Der Schmerz ist ein Nebeneffekt des menschlichen Körpers, der so mangelhaft ist, dass man wesentliche Verbesserungen nur erreicht, wenn man das Vorhandene ausrangiert und ganz von vorne anfängt.

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Charlie Neumann ist ein Genie und am liebsten bei der Arbeit. Er entwickelt für den riesigen Techno-Konzern Better Future Kunststoffe, eine Tätigkeit, die es ihm erlaubt, wenig mit anderen Menschen in Kontakt treten zu müssen. Zu dumm, dass er Schlafen, Essen und Kacken muss, überhaupt ist sein Körper seinem Verstand eigentlich nur ein Klotz am zerebralen Bein. Dieser Zustand wird sogar noch schlimmer, als Charlie einen Arbeitsunfall erleidet, bei dem ihm eine riesige Presse ein Bein amputiert. Nicht, dass ihn der Verlust einer Gliedmaße sonderlich nahe ginge, wesentlich schlimmer sind die in seinen Augen vollkommen unzureichenden Prothesen. Warum ein Bein mangelhaft nachbilden, wenn man doch ein besseres bauen könnte? Wieder zurück an seinem Arbeitsplatz demontiert Charlie das verhasste Ersatzbein, um es anschließend zu überarbeiten. Jetzt ist sein künstliches Bein besser als das natürliche, das ihm geblieben ist – der Fall ist klar: Das Bein muss ab!

Als die Geschäftsleitung von Better Future auf das ungeheure finanzielle Potenzial aufmerksam wird, das in „Better Legs“ steckt, verzichtet sie darauf, Charlie als potenziellen Selbstmörder zu feuern und bietet ihm statt dessen einen riesigen Mitarbeiterstab, die allesamt beginnen, bessere Körperteile herzustellen. Der Technik scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, eine neue Generation von Supersoldaten ist bereits in Sicht – doch dann stellt Charlie fest, dass seine Beine nicht mehr so wollen wie er. Und seine Hand. Und seine Augen… Und was hat Lola Shanks, seine Prothetikerin, mit den plötzlichen Fehlfunktionen zu tun?

„Mein Körper sollte endlich einsehen, dass ich von inneren Organen keine Befehle entgegennahm. Ich war ein Bewusstsein, das von einem biologischen Wirt versorgt und unterstützt wurde, nicht umgekehrt. Diese selbstsüchtigen Klumpen aus Fleisch und Synapsen sollten sich gefälligst an das Programm halten, denn wenn es hart auf hart ging zwischen ihnen und mir, saß ich sicher am längeren Hebel.“

Max Barry entwirft hier mit bitterbösem Sarkasmus eine Geschichte, die nicht so unrealistisch ist, wie sie auf den ersten Blick wirkt. Pharmakonzerne, das Verteidigungsministerium und nicht zuletzt die eifrigen Forscher selbst würden alles, aber auch wirklich alles dafür tun, sich zu „verbessern“. Was als Projekt beginnt, bei dem sich noch alles um das Wohl kranker, behinderter Menschen dreht, endet schnell bei Geldmacherei, vollkommener Rücksichtslosigkeit dem Menschen gegenüber und bei der Absenz jeglicher Moral. Aus perversem Wetteifern der Forschungsgruppen darüber, wer sich am schnellsten die großartigsten Verbesserungen einbauen/ einpflanzen/ einsetzen lässt, wird sehr schnell blutiger Ernst, an dessen Ende ein Wesen steht, das nicht mehr Mensch, nicht Maschine ist, sondern eine groteske Schöpfung, geboren aus einer Idee, die eigentlich mal gut war. Wie genau die Wissenschaftler von der Bahn abkamen, die einzelnen Schritte des moralischen Verfalls, das Wegbewegen von einer Idee, die eigentlich einmal dazu gedacht war, anderen zu helfen, hin zu einem vollkommen übersteigerten, sich verselbstständigenden Gemetzger verfolgt Barry mit jeder Menge Scharfsinn und Zynismus, und man folgt atem- und fassungslos dem Geschehen. Und fragt sich automatisch, inwiefern der Wahn nach dem perfekten Aussehen, der hunderte Menschen jedes Jahr in die Änderungsfleischerei treibt, nicht so etwas wie eine Vorstufe des Szenarios darstellt, das Barry uns hier präsentiert…? Andererseits, seien wir doch einmal ehrlich: Wenn wir die Möglichkeit hätten, mit hydraulischen Superbeinen meterweit zu springen oder wie Iron Man zu fliegen, wäre das nicht unglaublich cool? Wenn man mittels spezieller Kontaktlinsen und neuronalen Schnittstellen darauf verzichten könnte, Brillen zu tragen, und wir außerdem mit den eigenen „Besseren Augen“ wie bei einer Kamera zoomen könnten, das wäre doch etwas, oder? Und was wäre, wenn…? Verlockend, nicht? Hier steht das technisch Mögliche gegen die inneren Grenzen des menschlichen Selbstverständnisses.

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Nicht zuletzt Charlie, der vollkommen absurde, beinahe autistisch-geniale Protagonist, trägt zum absoluten Lesevergnügen bei. Es macht wahnsinnig viel Spaß, seine kruden Ideen mitzudenken. An diesem höchst eigenwilligen Charakter werden auch andere Problemfelder deutlich, die Maschinenmann anschneidet; etwa die Frage, wann man aufhört, ein Mensch zu sein, oder das Verhältnis zwischen Körper und Geist – alles im Grunde genommen klassische Fragen der Science-Fiction-Literatur, zu der ich zwar Maschinenmann nicht unbedingt zählen würde, bei der sich Barry aber durchaus bedient. Spannend bis zum Schluss bleibt Charlies Kampf mit und gegen sich selbst, seine innere Haltung zu sich selbst und die Veränderungen, die diese Haltung durchläuft.

Wer jetzt allerdings denkt, Maschinenmann sei eine pseudophilosophische Abhandlung, geht fehl. Denn neben all diesen Fragen und Problemen gibt es eine Menge Action mit Cyborg-Wachmännern, Supersoldaten mit verbesserten Körpern und guten, alten großkalibrigen Waffen, inklusive Verfolgungsjagden, Explosionen und allem, was dazugehört. Absolute Kurzweil eben! In jedem Fall unterhält Maschinenmann mit seiner kruden Mischung aus zynischer Überzeichnung und japanischem Anime von der ersten bis zur letzten Seite, ohne jemals den moralischen Zeigefinger zu hoch zu heben. Das Denken und Urteilen wird dem Leser überlassen, ebenso wie das Ziehen von Parallelen in die heutige Gesellschaft mit ihrem Jugend- und Schönheitswahn. Mich hat Maschinenmann jedenfalls zum Nachdenken angeregt, etwas, das nicht von jedem Buch behauptet werden kann!

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Max Barry: Maschinenmann.
Heyne Hardcore 2012
Broschur, 352 S., € 14,99
Reinlesen!

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