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„Alles ist möglich,“ wiederholte der Engel, „denn dies ist London.“

 

In London häufen sich die Geschichten über einen merkwürdigen Nebel, der die Stadt heimsucht und Menschen in einen tiefen Schlaf versetzt, als Emilys Freund Adam ihr offenbart, dass er nach Paris gehen will, um dort ein erfolgreicher Musiker zu werden. Zurück in die Stadt, in der die beiden sich einst getroffen und verliebt haben – und die Emily dennoch hasst. Niemals würde sie ihn dorthin begleiten, noch dazu wo er sie derart vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. So bleibt sie allein und verletzt in London zurück, nur um den nächsten Schicksalsschlag zu erfahren – in Moorgate Asylum ist ihre Mutter ein Opfer dieser mysteriösen Nebel geworden. Ihre kleine Schwester Mara scheint sie aus unerfindlichen Gründen zu hassen und zu ihrer besten Freundin Aurora hat sie seit Adam bei ihr ist kaum Kontakt. Seit dem Tod Micklewhites hat der arrogante Triastan Marlowe die Bibliothek übernommen und überhaupt scheint gerade die ganze Welt aus den Fugen zu geraten. Lilith sucht in der Hölle noch immer nach ihrem Geliebten, der irgendwie der Schlüssel zu den neuesten Ereignissen zu sein scheint, doch wie weitreichend und verworren die Mysterien Londons noch sein werden, das ahnt niemand…

Lumen als bombastischer Abschluss der Trilogie um Emily Laing und die Uralte Metropole könnte beeindruckender kaum sein.
Man fühlt sich direkt wie bei einem guten, alten Freund. Marzis eigenwilliger Schreibstil voller Vor- und Rückgriffe ist bereits vertraut, und doch spürt man einen ganz essenziellen Unterschied: Emily ist erwachsen geworden. Thematik und Wortwahl sind komplexer geworden, was in Lycidas noch durch die Blume gesagt wurde, wird nun gerade heraus angesprochen. Emily nimmt die Welt nicht mehr mit den Augen des kleinen Waisenmädchens wahr, das sie einst war, sie scheint wacher und aufnahmefähiger als noch im zweiten Band. Die Bedrohungen, derer sie und Wittgenstein sich erwehren müssen, sind längst nicht mehr nur übersinnlich, sondern ganz weltlicher Natur, wie sich spätestens in Prag herausstellt. So setzt Marzi seine Charaktere nun einer ganz neuen Gefühlsregung aus: vollkommener Hilflosigkeit. Dasitzen und warten, nichts in der Hand zu haben und hoffen, dass ein Wunder geschieht – in dieser Situation finden sich die Verbündeten im Kampf gegen den Untergang Londons nicht nur einmal wieder.
Trotz der sehr erwachsenen Themen, schafft Marzi es, die Magie seiner Geschichten nie aus den Augen zu verlieren. So lernen wir in der Stadt der Schornsteine „Londons Efeu“ kennen, den freundlichen Nebel, der von der Themse her die Städte durchstreift und nie weit ist, wie fast jedem Besucher dieser wundervoll mysteriösen Stadt schon einmal aufgefallen ist. In Prag (das keine eigene „Uralte Metropole“ besitzt, weil es selbst eine solche ist) begegnen Emily und Tristan einem Mann mit Papiermund, der Geschichten verkauft und in dessen Büchern eine ganz besondere Magie lebt. Diese liebevollen Details machen Lumen zum wohl zauberhaftesten der drei Bücher.
Der Leser trifft alte Freunde und neue Feinde, manchmal sogar in der gleichen Person, und muss sich einmal mehr der Herausforderung stellen, in Marzis genial gesponnenem Geflecht aus Intrigen und Lügen herauszufinden, was vor sich geht und wem zu trauen ist. Sogar längst vergessene Charaktere tauchen wieder auf, sodass am Ende doch jeder seinen Platz in der Welt und seine Aufgabe zu erfüllen hat – selbst ein kleiner, längst vergessener Waisenjunge…
In Lumen überwiegen die biblischen Motive, der ewige Kampf zwischen den Engeln, den Lucifer mit seinem Aufbegehren angefacht hat, wird schließlich von allen Seiten beleuchtet und mit viel Fantasie ausgeschmückt. Bei einem Setting in Prag dürfen natürlich auch Anspielungen an Franz Kafka nicht fehlen, besonders die Käfer-gesteuerte Bürokratie ist eine witzige Idee.
Nicht nur ist Emily erwachsen geworden, auch fast jeder in ihrem Umfeld erfährt Veränderungen. Nichts bleibt wie es scheint, und manche alten Bekannten scheinen erst jetzt zu begreifen, was das Leben wirklich bedeutet und dass nicht Rache und Missgunst die stärksten Antriebe sind, sondern nur wahre Liebe dazu führt, dass Menschen über sich selbst hinauswachsen. Und schließlich lernen alle auf die eine oder andere Art, dass alles Kostbare vergänglich ist, denn erst dadurch wird es wirklich kostbar.

Ein traumhaftes Ende für eine so vielschichtige, fantastische und hinreißende Geschichte, die bis zur letzten Seite noch Überraschungen bereithält und den Leser vollkommen in ihren Bann zieht. Ich habe jedes Wort genossen und bin jetzt, da es vorbei ist, tatsächlich ein wenig traurig, mich von Emily und Master Wittgenstein zu verabschieden.
Für Fans der „Uralten Metropole“- Reihe ein absolutes Muss.
Für solche, die noch keine Fans sind, ebenso. Nachdem sie Lycidas und Lilith gelesen haben.

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Christoph Marzi – Lumen
Heyne, Taschenbuch, 2012
798 Seiten
9,99€

Ebook: 8,99€

Lumen bei Heyne

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Christoph Marzi

„… und ich möchte, dass du dort
nie, nie hingehst.“

 

