Das Smalltown Girl

Die britische Sängerin und Songwriterin Tracey Thorn war die eine Hälfte der Band Everything But The Girl. Mit am bekanntesten ist ihr zeitloser Song „Missing“. Sie wuchs in Brookmans Park, Hatfield, auf, in einem der vielen trostlosen Vororte Londons. Wie sie ihre Jugend in „Suburbia“ verbrachte, wo so gut wie nichts passierte, das beschreibt sie ironisch in ihrem neuen Buch. Vierzig Jahre später fährt sie zurück an die Orte und Schauplätze ihrer Kindheit, sie nimmt die Bahn raus in ihren ehemaligen Vorort und lässt die Eindrücke sickern und die Gedanken kreisen. Sie erinnert sich, wie das damals war, als junges Mädchen, als in der Metropole London Sex & Drugs and Rock’n’Roll lockten sowie das ungezügelte Leben, während sie in Hatfield nichts hatte.

Dies hält sie in ihren Tagebüchern auch herrlich akribisch fest. Sie schreibt darin auf, was nicht passiert. Was sie sich nicht kauft, weil sie nichts Schönes gefunden hat, dass sie den Jungen nicht küsst, dass nichts Interessantes im Fernsehen kommt. Sie muss sich mit einem furchtbar einfachen Leben zufrieden geben. Sie liebt David Essex, spielt als Kind Theater, als erstes weibliches Role Model fällt ihr Björk auf, und sie hat Love Story und Carrie gelesen. Das ist so belanglos, dass es einerseits lustig ist, andererseits aber auch berührend, und ich erinnere mich an meine eigene ereignislose Jugend in einem langweiligen Kaff, während in München Freddie Mercury gewohnt hat, aufregende Konzerte stattfanden und die Reichen und Schönen barbusig Champagner aus High Heels tranken. Auch ich hielt an dem Ritual des Tagebuchschreibens fest, auch wenn nicht viel mehr festgehalten werden konnte, als neben wem man im Pendlerbus saß, wer heute süß und es morgen nicht mehr war, was man sich im WOM angehört und nicht kaufen konnte, und dass der Radiomoderator in die Aufnahme des Cassettenrecorders geplappert hat – beim schönsten Lied! Natürlich konnte Tracey zumindest sehr viel coolere Musik hören in Bromley, sie hörte David Bowie, Patti Smith und Blondie, konnte zu Konzerten gehen von Siouxsie And The Banshees, saß neben allen Mitgliedern der Raincoats und lernte die Slits kennen. Noch als Minderjährige gründet sie ihre erste Band, die Marine Girls. Später lernt sie Ben Watt kennen, der die andere Hälfte von Everything But The Girl wird und später ihr Ehemann. Ihre Verarbeitung ihrer Erlebnisse im Vorort, weit vor ihrer Karriere, hilft ihr ihre eigenen Kinder zu verstehen sowie eine gute Beziehung zu ihrer Schwester und den engen Familienangehörigen zu behalten. Tracey Thorn scheint eine treue, loyale Seele zu sein. Als Solokünstlerin hat sie neben ihren vier Alben noch zwei Bücher veröffentlicht. In My Rock’n’Roll Friend verarbeitet sie ihre lebenslange Freundschaft mit der Musikerin Lindy Morrison, die sie 1983 erstmals traf, und in Bedsit Disco Queen: How I grew up and tried to be a pop star beschreibt sie ihre Musikerkarriere. Es war nicht alles schön. Sie war eine Hälfte der Band Everything But The Girl, aber sie wurde auch als Indie Darling, als Middle-of-the-Road Nobody und als Disco Diva in den Medien beschrieben. Genügend Anlass für Selbstbewältigung. Ein gut zu lesendes Buch für alle, die gerne mehr über einen Alltag in einem englischen Vorort erfahren, der nicht recht viel anders ist als anderswo. Aber vor allem die Entwicklung zu sehen vom unscheinbaren Vorstadtmädchen zu einer unabhängigen musikalischen Größe hat mir persönlich Freude bereitet.

Neben ihrer Karriere mit Everything But The Girl arbeitete Tracey Thorn mehrmals mit Massive Attack zusammen, außerdem sang sie für The Style Council, The Go-Betweens, Working Week und Lloyd Cole. Mit ihrem Mann, den sie mit 22 Jahren heiratete, und ihren drei Töchtern lebt sie in London.

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Tracey Thorn: Ein anderer Planet
Originaltitel: Another Planet
Aus dem Englischen von Conny Lösch
Heyne Verlag, Vö. 26. April 2021
240 Seiten
Hardcover: 20 Euro, Taschenbuch: 8,89 Euro

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