Der Charles Manson von Sparta, New Jersey

New Jersey, Juni 1964. Ray ist mit zwei Freunden unterwegs und trifft auf ein – wie er annimmt – junges Lesbenpärchen im Wald. Aus einer Laune heraus schleicht er sich nachts an deren Lager und will sie erschießen. Eine junge Frau ist sofort tot, die andere liegt vier Jahre im Koma, bis sie endlich stirbt. Doch dem Schützen ist nichts nachzuweisen.
August 1969. Mittlerweile ist Ray beliebt bei den Frauen im beschaulichen Sparta und nimmt, was er kriegen kann. Er dealt mit Haschisch, kokst und ist auch sonst kein angenehmer Zeitgenosse. Vor seinen Wutausbrüchen haben vor allem die langjährigen Freunde Tim und Jennifer Angst. Als zwei Frauen ihn abblitzen lassen und Jennifer auch nicht mehr mit Ray ins Bett gehen will, rastet er aus. Sein Amoklauf durch Sparta beginnt und fordert viele Opfer…

„The Lost“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Nur eine Woche nach den Charles-Manson-Morden läuft Ray Pye Amok und tötet sieben Menschen auf grausame Weise. Das Buch beginnt allerdings mit den ersten Morden an den zwei scheinbaren Lesben. Ray hat einfach mal Lust drauf, einen Menschen zu töten, weil er die Macht spüren will. Ein Mädchen kann fliehen und liegt vier Jahre lang im Koma. Ist nicht so gut gelaufen, denkt er. Nicht, weil die junge Frau vielleicht leidet, sondern weil sie vom Tatort flüchten und ihn womöglich als Täter identifizieren könnte – wozu es jedoch nie kam.
In einem langen Teil erzählt Jack Ketchum die Woche vor dem Amoklauf. Pye, seine Freunde und die Frauen Sally und Katherine, die er neu kennenlernt und unbedingt flachlegen will, werden beschrieben. Es gelingt, ein perfektes Bild des Seelenlebens der Hauptakteure darzustellen und ihre Perspektivlosigkeit zu beschreiben. Jennifer hat keinen Abschluss und braucht den spendablen Ray, der Haschisch verkauft, das Tim von einem Postfach abholt. Sally sucht einen Job für den Sommer und schmeißt zweimal hin, zusätzlich hat sie eine Affäre mit einem erheblich älteren Expolizisten. Und Katherine? Ihre Mutter ist schizophren und in einer Klinik, ihr Vater ist wohlhabend und sie scheint sehr genau zu wissen, was sie will. Als ihre Mutter jedoch stirbt und Katherine für Ray nicht verfügbar ist, wird er sauer und ihm fehlt das Verständnis dafür.
Ketchums Erzählung wird immer durchbrochen von kurzen Berichten über Gimp, einer heimatlosen Katze. Das lockert ein bisschen auf. Denn obwohl über zweihundert Seiten nicht wirklich viel passiert, bauen sich Spannung und Unbehagen auf. Man spürt, dass Ray irgendwann ausrasten muss. Er ist latent aggressiv und der Autor kann dies sehr gut vermitteln. Zwischendurch geschehen die Manson-Morde, ein kleine Zwischenspiel scheinbar, doch was alle in Entsetzen stürzt, fasziniert Pye – und als er später ausrastet, scheint er eben genau diese Morde nachstellen zu wollen. Vor nichts und niemandem weicht er zurück, als er die Waffen nimmt, ins Auto springt und seine drei Frauen entführt – eine Blutspur hinter sich herziehend.
Das Buch hat mich gefesselt und berührt. Die Brutalität und die Kälte, die Ray umgeben werden derart drastisch dargestellt, dass man glaubt, man kenne ihn. Ein faszinierendes Werk, für das Ketchum allem Anschein nach viel recherchiert hat, um so weit wie möglich am wahren Geschehen zu bleiben. Im Gegensatz zu „Evil“ ist sein neuester Roman nicht durchgehend grausam, sondern hat zu Beginn und zum Ende hin seine blutigen Momente. Dazwischen gelingt mit viel sprachlichem Feingefühl ein Seelenstriptease der verlorenen Protagonisten.

„Wir sollten sie abknallen. Du warst nie jagen, Jen, deshalb kannst du das nicht verstehen. […]Man sieht es in ihren Augen. In einem Moment ist alles okay […]. Und im nächsten Moment sind sie in der Karnickelhölle.“ (The Lost, S. 13)

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Jack Ketchum – The Lost
Heyne-Hardcore, 2011.
432 Seiten
19,99 €, Gebundene Ausgabe.
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