Die 12jährige Prue traut ihren Augen kaum, als ihr kleiner Bruder Mac auf dem Spielplatz plötzlich von einem Schwarm Krähen in die Luft gehoben und in Richtung Wald getragen wird. Der Wald, den niemand aus dem verschlafenen Nest St. Johns je betreten hat, den man hier nur die „Undurchdringliche Wildnis“ nennt und über den allerhand merkwürdige Geschichten kursieren. Für Prue ist sofort klar: ihren Eltern kann sie diese Geschichte nicht auftischen. Genauso wenig kann sie ohne ihren Bruder nach Hause kommen. Also ist die einzige Möglichkeit, die ihr bleibt, in den Wald zu gehen und Mac allein zurück zu holen. Auf dem Weg dorthin schließt sich ihr ein etwas nerviger Klassenkamerad namens Curtis an, der weder besonders mutig noch sonst irgendwie von Nutzen scheint. Und natürlich werden die beiden auch prompt getrennt, als sie ein Rudel sprechender Kojoten in Uniformen beobachten – Prue kann entkommen, Curtis wird von den Kojoten gefangengenommen und in ihr Lager verschleppt. Im unzivilisierten Wildwald wird er ihrer Herrin, der bezaubernd schönen und freundlichen Alexandra übergeben und unter ihre Fittiche genommen. Sie macht ihn zum Soldaten, und an ihrer Seite kämpft er gegen die Wildwaldräuber, die seiner Retterin und ihren Kojoten immer wieder das Leben schwer machen wollen.
Prue stolpert derweil direkt in die politischen Verstrickungen der Tiere und Menschen des Waldes, muss sich gegen die korrupte Regierung von Südwald wehren und findet Verbündete im Vogelfürstentum und in Nordwald – und erhält überraschende Hilfe von den Wildwaldräubern…
Bald bemerken beide, dass sie in eine viel größere und bedeutendere Geschichte geschlittert sind, als ihnen lieb wäre, und beinahe gerät Macs Rettung etwas in Vergessenheit angesichts der Ausmaße des Übels, das hier bald geschehen soll.

Meloy wirft den Leser mitten ins Geschehen hinein, baut Spannung auf und fällt dann in einen ruhigeren Erzählstil, der die Möglichkeit gibt, sich erst mal mit der Geschichte auseinanderzusetzen und hineinzudenken. Dann geht es aber Schlag auf Schlag weiter. Mit seiner sehr blumigen Sprache unterstreicht er die zauberhafte Wildheit seines Waldes, ohne je kitschig zu wirken. Die aussagekräftigen Bilder, die er mit seinen Worten zeichnet, helfen auch der faulsten Fantasie auf die Sprünge und machen die strategisch platzierten Zeichnungen von Meloys Frau Carson Ellis beinahe überflüssig. Diese muss man wohl mögen, ich tu es nicht, aber da es hier um das Buch geht, soll die Kritik nicht an den Bildern hängen.
„Wildwood“ spielt geschickt mit der Erwartungshaltung und den Klischees des Lesers, verunsichert ihn dann aber immer wieder in seiner Einteilung von Gut und Böse. Man findet sich in einem erstaunlich komplexen Machtgefüge innerhalb des Waldes wieder, in dem es nur schwer gelingt, sich ein klares Bild über die Motive und Charaktereigenschaften der Figuren zu machen, bis man mit der Nase darauf gestoßen wird.
Mitten in der Geschichte schlägt das Buch, an einer Stelle, wo man sich als Leser fragt, wie es jetzt überhaupt noch weitergehen könnte, dann plötzlich einen gewaltigen Haken. Es verwandelt sich von einer bloßen Geschichte in ein Märchen. Die Undurchdringliche Wildnis, die anfangs auf merkwürdige Art und Weise wie ein Spiegelbild der „Außenwelt“ wirkte, bekommt einen Hauch von Magie, der äußere Schein lichtet sich ein wenig und gewährt Einblick auf etwas größeres, das dahinter versteckt lag. War Prue anfangs nur ein „Außenweltmädchen“, das in den Wald kam, um ihren Bruder zu retten, erfährt sie plötzlich, dass die Geschichte viel größere Kreise zieht, bis weit in die Vergangenheit vor ihrer Geburt, und bis hin zu ihren Eltern. Auch Curtis bekommt mehr und mehr das Gefühl, kein dummer Junge aus St. Johns zu sein, sondern irgendwie nach Wildwald zu gehören. Plötzlich fällt alles langsam an seinen Platz und die Welt, die Meloy zeichnet, wird noch etwas zauberhafter und lehnt sich mehr an klassische Märchen und alte Naturreligionen an. Erst ganz am Ende, in der großen Schlacht um Wildwald (die zugegebenermaßen besonders mit dem Eingreifen der Vögel verdächtig an „Der Herr der Ringe“ erinnert) wird endgültig klar, wer auf wessen Seite steht, und wie tapfer die Bewohner des Waldes ihre Kräfte sammeln, um ihre Heimat zu beschützen.
Die Charaktere Prue und Curtis erfahren eine wirklich interessante Entwicklung, die mir so noch nie in einem Fantasy-Roman untergekommen ist. Normalerweise lernt man anfangs den großen Helden kennen, der auch meist der große Held bleibt. Zu Beginn von „Wildwood“ wirkt Prue wie ein fest entschlossenes, tapferes Mädchen, das alles geben würde, um ihren Bruder zurückzuholen. Curtis scheint der lästige kleine Kriecher zu sein, der dem coolen Mädchen nachläuft, um sich ein wenig in ihrem Mut zu sonnen. Es beginnt allerdings eine zunehmend gegensätzliche Entwicklung: Prue wird mehr und mehr müde und ausgelaugt, hat allzu oft den Gedanken, aufzugeben, und knickt schließlich tatsächlich ein, als Alexandra ihr verspricht, ihren Bruder zu finden und zurückzubringen. Zwar kehrt sie in einem zweiten Anflug von Mut und vor allem Zorn zurück und kämpft tapfer weiter, doch diese kleine Schwäche bleibt im Gedächtnis des Lesers. Curtis hingegen mausert sich, manchmal eher zufällig, zum heimlichen Helden, vertritt nach anfänglichen Unsicherheiten zunehmend klarere Standpunkte und kämpft dafür, was er für richtig hält. Natürlich hat auch er als 12jähriger Junge Momente der Schwäche, gibt ihnen jedoch nie nach. Er verwandelt sich vom nervigen Nebencharakter in einen wirklich liebenswerten Kerl, der trotz seiner Ängste tapfer an vorderster Front um den Wald kämpft.

„Wildwood“ ist eine wirklich lohnende Lektüre, und man sollte sich nicht davon abschrecken lassen, dass es anfangs teilweise etwas wie eine wenig tiefreichende Gutenacht-Geschichte wirkt. Die Erzählung nimmt immer mehr Fahrt auf und Meloy versteht es prächtig, den Leser mitzureißen. An der durchdachten Entwicklung seiner Charaktere kann sich so mancher moderner Fantasy-Newcomer ein Beispiel nehmen. Er schafft es, aus einem beinahe banalen Märchen eine fesselnde und komplexe Geschichte zu bauen, ohne dabei diesen wundervollen kindlichen Charme zu verlieren.
Ich würde mich freuen, wenn es von Colin Meloy – eigentlich Musiker in einer Band aus Oregon – bald neuen Lesestoff gäbe, sein Talent liegt offenkundig nicht nur darin, seine Klampfe zu zupfen und selbstgeschriebene Texte zu schmettern.

