Träume von Freiheit

Kaum jemand kann sich an die letzte Landung der fliegenden Stadt Rashija erinnern. Die Gesellschaft  funktioniert in den vom Herrscher vorgegebenen Bahnen, jeder hat seinen Platz. So versteht der junge Schreiber Adeen – wegen seiner schwarzen Hautfarbe von den bunt schillernden Magiern nur „Krähe“ genannt – die Welt nicht mehr, als er durch Zufall in eine Rebellengruppe gerät, die an der althergebrachten Ordnung rütteln will. Jahrelange Demütigung durch die Himmelsmagier von Rashija machen ihn empfänglich für den Gedanken an Freiheit und Gleichheit unter den Bürgern, vor allem das strikte Verbot jeglicher Kunst bedrückt den verträumten jungen Mann. So schließt er sich der Gruppe an, deren Ziel simpel und gleichzeitig unerreichbar scheint: Die fliegende Stadt bei ihrer kurz bevorstehenden Landung verlassen. Doch was sie in der erträumten Freiheit erwartet, welche Macht in Adeen schlummert und welche Konsequenzen damit für die Stadt verbunden sind, hätte niemand geahnt.
High Fantasy ist eine Genrebezeichnung, mit der aufgrund des enormen Erfolgs von Werken wie Der Herr der Ringe heute leider geradezu inflationär um sich geworfen wird. Jeder, der sich berufen fühlt, eine Geschichte über Zauberer und Elfen zu schreiben, ist plötzlich der neue Tolkien. Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich mit dieser Art von Büchern in den letzten Jahren vorsichtig geworden, doch mit Kaja Everts Flügel aus Asche ist ein Roman in den Buchläden gelandet, der die Bezeichnung High Fantasy mehr als verdient hat. Eine neue Idee trifft auf große Liebe fürs Detail, einen flüssigen, aber nicht flapsigen Schreibstil und ein großes Talent, Atmosphäre zu schaffen. Die Charaktere sind ausnahmslos liebevoll und ausführlich gezeichnet, bleiben stets nachvollziehbar und – jeder auf seine Art – sympathisch.
Adeen ist kein heroischer Weltretter, der aus der Gosse aufsteigt und plötzlich alles kann. Stattdessen sind seine Gedanken stets von Selbstzweifeln und Angst begleitet, besonders bezüglich der dunklen Macht, die in seinem Inneren zu leben scheint. Er lernt nur langsam, sie unter Kontrolle zu bringen, und fürchtet sich teilweise vor sich selbst. Seine Skrupel, selbst in Kämpfen um Leben und Tod, einen wehrlosen Gegner zu töten, machen ihn zu einem vielleicht naiven, aber rundum positiven und lebensbejahenden Charakter.
Dezent eingeflochten ist eine Romanze, die zwar stets präsent bleibt, aber nur selten in den Vordergrund rückt, was die Handlung im Ganzen umso ernster und gravierender macht, immerhin befindet man sich über weite Teile der Geschichte in Rebellion oder Krieg. Die Wirren und das Chaos dieses Zustandes kann Evert ohne rosa Brille darstellen: Jeder kämpft um sein Leben, seine Ideale, seine Freiheit. Es gibt nur eine oberflächliche Einteilung in Gut und Böse, denn Krieg ist keine saubere Heldengeschichte – er ist kalt, grausam und erbarmungslos. Dem jahrelang unterdrückten Bodenbewohner ist egal, dass der kleine Junge aus der fliegenden Stadt ihm nichts getan hat, so wie den Himmelsmagiern über Generationen hinweg die eigene Überlegenheit und Herrschaftsgewalt über die Erdgeborenen eingeimpft wurde. Wer ist also aufgrund seiner Überzeugung nun der Böse? Adeen erkennt – womöglich als einziger – genau dieses Dilemma, und steht ihm doch hilflos gegenüber.
Flügel aus Asche besticht schon auf den ersten Seiten durch die Schilderung der Stadt Rashija, die sich ihren Weg durch den Himmel bahnt. Wie zauberhaft klingt diese Idee, was für ein uralter Traum der Menschheit, die Gravitation zu überwinden und sich in die Wolken zu erheben. Der Kontrast zu Adeens Welt könnte kaum größer sein, der sich als ein Gefangener der Stadt und ihrer Gesellschaft nichts Schöneres vorstellen kann, als den Boden unter ihm. Dass dieser Wunsch der Macht in seinem Unterbewusstsein die Gestalt eines Vogels gibt, ist naheliegend.
Malerei und Farbsymbolik sind präsente Motive des Romans, sowohl ihre Abwesenheit in der Stadt als auch ihre umso größere Präsenz in Adeens Träumen. Evert versteht es ausgezeichnet, Stimmungen und Atmosphäre in Farben zu kleiden und dem Leser so auf einer ganz anderen Ebene näher zu bringen. Am Boden beinhaltet auch der Herbst und beginnende Winter eine ganz eigene Symbolik von Vergänglichkeit, Schwäche, Trauer, gleichzeitig aber die Vorbereitung auf eine Rückkehr des Frühlings, wenn man die dunkle Zeit erst überstanden hat.
Flügel aus Asche steigt schnell in eine aufregende Geschichte ein und spart sich eine langatmige Einführung des Lesers in eine neue Fantasy-Welt. Stattdessen wird er mitgerissen und ich war überrascht, wie schnell Evert in der Handlung voranschreiten kann, ohne dabei den Blick für Details zu verlieren. Auf rasanten 444 Seiten führt sie durch Rebellion, Flucht, Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit – und das reicht vollkommen aus. Sie beweist eindrucksvoll, dass ein epischer High-Fantasy-Roman vollkommen ohne Elben und Zwerge auskommt und keine 1000 Seiten braucht.
Ein absolutes Muss für Genre-Fans und ein Talent, an dem so mancher Autor sich ein Scheibchen abschneiden könnte. Hoffentlich werden wir noch einiges von Kaja Evert zu lesen bekommen!
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Knaur, Taschenbuch, 2013
444 Seiten
9,99 €
Ebook: 9,99 €

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