Ein Trip durch die Hölle

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Edward Dunford ist ein junger, aufstrebender Gerichtsreporter im Norden Englands, seiner Heimat, in die er nach einigen Lehrjahren in der Londoner Fleet Street – dem Zentrum der englischen Presse – gerade zurückgekehrt ist. Er hat bereits einen großen Fall in seiner Karriere bearbeitet und dafür Ruhm und Ehre eingeheimst. An seinem ersten Arbeitstag im Dezember 1974 in der Redaktion der Yorkshire Post schlägt ihm allerdings wenig Sympathie von den alteingesessenen Platzhirschen entgegen. Außerdem hat er gerade erst seinen Vater beerdigt. Umso energischer stürzt er sich daher in die Recherchen zu seinem vermeintlich ersten bedeutenden Fall hier im Norden: Am Tag vor seinem Dienstantritt ist die zehnjährige Clare Kemplay auf dem Heimweg von der Schule verschwunden, die Ermittlungen der Polizei laufen auf Hochtouren. Doch wieso scheint Eddie der einzige zu sein, der hier Verbindungen zu zwei weiteren in den letzten fünf Jahren verschwundenen kleinen Mädchen sieht? Wieso nimmt ihn keiner seiner Vorgesetzten, niemand Ranghöheres von der Polizei ernst? Als Clare Kemplay kurz darauf missbraucht und grausam ermordet auf einer Baustelle aufgefunden wird, stürzt sich Eddie kompromisslos und auf eigene Faust in die Recherchen und sticht damit in ein Wespennest aus Korruption, personellen Verflechtungen auf höchster Ebene, Erpressung und Gewalt. Seine Ermittlungen führen ihn in die höchsten Kreise von Polizei und Stadtverwaltung, und diese Menschen wollen ihre Geheimnisse um jeden Preis wahren. Nach einem elftägigen Albtraum, in dem Eddie unzählige Male verprügelt, gedemütigt und bedroht wird und viele Menschen sterben, stößt er schließlich auf den wahren Mörder der Mädchen. Frieden bringt ihm dies jedoch nicht.

1974 ist wahrlich kein einfach zu lesendes Buch. Die Handlung ist hart, brutal, erbarmungslos, die Atmosphäre düster und hoffnungslos, die Sprache dementsprechend verknappt, assoziativ, schnell. Ein Hard-boiled-Thriller par excellence, der auf jeder Seite den Geist des großen Meisters dieses Genres, James Ellroy, atmet. Leider mangelt es dieser Verneigung vor dem großen Vorbild meiner Meinung nach massiv an Eigenständigkeit und vor allem der Finesse solcher Romane wie Die schwarze Dahlie, sondern bedient sich allzu sehr der bewährten Versatzstücke des Genres. Ein einzelkämpferischer Ermittler – in diesem Fall ein junger Gerichtsreporter –, der sich gegen alle Widerstände in einen Fall verbeißt und von allen Seiten dafür Schläge und Drohungen kassiert; eine düstere, hoffnungslose Atmosphäre aus Gewalt, Verbrechen, Leid und Brutalität; ein desillusioniertes Menschenbild.

Die dazugehörige Sprache ist dementsprechend wenig feinfühlig, und je öfter ein Fäkalausdruck oder ein Schimpfwort in einem Satz verwendet wird, desto authentischer will sich das Buch geben. Stakkatohafte, verknappte Sätze, häufige Perspektivenwechsel in diesem eigentlich von einem Ich-Erzähler dominierten Text, eine schwer überschaubare Menge an handelnden Personen und hohe Dialoglastigkeit machen es dem Leser anfangs schwer, sich auf das Buch einzulassen. Seine besten Momente hat 1974 aber tatsächlich, wenn es nicht mit Gewalt einen auf dicke Hose machen möchte, sondern fast so etwas wie ein stringent erzählter Journalistenthriller wird, wenn der Autor auch mal erzählt und dem Leser die Chance gibt, Eddies Ermittlungen folgen zu können. Dann entwickelt das Buch etwas von der in vielen Rezensionen angepriesenen Größe, und man kann sich von der höllischen Atmosphäre dieser elf Tage gefangen nehmen lassen.

Schwerer noch als die Sprache fiel mir allerdings, einen Zugang zur Hauptfigur Eddie zu finden – auch wenn dieser Zugang wahrscheinlich gar nicht vorgesehen war und ich nur danach gesucht habe. Das gesamte Personal des Buches handelt oft sehr impulsiv, irrational und grundsätzlich gewalttätig – ob verbal oder tätlich –, und Eddie macht da keine Ausnahme. Er ist das lebende Klischee eines Reporters vergangener Zeiten, sein Leben besteht aus Rauchen, Kotzen, Saufen, Verprügelt werden, niemals Wasser an sich lassen oder gar Schlafen, zwischendurch die von ihm schwangere Freundin abservieren, eine andere Frau vögeln (die ihn trotz seines verwahrlosten Zustandes natürlich sexy findet) und und und. Und der irgendwie nebenher einer wirren Story nachjagt, die der Leser nicht unbedingt in allen Einzelheiten nachvollziehen können muss.

Aber: Ich will das Buch nicht vollkommen verreißen, es ist ein Debüt, von dem aus der Autor sich definitiv noch weiterentwickeln kann. Für James-Ellroy-Jünger ist es auf jeden Fall eine lesenswerte Lektüre, und wenn man die ersten verwirrenden hundert Seiten, in denen einem Personen, Schauplätze und Ereignisse rücksichtslos um die Ohren gehauen werden, hinter sich gebracht hat, liest es sich auch recht spannend. Mir allerdings blieb das Buch – für mich bedingt durch die Sprache des Autors, die an einigen Stellen auch durchaus verbesserungswürdig zu übersetzen gewesen wäre – immer zu sehr an der Oberfläche, hat mich trotz der explizit dargestellten Gewalt nicht berührt. Meine Art von Thriller ist es definitiv nicht, doch davon soll sich niemand abhalten lassen, dem Buch eine Chance zu geben. „Die Zukunft des Kriminalromans“, wie Ian Rankin vollmundig auf dem Cover von 1974 verkündet, sehe ich darin allerdings wirklich nicht.

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David Peace (geb. 1967) stammt aus Yorkshire, England und schreibt überwiegend Kriminalromane. Er arbeitete lange Jahre als Englischlehrer in Istanbul und Tokio und lebt seit einigen Jahren mit seiner japanischen Frau und zwei Kindern wieder in England. Sein Werk umfasst mittlerweile eine Vielzahl von Romanen – darunter das bekannte „Red Riding Quartett“, dessen Auftakt 1974 bildet –, die alle mehr oder weniger genau auf realen Ereignissen, wie z.B. den Morden des Yorkshire Rippers Peter William Sutcliffe (beim „Red Riding Quartett“) basieren.
Seine Werke wurden international ausgezeichnet, außerdem erhielt er u.a. bereits zweimal den Deutschen Krimipreis.

Verlag: Heyne Hardcore
Format: TB, 384 Seiten
Originaltitel: NINETEEN SEVENTY FOUR
Übersetzung: Aus dem Englischen von Peter Torberg
Preis: € 8,95

 

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