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Colin Meloy – Wildwood
Heyne fliegt, Gebunden, 2011
591 Seiten
19,99€

Ebook: 15,99€
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Colin Meloy

Eine Geschichte aus zwei Städten

Zwei Jahre sind vergangen in London, seit sich die Welt von Emily und ihrer Freundin Aurora vollkommen verändert hat. Mittlerweile sind sie in einem Leben angekommen, das sie zögerlich als „Zuhause“ empfinden können – Emily wird von Master Wittgenstein väterlich (zumindest auf seine eigene, spezielle Art) aufgenommen und bildet ihre Fähigkeiten als Trickster weiter aus, und Aurora vergräbt sich in Recherchearbeit mit ihrem Mentor Micklewhite. Alles könnte verhältnismäßig normal sein, wäre da nicht die Uralte Metropole, in der sich mal wieder Unheil ankündigt. Menschen verschwinden spurlos, Wiedergänger bevölkern die alten Gänge und als auf einer Reise nach Konstantinopel auch noch Aurora und Micklewhite verschwinden, gerät für Emily vollends die Welt aus den Fugen. So begibt sie sich mit Wittgenstein auf eine Reise in die Stadt der Liebe, wo sie nicht nur selbige, sondern auch Aurora wiederfindet – allerdings nicht in der Verfassung, in der sie gehofft hatte…

Man schlägt „Lilith“ auf und fühlt sich sofort wieder wie zuhause in Marzis London. Orte, Begebenheiten und sein „marzialischer“ Stil voller Vorgriffe und Rückblenden sind schon so vertraut, dass der Leser augenblicklich in die Welt der Uralten Metropole zurückfindet, und sich von ihrem gruseligen Charme einfangen lässt.
Dieses Mal rückt Marzi die biblischen Geschichten ein wenig in den Hintergrund und nimmt sich einer der wohl faszinierendsten Mythen der Welt an – des Vampirs. Geschickt verknüpft er die Legenden von gleich mehreren Kulturkreisen, denn der Vampir ist mitnichten eine mitteleuropäische Schreckgestalt. Ähnliche Wesen findet man bis in die Antike, in den Legenden aus dem Nahen Osten, Ägypten und Mesopotamien (um nur einige Beispiele zu nennen). Seit den Anfängen des Judentums taucht allerdings immer wieder eine Interpretation auf: Die Mutter der Vampire soll keine andere sein als Lilith selbst, die erste Frau Adams, die mit Dämonen eine unheilige Brut in die Welt setzte. So schlägt Marzi gekonnt Haken durch Geschichte und Mythologie, von Ägypten nach Rumänien, vom Roten Meer ins London der Neuzeit und von Fakt zu Fantasie.
Er spielt auf faszinierende Art und Weise mit klassischen Grusel-Szenarien wie dem Irrenhaus, in dem die Patienten mit Drogen und Strom behandelt werden. Ein sehr schrulliger Psychiater kämpft darum, sie zu ihrer richtigen Persönlichkeit zurückzuführen – oder etwa nicht? Man beginnt, sich verloren zu fühlen, denn nie ist genau klar, wer eigentlich welches Spiel spielt und wer auf wessen Seite steht. Micklewhite und Wittgenstein halten sich den Mädchen gegenüber bedeckt wie immer, sodass man mit Emily und Aurora mitfühlt und nie genau weiß, wie viel Information man eigentlich gerade bekommt und was man damit anfangen soll. Alles in Allem hat man durch die Tragweite der Ereignisse fast den Eindruck, dass „Lilith“ trotz der ihm eigenen komplexen Geschichte dazu dient, auf ein noch größeres, bombastisches Finale in „Lumen“ (erscheint am 12. März 2012) hinzuführen.

Natürlich dürfen, wenn Marzi ein Buch über Vampire schreibt, Anspielungen auf Vampirgeschichten nicht fehlen – ergiebig genug ist die Thematik schließlich. So finden wir natürlich den Godfather of Vampirgeschichten: Dracula, nicht nur im tagebuchartigen Schreibstil während der Aufzeichnungen von Eliza Holland, sondern auch in Elementen der Geschichte, Zitaten und sogar den Namen einiger Charaktere. Noch faszinierender sind die kleinen Anspielungen auf den zu Unrecht wenig bekannten Joseph LeFanu, der mit „Carmilla“ die erste richtige Geschichte zum Thema verfasste.

Von den Vampirmythen abgesehen, herrscht ein weiteres Bild in „Lilith“ vor: Die „Schwesternstädte“ London und Paris, die sich so ähnlich und doch so unterschiedlich sind, wofür einerseits vermutlich die Realität verantwortlich sein mag, andererseits sicherlich auch Charles Dickens‘ „Eine Geschichte aus zwei Städten“.
Allgemein ist „Lilith“ erwachsener als sein Vorgänger „Lycidas“, allerdings ohne dabei den Marzi-typischen Charme eines modernen Märchens zu verlieren. Man spürt die zwei Jahre deutlich, die Emily und Aurora von verschüchterten Waisenmädchen in selbstbewusste Teenager verwandelt haben. Die Handlungsstränge sind komplexer miteinander verwoben und bilden viele unvorhersehbare Wendungen, sodass der Leser lange nicht weiß, wie eigentlich alles zusammenpassen soll – bis Meister Marzi sein weißes Karnickel aus dem Hut zaubert und plötzlich alles Sinn macht. Seine Welt scheint düsterer zu werden, die Uralte Metropole, die ihre Fühler bis in die Tiefen der Hölle ausstreckt, ist gefährlicher und offenbart erst langsam all ihre Geheimnisse. Wo „Lycidas“ den Leser zufrieden ließ und zurück in die Friede-Freude-Eierkuchen Welt schickte – das Böse vernichtet, wenn auch mit bitterem Beigeschmack – hat man nach „Lilith“ das nagende Gefühl, dass es eigentlich erst richtig losgeht, und dass die Fantasie von Christoph Marzi wohl noch einige Überraschungen und Abenteuer bereithält.

Eine komplexe Führung durch die Weltgeschichte des Mythos Vampir, die den Leser zunehmend unsicher über Gut und Böse macht und definitiv den Appetit auf mehr Marzi anregt. Ein Augenschmaus, nicht nur für Vampirfans!

