch ohne mit der Wimper zu zucken gehen lassen. Die Teufel schlagen in dieselbe Kerbe wie ihr Anführer: Sie sind ausgebildete Killer, deren einziger Lebensinhalt es ist, für die Dame zu töten. Avalon ist eine dem Untergang geweihte Insel, entsprechend düster ist auch das Szenario.
Brom hat sich an der Original-Version von Peter Pan orientiert, die ebenfalls äußerst gewalttätig und finster war. Der Kinderdieb ist aber trotzdem keine Nacherzählung des Stoffes, sondern eine eigenständige Geschichte. Das ist auch gut so, denn so macht das Buch noch mehr Spaß.
Der Autor bedient sich neben Peter Pan auch bei der Mythologie Großbritanniens. Avalon selbst ist wohl jedermann aus der Artussage bekannt, die Dame Mordon kommt ebenfalls in Sagen und Legenden vor, ebenso wie der Schöpfer von Avalon, der Gott Avallach. Doch auch ohne mythologische Kenntnisse versteht man die Figuren und Gegenstände, die Brom in sein Buch eingebaut hat.

Trotz oder eben gerade wegen dieser Bestandteile aus Mythologie und Literatur ist Der Kinderdieb ein geniales Buch. Brom schreibt fesselnd und detailreich, die Sprache ist klar und verständlich, seine Charaktere sind glaubhaft und machen ebenso glaubhafte Entwicklungen durch. Positiv zu erwähnen sind auch die detailierten Zeichnungen von Orten und Personen, die auch in der eBook-Fassung sehr gut zur Geltung kommen. Alle Zeichnungen wurden von Brom persönlich angefertigt.
Wer Der Kinderdieb liest, den erwartet ein blutiges Dark-Fantasy-Spektakel, das über weite Teile spannend ist, nur ab und an schleichen sich ein paar Längen ein, doch die vergehen meist schnell, und dann ist wieder Action angesagt. Deshalb: Volle Punktzahl.
Es sei allerdings davon abgeraten, dieses Buch für Kinder zu erwerben, denn wie bereits gesagt: Es ist nicht Disney-Peter Pan, es ist Brom-Peter Pan. Das Buch beginnt schon mit dem Missbrauch eines kleinen Mädchens durch ihren Vater, und es wird nicht viel positiver. Abgetrennte Gliedmaßen sind keine Seltenheit, und am Ende bleibt nur eine Handvoll Charaktere übrig.

Brom, Jahrgang 1965, wurde in Albany im amerikanischen Bundesstaat Georgia geboren. Da sein Vater Pilot bei der U.S. Army war, verbrachte Brom einen Teil seiner Jugend im Ausland, unter anderem in Japan und Deutschland, wo er zur Schule ging; aus dieser Zeit rührt auch seine Angewohnheit her, seinen Vornamen nicht zu benutzen. Bereits mit 21 arbeitete Brom als Illustrator für Firmen wie Coca-Cola und IBM. Später begann er, sich auf die visuelle Umsetzung von Rollenspielen wie Dungeons & Dragons und anderer Fantasywelten zu konzentrieren; er schuf außerdem Sammelkarten für Spielsysteme wie Magic: The Gathering und arbeitet für zahlreiche Verlage und Computerspielhersteller. Brom hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht und lebt heute mit seiner Familie in Seattle. (Quelle: Droemer-Knaur Verlag)

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Brom: Der Kinderdieb
Droemer Knaur Verlag, 2011
664 Seiten
10,99 € (eBook)
Droemer Knaur
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