Befreiung aus der kleinen, engen Welt

Esther, genannt Esty, lebt in Williamsburg in Brooklyn, einem Stadtteil New Yorks. Sie wohnt bei ihrer Großmutter, einer Ungarin, die den Holocaust überlebt hat. Sie gehören den ultra-orthodoxen Satmarer Chassiden an. Das äußere Erscheinungsbild des Stadtteils ist grau, ärmlich, etwas freudlos, unmodern, die Männer mit ihren schwarzen Schläfenlöckchen und schwarzen Gehröcken, die Frauen in ihren altbackenen Kleidern mit den immer etwas künstlich aussehenden Perücken auf dem Kopf. Es gibt keine Mutter in Estys Leben, der Vater lässt sich nur manchmal – angetrunken – sehen. Darum ist es an und für sich eine Ehre für sie, von einer angesehenen Familie der Religionsgemeinschaft für eine arrangierte Ehe auserwählt zu werden.

Sie macht sich sicherlich Hoffnung, dass alles besser wird, wenn sie mehr Verantwortung hat, erwachsen ist und ihren eigenen Hausstand hat. Doch schon die Ehevorbereitungen wirken ernüchternd: die strenge Reinigung in der Mikwa, das Zusammentreffen mit dem schüchternen Yakow, der ihr Ehemann werden soll, dessen strenge Mutter, die Sexualerziehung. Als sie beim Abrasieren ihres schönen langen Haares stumme Tränen verliert, kommt allmählich der Gedanke auf, dass alles vielleicht nicht so wird wie gedacht. Die Hochzeitsnacht bereitet Schmerzen, sodass nicht wirklich viel passiert, auch das ganze Jahr danach nicht, und sie wird natürlich nicht schwanger. Leider wird das aber von ihr erwartet, man soll so viele Kinder wie möglich zur Welt bringen, als Ersatz für all die Juden, die beim Holocaust ums Leben gekommen sind. Esty ist einem riesigen Druck ausgesetzt, alle erwarten von ihr etwas, das sie anscheinend nicht geben kann. Insgeheim ist sie außer dieser Sache mit dem Sex auch sonst nicht so Mainstream wie die anderen, sie möchte freier sein, sie möchte lachen, sich mit ihrem Mann intelektuell austauschen, sie möchte Musik machen. Der Druck wird so groß, dass sie ihre Flucht aus diesem engen Zuhause plant. Mit fast nichts außer einem kleinen Bündel Geld, dem Foto der geliebten Großmutter und ihrem Pass im Feinstrumpfhosenbund fliegt sie nach Berlin. Ermöglicht hat ihr das eine Klavierlehrerin, der sie sich anvertraut hat. In Berlin könnte sie bleiben, weil sie durch ihre deutsche Mutter, die dort lebt, die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen könnte. Bevor sie aber auf diese trifft – und erfährt, dass sie sie keinesfalls verlassen hat sondern von der Familie verstoßen wurde – lernt sie zufällig ein Grüppchen junger Musiker kennen, und dadurch erstmals, wie das Leben als junge, freie, noch nicht einmal zwanzigjährige Frau in Freiheit und Selbstbestimmung sein könnte. Als sie mit ihnen an den Wannsee fährt und verschämt mitsamt dem Pulli und dem langen Rock langsam ins Wasser hineingleitet, sich die Perücke vom Kopf zieht und sich im See treiben lässt, während alle anderen in Badeklamotten im Wasser toben, da sieht man, was sie das einerseits an Überwindung kostet, andererseits aber auch Vorahnung von Freiheit verheißt. Doch leider kann sie sich nicht nur dem Aufbau eines neuen Lebens widmen, ist da doch unglückseligerweise auch das ärztliche Ergebnis, dass sie nun doch schwanger ist. Zusätzlich, und das ist das Schlimmere von beidem, hetzt die Familie in Brooklyn ihren Mann und seinen Cousin nach ihr. Sie haben den Auftrag, sie zurückzubringen. Obwohl sie zu Hause leicht altertümlich in der Gemeinde leben, nach strengen Regeln und mit Handy ohne Internet, kommen die beiden Männer hier in Berlin doch erstaunlich klar auf ihrer Suche nach Esty. Sie wollen sie heimbringen, dahin, wo sie hingehört, notfalls mit einer Pistole.

Diese vier Teile werden in Vor- und Rückblenden erzählt, in immer wieder anderen Sequenzen aus Estys Leben: vor der Eheschließung, Szenen aus ihrem Eheleben, und im Gegensatz dann, wie es ihr in Berlin geht. Das ist manchmal spannend wie ein Thriller, dann aber wieder geheimnisvoll und still erzählt, wie aus einer anderen, unbekannten, mystischen Welt, und andererseits frei und bunt und laut und lustig, als Synonym für die Freiheit, die Esty begehrt.

Maria Schrader, Schauspielerin und Regisseurin, selbst Jüdin, erzählt das alles so intensiv und spannend, dass man rasch einen Teil nach dem anderen ansehen will. Man möchte mehr über das Leben drüben in der jüdischen Religionsgemeinschaft und Familie erfahren, gleichzeitig aber sehen, wie es Esty hier in Deutschland geht. Unbedingt hervorzuheben ist die Darstellerin der 19-jährigen Protagonistin. Diese wird von der israelischen Schauspielerin Shira Haas gespielt, mit einer Mischung aus Kindlichkeit und Zerbrechlichkeit, andererseits aber mit Schlauheit, Kampfgeist, Frechheit und Durchsetzungskraft. Sie erinnert, auch durch diesen kurzgeschorenen Kopf und die großen Augen, ein wenig an das außergewöhnliche Mädchen Eleven, genannt Elfie, in Stranger Things. Eine Heldin auf jeden Fall.

Die Geschichte ist nicht fiktiv. Das Drehbuch entstand nach den Memoiren von Deborah Feldman. In ihrem Buch Unorthodox schildert diese ihren Ausbruch aus der chassidischen Sekte der Satmarer Juden in Williamsburg; ihr zweites Buch Überbitten thematisiert, wie sie danach von den USA nach Berlin zieht. Aus dramaturgischen Gründen wurden beide Bücher zusammengefasst. (Für mehr Info ist folgender Link interessant: Deborah Feldman liest ).
Fazit: Sehenswert!

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Unorthodox
Produktionsland: Deutschland
Sprachen: Jiddisch, Englisch, Deutsch
Dauer: vierteilige Miniserie à je ca. 55 Minuten
Genre: Drama
Regie: Maria Schrader
nach einer Idee von Deborah Feldman
Cast: Shira Haas, Amit Rahav, Jeff Wilbusch, Alex Reid u.v.m.

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