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Christoph Marzi – Lilith
Heyne, Taschenbuch, 2012
688 Seiten
9,99€

Ebook: 8,99€

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Christoph Marzi

„Alles ist möglich. Dies ist London.“

Als die kleine Emily durch einen Unfall im Londoner Waisenhaus ein Auge verliert, stirbt für sie jede Aussicht auf eine Zukunft außerhalb des Heimes. Die kinderlosen Paare wollen süße Kleinkinder, keine „einäugige Missgeburt“, und genauso wenig ein „Schokoladenmädchen“. Also fristen Emily und ihre beste Freundin Aurora in der „Anstalt für heimatlose Kinder“ ihr tristes Dasein. Bis Emily eines Tages von einer Ratte angesprochen wird, die sie bittet, ein Auge auf eines der neuen Kleinkinder zu haben – das natürlich prompt von einem Werwolf entführt wird. So entkommen die beiden den grauen Wänden des Waisenhauses – dem strengen Blick des Reverends, den Schlägen des Hausmeisters und den Besuchen der unheimlichen „Miss Snowhitepink“, die Kinder mit sich nimmt und wenn überhaupt, dann nur hoch verstört zurückbringt. Plötzlich finden die Freundinnen sich in einer Welt wieder, die sie nie zu träumen gewagt hätten: die „Uralte Metropole“, die Stadt unter der Stadt, in der sich allerhand seltsame Gestalten tummeln und ein Geheimnis nach dem anderen gelöst werden will. Können die Waisen ihren Mentoren Wittgenstein und Micklewhite trauen? Und was ist mit Lord Brewster, der Ratte? Wer ist das Kind, auf das Emily hatte aufpassen sollen, und was hat das ganze eigentlich mit ihr und ihrem Glasauge zu tun?

Meisterlich entführt Marzi den Leser in eine Welt, die an märchenhaften Mysterien und Fantasie kaum zu überbieten ist. Die Uralte Metropole ist ein Gewirr aus Geheimnissen, Intrigen und machtpolitischen Spielchen, in dem das einzelne Leben nur wenig Wert hat. Und mitten drin zwei elternlose Mädchen, die nur mit großer Mühe herausfinden, was all die Erwachsenen eigentlich im Sinn haben.
London ist gekonnt und detailliert beschrieben, was der Geschichte für Kenner der Stadt ein vertrautes Gefühl vermittelt (auch wenn ich persönlich es merkwürdig finde, dass man hier ständig nur Kräutertee trinkt!), außerdem erinnert das britische Setting zuweilen auf charmante Art an Harry Potter. Davon abgesehen baut Marzi, geschickt wie immer, eine Fülle an Anspielungen auf Literatur, Musik und Film ein, die dem Roman und vor allem den handelnden Personen eine erstaunliche Tiefe geben. Es fallen Zitate aus Dracula, Sherlock Holmes, Faust und diverser elisabethanischer Lyrik. Sogar ganze Personen sind angelehnt an die Großmeister der englischen Literatur und Filme, so treffen wir doch auf den bezaubernd schönen Dorian und zwei Jäger mit bemerkenswerter Ähnlichkeit zu Rowan Atkinson.
Auch antike Mythen werden von Marzi eingeflochten, scheinen sich in Reihe und Glied anzuordnen, um sich logisch und sinngemäß in seine Geschichte einzureihen, egal aus welcher Epoche oder Kultur sie auch stammen. Jüdische Sagen treffen alttestamentliche Bösewichte, mit einem Hauch griechischer Mythologie garniert und den Geschichten der Moderne abgerundet. In London tummeln sich nicht nur Elfen, Werwölfe und Irrlichter, sondern sogar Engel und vergessene Götter haben ihren Weg in die Uralte Metropole unter der nicht ganz so alten Metropole gefunden. Und hier unten irgendwo, so munkelt man, sollen sich sogar noch wesentlich ältere und mächtigere Wesen herumtreiben, als die Protagonisten sich vorstellen können…
Den Mädchen, und mit ihnen dem Leser, wird im Lauf der Zeit klar, dass es in dieser Welt weder „Gut“ noch „Böse“ gibt, nur ein breites Spektrum an Graustufen. Vertraute werden zu Verrätern, im Feind scheint doch etwas Gutes zu sein, nicht einmal sich selbst kann man vollends trauen. Nur eins ist klar: Emily und Aurora würden immer zusammen bleiben. Oder? Letztendlich werden sich die Mädchen doch nur immer wieder bewusst, dass sie nichts als kleine Kinder in einer Welt sind, in der die Erwachsenen rücksichtslos nach Macht streben, und selbst die Engel scheinen nicht das zu sein, was sich ein Waisenkind darunter vorstellt.

Lycidas wird vom Ich-Erzähler Wittgenstein erzählt, der sich Emilys nach ihrer Flucht aus dem Waisenhaus annimmt. Dennoch springt Marzi, wo es nötig wird, in einen allwissenden Erzähler über, allerdings immer im Stile Wittgensteins, der seine Erlebnisse in diversen Rückblenden und Vorgriffen schildert. In diesen Stil muss man sich ein wenig einlesen, letztendlich gewöhnt man sich aber schnell und zumindest ich habe großen Gefallen daran gefunden, da sich über ganze Handlungsbögen hinweg der Kreis wieder schließt und letztendlich so die Quintessenz des Buches unterstrichen wird: „Zufälle gibt es nicht!“
Der erste Teil der „Uralte Metropole“ – Reihe besteht im Grunde aus einer Trilogie, mit dem typischen Aufbau des einleitenden Buches mit kleinem Showdown, ruhigem Zwischenteil, der vor allem der genauen Skizzierung der Charaktere dient, und großem Finale im dritten Teil. Marzi spielt hier geschickt mit Vor- und Rückgriffen, stets so subtil, dass er den Leser in ein regelrechtes Déjà-Vu drängt. Oft bemerkt man die eigentliche Handlung kaum, denn er versteht es prächtig, falsche Fährten zu legen und die Aufmerksamkeit genau so lange auf ein Thema zu richten, bis man es für wichtig hält, nur um dann an einem anderen Handlungsstrang weiter zu arbeiten.
Lycidas hat mich von der ersten Seite an gefesselt und nicht mehr losgelassen. Die geschickten Kapiteleinteilungen tragen dazu bei, dass man das Buch einfach nicht aus der Hand legen möchte, und die Geschichte ist zu fantastisch und gekonnt konstruiert, um Langeweile aufkommen zu lassen. Marzi ist ein Meister der Anspielungen und des organischen Erzählens, jede Anlehnung wird absolut nahtlos eingefügt und alles hinterlässt den merkwürdigen Eindruck, als könne es wirklich so sein. Trotz seines Hangs zu jugendlichen Protagonisten driftet Lycidas nie in die Sparte Kinderbuch ab, sondern zeigt schlicht die Hilflosigkeit der Unschuldigen in der heutigen, von Machtgier zerfressenen Welt.
Ein echtes Highlight der modernen Fantasy-Literatur!

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Christoph Marzi – Lycidas
Heyne, Taschenbuch, 2011
862 Seiten
9,99€

Lycidas bei Heyne

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Christoph Marzi

Die Geschichte vom gothen Mädchen
und dem Bösen Wolf

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Die 17-jährige Vesper Gold hat es nicht leicht, glaubt sie zumindest. Nach der Scheidung ihrer Eltern soll sie nun bei ihrer Mutter leben, musste von Berlin nach Hamburg ziehen, spricht ihren Vater kaum. Die Mutter – eine weltweit gefeierte Pianistin – ist ständig unterwegs und hat keine Zeit für ihre Tochter, in die Schicki-Micki-Schule für verwöhnte Sprösslinge reicher Eltern passt Vesper, die am liebsten Schwarz trägt, natürlich auch nicht so recht hinein. Ihre einzige Freundin ist Ida,

Ein Märchen über große Liebe und großen Verlust, eingebettet in das Jahr 2010, das ist „Grimm“. Anfangs hatte ich aufgrund des Settings a la 17-Jährige bekämpft die dunklen Mächte die Befürchtung, es könne in ein Kinderbuch abrutschen, wurde allerdings eines Besseren belehrt. Die Geschichte bleibt bis zur letzten Seite fesselnd und voller unerwarteter Wendungen, ich wollte das Buch kaum aus der Hand legen. Marzi versteht es ausgezeichnet, den Leser zu fesseln und immer nur mit gerade so viel Spannung zu füttern, dass er den Bogen nie überspannt. Wo nun eigentlich „Gut“ und „Böse“ liegen, scheint niemand so genau zu wissen…eine alleinerziehende Mutter. Kurzum: Vesper ist ein verlorener Teenager, der sich in eine andere Welt wünscht.
Als sie von einem merkwürdigen Fremden verfolgt wird, ihr Vater unter mysteriösen Umständen stirbt und Vesper schließlich auch feststellen muss, dass ihre Mutter nicht mehr sie selbst ist, beginnt sie, sich ihr langweiliges Leben zurück zu wünschen, doch all dies ist nur der Anfang. Weltweit schlafen Kinder plötzlich ein und sind nicht mehr wachzubekommen. Wölfe streifen durch die Straßen, und scheinen es auf sie abgesehen zu haben. Und wer ist dieser komische junge Mann, den sie im Museum trifft? Die beiden verbindet mehr, als Vesper im ersten Moment gedacht hätte…

Sprachlich befinden wir uns auf einer geradezu märchenhaften Ebene. „Grimm“ liest sich durchweg wie ein modernes Märchen, wunderbar malerische Vergleiche und geradezu poetische Beschreibungen erleichtern es dem Leser, in diese Welt einzutauchen. Der Schreibstil ist zum Teil etwas assoziativ, oft werden Gedanken von Vesper wiederholt und verändert, um Situationen zu unterstreichen. Die Charaktere werden mit viel Liebe zum Detail beschrieben, und ein echtes Schmankerl für Freunde des britischen Fernsehens ist auch dabei: Leander ist der elften Inkarnation des „Doctors“ aus dem BBC Klassiker „Doctor Who“ nachempfunden. Vom Tweedanzug über die Fliege bis hin zu „GERONIMO!!“ passt alles perfekt, was mich mehr als einmal zum Schmunzeln brachte.
Erwähnenswert ist auch, dass Marzi regelmäßig diverse Lieder einflicht, die Vesper in Stresssituationen auf ihrem iPod hört, um sich zu beruhigen. Durch Titel und Texte, die wir alle kennen, fühlt man sich Vesper näher und kann sich so viel besser in ihre Gefühlswelt hineindenken, als in anderen Geschichten möglich wäre. Außerdem rückt die moderne Popmusik das Geschehen näher in die Wirklichkeit, die Welt scheint realer zu werden und man fühlt sich selbst in die Rolle des ganz normalen Mädchens versetzt, das erkennen muss, dass seine Welt nur eine Geschichte war.
„Grimm“ ist ausführlich recherchiert worden, allein die stets logisch eingebundenen Märchenfiguren und der Hintergrund, weshalb sie einst aus der Welt verschwanden, zeigt große Liebe zum Detail und eine sehr flexible Fantasie. Man findet beim genauen Hinsehen etliche Anspielungen, wie den erwähnten Doctor Leander oder ein kleines Zitat aus Shakespeares „Hamlet“. Das alles gestaltet die Geschichte enorm organisch und lebendig, als würde der böse Wolf jeden Moment aus dem Buch springen.
Zusammengefasst also ein irrer Lesespaß für Fans von Terry Pratchett, Neil Gaiman und Märchenbüchern, den man so schnell nicht vergessen wird. Christoph Marzi ist für mich die Entdeckung des Jahres, und ich werde hoffentlich seine anderen Werke verschlingen, so wie ich „Grimm“ verschlungen habe. Disney für Erwachsene!

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Christoph Marzi – Grimm
Heyne fliegt, Gebunden, 2010
556 Seiten
17,99€
Heyne
Amazon
Christoph Marzi

Rausch wilder Zeiten

Airen geht nach einem anstrengenden Studentenleben in Berlin und Frankfurt/Oder nach Mexico-City. Hier durchlebt er triste Tage und spannende Nächte. Seine Arbeit vergisst er bald völlig und erkauft sich Atteste für einige Pesos. Im Dauerrausch hat er nur wenige Interessen: Drogen, Alkohol und Sex. Dabei ist er immer wieder auf der Suche nach neuen Eindrücken und ständigem Highsein.

Das Buch ist zusammengestellt aus Blogeinträgen des Autors. Mit derber Sprache beschreibt er sein Leben in Mexico, die Liebe, die Sucht, die Probleme – und all das Schöne, das ihn von der Masse abspaltet. Offen erzählt er, welche Drogen er konsumiert und wie leicht er an diese herankommt. Muss er lügen, so tut er es. Muss er jemanden bestechen, scheut er auch davor nicht zurück. Das Geld geht zwar aus, aber niemals der Stoff und in den Zeiten, in denen er nicht auf Koks, Speed oder ähnlichem ist, betrinkt er sich. Nur immer high sein! Schonungslos ehrlich schildert er seine Exzesse – und dass es gar nicht gut ist, keine Rauschmittel und keinen Alkohol zu haben.
Die Geschichte ist weniger zusammenhängend. Vielmehr sind es Fetzen wie in einem Tarantino-Streifen, mit der Beschleunigung von „Crank“. Krasse Bilder wechseln sich ab mit etwas Vernunft, die ab und zu durchzukommen scheint und am Ende wohl siegt, als Airen wieder zu Hause ist bei den Eltern. Im Schlepptau hat er seine Mexikanische Freundin Lily, die schwanger ist. Zurecht findet er sich allerdings nicht mehr. Die Technozeit ist vorbei und das Leben, das er einmal in Deutschland geführt hat, kann ihn nicht mehr begeistern.
Die krassen Wahnvorstellungen und Paranoiaschilderungen aus Hunter S. Thompsons „Fear and Loathing“ fehlen hier. Obwohl das Setting ähnlich ist und Airen ebenso wenig wie Thompson seine Erlebnisse und den Drogenkonsum reflektiert, ist „I am Airen Man“ ein eigenständiges Werk. Der Autor hat weniger exzessiv gelebt und jagte nicht dem Amerikanischen Traum nach. Ihm scheint es um die Flucht aus der Realität zu gehen, um ein permanentes Highsein, das sein Leben spannender macht. Dabei ist er sich der Stärke der konsumierten Drogen bewusst und achtet darauf, nicht zu übertreiben, wie die Akteuere in „Fear and Loathing“.
Airen ist kein Unbekannter. Seine Erfahrungen aus dem Berliner Club Berghain schrieb er zuerst in seinem Blog und dann im Debütroman „Strobo“ nieder, der vor allem dadurch Aufmerksamkeit erregte, dass er von Helene Hegemann in „Axolotl Roadkill“ stellenweise geguttenbergt wurde. Der Autor schreibt unter anderem für den Rolling Stone und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Das Werk lässt sich schnell lesen. Gespickt mit viel Ironie, entsetzten Lachern und Widerlichkeiten. Man möchte nicht wissen, was andere auf Toiletten tun, und muss es hier doch lesen. Da hilft es, wenn man sich bewusst ist, dass Airen die Einträge meist in betrunkenem Zustand verfasst hat.
Was einen hier erwartet sind rasant erzählte Momente, voller Rausch und der Suche nach dem nächsten Trip, voller Liebe und Abschätzigkeit und endlosen Exzessen.

„Und dann legst du den Kopf wieder an die Scheibe und wischst das Bild frei, für den nächsten Lebenshappen.“ (I Am Airen Man, S. 135.) 

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Airen – I Am Airen Man
Heyne Hardcore, Taschenbuch, 2011.
176 Seiten
8,99 Euro

Heyne Hardcore
Airen
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„Einen Hexer oder eine Hexe
sollst du nicht leben lassen…“

Der junge Novize Gair wird der Hexerei beschuldigt und nach langer Folter dem alten Präzeptor Ansel vorgeführt. Der gesamte Rat erwartet die Todesstrafe – doch Ansel entscheidet sich dafür, den Jungen stattdessen zu brandmarken und zu verbannen. In seine Handfläche wird das Zeichen der Hexerei gebrannt und man lässt ihn laufen – allerdings ist er als Vogelfreier nun zum Abschuss freigegeben. Als ein mysteriöser Fremder auftaucht, der Gair seine Hilfe anbietet, hat der Junge kaum eine andere Wahl. Sein geheimnisvoller Begleiter heißt Alderan, und schafft den noch immer verwirrten und verletzten Ex-Novizen außer Landes, natürlich nicht ohne gewisse Schwierigkeiten, denn die Entscheidung des Präzeptors ist unter den fundamentalistischen Mitgliedern der Kirche nicht auf Verständnis gestoßen. So wird ein Hexenjäger auf ihn angesetzt, der Gair und Alderan auf ihrer mühsamen Reise das Leben schwer macht. Endlich außer Landes kehrt ein wenig Ruhe ein und Alderan eröffnet Gair, dass auch er die „Lieder der Erde“ hören kann, der „Sang“, die Grundenergie des Universums, die alles durchfließt, und die wenigen, die diese Lieder hören können, werden zur Magie befähigt. Außerdem bietet er ihm an, ihn mit auf die Westinseln zu nehmen, wo es eine Schule gibt, in der man ihn lehren kann, seine Fähigkeiten einzusetzen, denn bisher war Gair eher intuitiv und zufällig auf den Sang in ihm gestoßen. Da der ehemalige Novize weder Freunde noch Familie hat, entschließt er sich, mit Alderan zu kommen, und trotz weiterer Fallen des Hexenjägers und eines komischen Vogels namens Savin gelangen sie schließlich zu den Inseln.
Hier erhält Gair seine Ausbildung, obwohl sich schon beim Einstufungstest am ersten Tag herausstellt, dass er weit überdurchschnittlich begabt ist. Als sich zeigt, dass er offenbar neben Meisterin Aysha der einzige weit und breit ist, der seine Gestalt wandeln kann, wird diese auf ihn aufmerksam…
Die Zeit könnte schön und ruhig sein, wären da nicht die schrecklichen Nachrichten des Wächters Masen, der berichtet, dass der Schleier zwischen den Welten zerbricht. Als Gair auf einem Ausflug unerwartet angegriffen und lebensgefährlich verletzt wird, wird langsam klar, dass die Kirche, die Jagd auf Hexen macht, eigentlich das geringere Problem ist, und plötzlich scheint ein Kampf unvermeidbar…

„Die Lieder der Erde“ basiert auf einer wunderbaren Idee, die versucht, zwischen realer historischer Inquisition und High-Fantasy zu balancieren. Es wird eine sehr große und komplexe Welt skizziert, doch leider spürt man, je weiter man voran kommt, dass eigentlich außer der Grundidee nicht viel Neues dabei ist. Spätestens ab der Ankunft von Gair und Alderan in der Schule hat man mehr und mehr den Eindruck, dass eine Idee, die für etwa 100 Seiten gereicht hätte, auf 557 gestreckt wurde, und dass für viele Details, die eine Welt lebendig machen, die Ideen fehlten – daher findet man durch das ganze Buch verstreut Szenen, Beschreibungen und Rassen, die verdächtig an „Herr der Ringe“, Terry Pratchett, „Harry Potter“ und sicher noch ein halbes Duzend weiterer Fantasy Romane erinnern. So zum Beispiel die astolanische Prinzessin Tanith, Heilerin, die eine Art Elbin ist, deren Rasse zwischen den Welten lebt und sich aus den Angelegenheiten der Menschen heraushalten möchte, besonders ihr Vater drängt sie dazu, doch sie ist verliebt in den jungen Gair – klingt verdächtig nach Arwen und Elrond. Ebenso Gair und Savin, beide von Geburt an bemerkenswert begabt, doch Savin sein Leben lang böse – ein bisschen Harry und Voldemort?
Auch stilistisch fallen auf den zweiten Blick zum Teil Mängel auf. Cooper versucht, sehr ausdrucksstarke und malerische Vergleiche zu ziehen, meist gelingt das auch gut, aber manchmal passieren dabei einfach grobe Schnitzer. In etwa muss Masen sich beeilen, um vor der Dunkelheit durch eine Schlucht zu reiten, es ist fast Winter und die Sonne geht sehr schnell unter, die ganze Szene vermittelt Hektik und Panik. Der Vergleich, dass das Licht dabei so schnell schwindet, wie die Hitze aus einer abkühlenden Schmiede, ist ziemlich danebengegangen – soll das heißen, es ist nach drei Tagen immer noch hell? Auch kleinere Logiklücken finden sich, so ist zum Beispiel Gair mittags im Bad, und hängt dort ganz allein seinen Gedanken nach (mit der Betonung, er ist ganz allein weil es schon MITTEN am Tag ist!), dann kommt er nach draußen und plötzlich liegt ein Balkon noch im Schatten der Morgensonne.
Oft wird einem einzelnen Handlungsstrang so viel Aufmerksamkeit geschenkt, dass man die anderen vollkommen vergisst und sich dann wundert, wo eigentlich bestimmte Personen hin sind, und man sich dann erst mal wieder erinnern oder gar zurückblättern muss, wer da eigentlich gerade wieder aufgetaucht ist. Generell haben wenige Personen wirklich Tiefe bekommen, die meisten scheinen eher „Füllmaterial“ zu sein.
Gair, der Alleskönner, wirkt etwas zu heroisch. Gerade nach Folter aus der Institution geworfen, die jahrelang sein Zuhause darstellte, von Rittern und Hexenjägern durchs halbe Land gehetzt, kommt er in Hogwa… pardon, im Kapitelhaus an und kann im Grunde so gut wie alles, obwohl er vorher nie geübt hat und seine Fähigkeiten vor der Kirche verstecken musste.
Die Übersetzung ist ebenfalls nur teilweise gelungen, ich kann zwar keine direkten Beispiele anführen, da ich nur die deutsche Version gelesen habe, aber an vielen Stellen klingen Formulierungen holprig, nicht organisch, als hätte man nicht die richtigen Worte gefunden. Auch die Erwähnung eines „Dicken Kusses“ scheint in einem Roman, der versucht, auf einer hohen sprachlichen Ebene zu bleiben (wie es sich für High Fantasy gehört) etwas fehl am Platze, doch derartige Stilbrüche sind nicht selten. Einerseits drückt man sich sehr gewählt und höflich aus, andererseits gleiten dann beinahe flapsige, modern-umgangssprachliche Bemerkungen hinein. Auch einige grammatikalische Fehlerchen haben sich eingeschlichen.
All dies wäre einzeln genommen nicht weiter tragisch, aber wenn man einmal darauf aufmerksam wird, ist es schwer, das Buch weiterzulesen ohne immer mehr zu bemerken, was den Lesespaß zumindest für mich doch gemindert hat.
Zusammenfassend ist „Die Lieder der Erde“ ein durchschnittlicher moderner Fantasy Roman mit einigen wirklich schönen, neuen Grundideen, der dann mittelmäßig ausgebaut wurde. Die Kombination aus alttestamentarischen Elementen des katholischen Glaubens mit einer Tolkien-Welt ist ein sehr interessanter Ansatz, wirkt jedoch nicht organisch umgesetzt. Mich hat es kaum gefesselt, ich konnte das Buch problemlos mehrere Tage zur Seite legen, ohne dieses nagende Gefühl, unbedingt weiterlesen zu wollen.
Natürlich muss man sagen, dass es heutzutage sehr schwer ist, eine wirklich neue Fantasy Geschichte zu schreiben, weil so vieles schon da war. Doch hier sind die Ähnlichkeiten zu gleich mehreren anderen Werken nur mit viel gutem Willen zu übersehen.
Offenbar werden noch 2 Teile folgen, es sind auch einige lose Enden an den Handlungssträngen übrig. Vielleicht wird es ja mit der Übung etwas besser, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Millionen von Menschen sich den nächsten Band um Mitternacht am Erscheinungstag mit Sonderboten von der Post liefern lassen. Der erste Roman von Elspeth Cooper ist okay, kann für mich jedoch höchstens ein erster Versuch sein, und ich hoffe, dass die nächsten Bände in sich stimmiger sein werden.

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Elspeth Cooper – Die Lieder der Erde
Heyne, Paperback, 2011
558 Seiten
14,99 €
Ebook: 11,99€

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Der Charles Manson von Sparta, New Jersey

New Jersey, Juni 1964. Ray ist mit zwei Freunden unterwegs und trifft auf ein – wie er annimmt – junges Lesbenpärchen im Wald. Aus einer Laune heraus schleicht er sich nachts an deren Lager und will sie erschießen. Eine junge Frau ist sofort tot, die andere liegt vier Jahre im Koma, bis sie endlich stirbt. Doch dem Schützen ist nichts nachzuweisen.
August 1969. Mittlerweile ist Ray beliebt bei den Frauen im beschaulichen Sparta und nimmt, was er kriegen kann. Er dealt mit Haschisch, kokst und ist auch sonst kein angenehmer Zeitgenosse. Vor seinen Wutausbrüchen haben vor allem die langjährigen Freunde Tim und Jennifer Angst. Als zwei Frauen ihn abblitzen lassen und Jennifer auch nicht mehr mit Ray ins Bett gehen will, rastet er aus. Sein Amoklauf durch Sparta beginnt und fordert viele Opfer…

„The Lost“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Nur eine Woche nach den Charles-Manson-Morden läuft Ray Pye Amok und tötet sieben Menschen auf grausame Weise. Das Buch beginnt allerdings mit den ersten Morden an den zwei scheinbaren Lesben. Ray hat einfach mal Lust drauf, einen Menschen zu töten, weil er die Macht spüren will. Ein Mädchen kann fliehen und liegt vier Jahre lang im Koma. Ist nicht so gut gelaufen, denkt er. Nicht, weil die junge Frau vielleicht leidet, sondern weil sie vom Tatort flüchten und ihn womöglich als Täter identifizieren könnte – wozu es jedoch nie kam.
In einem langen Teil erzählt Jack Ketchum die Woche vor dem Amoklauf. Pye, seine Freunde und die Frauen Sally und Katherine, die er neu kennenlernt und unbedingt flachlegen will, werden beschrieben. Es gelingt, ein perfektes Bild des Seelenlebens der Hauptakteure darzustellen und ihre Perspektivlosigkeit zu beschreiben. Jennifer hat keinen Abschluss und braucht den spendablen Ray, der Haschisch verkauft, das Tim von einem Postfach abholt. Sally sucht einen Job für den Sommer und schmeißt zweimal hin, zusätzlich hat sie eine Affäre mit einem erheblich älteren Expolizisten. Und Katherine? Ihre Mutter ist schizophren und in einer Klinik, ihr Vater ist wohlhabend und sie scheint sehr genau zu wissen, was sie will. Als ihre Mutter jedoch stirbt und Katherine für Ray nicht verfügbar ist, wird er sauer und ihm fehlt das Verständnis dafür.
Ketchums Erzählung wird immer durchbrochen von kurzen Berichten über Gimp, einer heimatlosen Katze. Das lockert ein bisschen auf. Denn obwohl über zweihundert Seiten nicht wirklich viel passiert, bauen sich Spannung und Unbehagen auf. Man spürt, dass Ray irgendwann ausrasten muss. Er ist latent aggressiv und der Autor kann dies sehr gut vermitteln. Zwischendurch geschehen die Manson-Morde, ein kleine Zwischenspiel scheinbar, doch was alle in Entsetzen stürzt, fasziniert Pye – und als er später ausrastet, scheint er eben genau diese Morde nachstellen zu wollen. Vor nichts und niemandem weicht er zurück, als er die Waffen nimmt, ins Auto springt und seine drei Frauen entführt – eine Blutspur hinter sich herziehend.
Das Buch hat mich gefesselt und berührt. Die Brutalität und die Kälte, die Ray umgeben werden derart drastisch dargestellt, dass man glaubt, man kenne ihn. Ein faszinierendes Werk, für das Ketchum allem Anschein nach viel recherchiert hat, um so weit wie möglich am wahren Geschehen zu bleiben. Im Gegensatz zu „Evil“ ist sein neuester Roman nicht durchgehend grausam, sondern hat zu Beginn und zum Ende hin seine blutigen Momente. Dazwischen gelingt mit viel sprachlichem Feingefühl ein Seelenstriptease der verlorenen Protagonisten.

„Wir sollten sie abknallen. Du warst nie jagen, Jen, deshalb kannst du das nicht verstehen. […]Man sieht es in ihren Augen. In einem Moment ist alles okay […]. Und im nächsten Moment sind sie in der Karnickelhölle.“ (The Lost, S. 13)

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Jack Ketchum – The Lost
Heyne-Hardcore, 2011.
432 Seiten
19,99 €, Gebundene Ausgabe.
Heyne
Ketchum
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Viel Schmerz und nackte Haut

 

schatten

Im verschneiten Wien wird bereits die dritte junge Frau gekreuzigt vorgefunden. Der nackte Körper ist übersät mit Striemen von einer Peitsche. Marcus Wolf, ehemaliger Polizist und durch eine Erbschaft vor acht Jahren Besitzer des bekanntesten SM-Clubs der Stadt wird in die Ermittlungen einbezogen. Alle Spuren führen zu seinem Edel-Bordell und er ist der einzige, der über die nötigen Kontakte zur Szene verfügt, um den Täter zu identifizieren. Doch Wolf plagen plötzlich Zweifel, ob alles, was er im „Dominion“ und mit seinen drei Subs tut so richtig ist. Was hat der Erbonkel zweien von ihnen angetan und welche Verbindungen hatte er, dass ein altes Video einer Kreuzigungssession im Internet auftauchen konnte und nun nachgestellt wird? Ein geplanter Rachefeldzug gegen Wolf oder Sadisten, die keine Grenzen kennen und mit einer unbekannten Substanz ihre Opfer willig machen? Doch viel Zeit für Nachforschungen bleibt nicht mehr, denn über das nächste Opfer wird bereits im Internet abgestimmt und in drei Tagen ist Deadline…

Der Roman fesselt. Gleich mit einem Tatort beginnend, wartet man darauf, dass dieser Strang der Geschichte weitererzählt wird. Doch die Verwicklungen führen in die Vergangenheit, erzählen ein bisschen von damals, vor acht Jahren, als Marcus Wolf noch Polizist war und keinen Kontakt zu seinem Onkel hatte. Bei der Sitte hat Wolf genügend Puffs von innen gesehen, doch das „Dominion“ ist etwas anderes: Ein BDSM-Schuppen, der zu den bekanntesten Wiens gehört.
Dass die ganze Story damit zu tun hat, mag kaum verwundern. Der Umfang jedoch schon – und alle großen und kleinen Geständnisse, die ans Licht kommen.
Andras, der Autor, erzählt sehr feinfühlig, wie es in der BDSM-Welt zugeht. Er beschreibt krasse Sexszenen, malt Sessions in blutigen Farben und irgendwo dazwischen findet sich auch mal Blümchensex unter Stinos. Sein Protagonist Marcus Wolf war auch mal so ein Stino, ein Stinknormaler eben, der mit Peitschen, Handschellen, Ball-Gags und Paddels nicht viel zu tun hatte. Er ist verheiratet mit einer seiner drei Subs und kein Dom aus Leidenschaft. Vielmehr kämpft er mit sich, muss sich teilweise dazu zwingen, Caro, Amber oder Jacqueline wehzutun. Doch nach all den Jahren hat er sich daran gewöhnt und muss feststellen, dass er Gefallen daran gefunden hat, seine Liebsten zu demütigen, ihnen wehzutun oder sie an andere auszuleihen. Was wie ein No-Go klingt, ist in der Szene üblich und gar nicht so verwerflich, wie es erscheint. Durch die Zweifel des Protagonisten an seinen neuen sexuellen Vorlieben, durch seine Angst, die Grenzen zu überschreiten, erfährt der Leser, der mit der Szene nicht viel zu tun hat, dass hinter BDSM keine skrupellose Gewalt steht, keine harten Kerle, die gerne Frauen dominieren, die sich nicht wehren können, sondern genau das Gegenteil: Dahinter stehen starke Frauen, die es kickt, wenn sie geschlagen werden und wehrlos gefesselt eine Nacht auf dem Fußboden verbringen müssen. Dahinter steckt viel Vertrauen und Zustimmung und noch etwas ganz Wichtiges: Liebe. Was Außenstehende nicht begreifen können, ist die gegenseitige Zuneigung und die Verantwortung, die der dominante, sadistisch veranlagte Top für den devoten und masochistischen Partner übernimmt – und dass jeder Bottom Mayday sagen und damit das Spiel sofort beenden kann. Andreas hat ein Tabuthema angesprochen und mit viel Sorgfalt aufgearbeitet.
Dass es auch anders geht, dass Grenzen überschritten werden und ein Save-word eben nicht berücksichtigt wird, ist der unschöne Teil der Geschichte und daraus resultieren die Morde, die ausgepeitschten jungen Frauen an den Kreuzen in Wien.
Manchmal ist es eklig, was beschrieben wird. Ich kann das Buch nicht an einem Nachmittag durchlesen und nur warnen, es kann verstören. Aber spannend ist es von der ersten bis zur letzten Seite und immer wieder für eine überraschende Wendung gut.

Fazit:
Eine gut durchdachte Story, die alles hat, was man erwartet: Viel Sex, ausreichend Crime und kleine Prisen Liebe und Romantik.


Andreas – Schatten
592 Seiten
Heyne Hardcore 2008
9,95 €
Heyne Verlag
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