Rotting slow in Europe

Im Moment scheint es angesagt zu sein, dass etablierte Bands spezielle „Frühwerk-Tourneen“ machen (zum Beispiel letztens bei Covenant miterlebt) und dem Publikum noch einmal die Lieder oder ganze Platten präsentieren, mit denen sie ursprünglich berühmt wurden. Eine großartige Sache, hat man so doch Gelegenheit, sich entweder wieder sehr jung und nostalgisch zu fühlen oder aufgrund zu später Geburt etwas nachzuholen.

Zu diesem Zweck versammelte sich eine doch ansehnliche Zahl von Langhaarigen in der Backstage Halle, um die quicklebendige Florida-Death-Metal-Legende Obituary und ihre ersten drei Alben Slowly we rotCause of death und The end complete aus den Jahren 1989, 1990 und 1992 gebührend zu feiern. Davor galt es aber noch, drei andere Bands kennenzulernen und teilweise auch zu bejubeln.

The Amenta

The Amenta - 2012 -12

Den Anfang machten um kurz nach halb acht Uhr die Australier von The Amenta, die mit viel schwarzer Farbe auf der nackten Haut, viel Engagement und düster-wahnsinniger Mimik (der Sänger) das leider noch extrem spärlich vertretene Publikum versuchten auf ihre Seite zu ziehen. Die Band existiert mit diversen Line-up-Wechseln seit 2001 und spielt eine Mischung aus Meshuggah-artigen Riffs, Industrial-Metal-Anleihen und Black-Metal-Drumming, gepaart mit aggressiv-heiserem Brüllgesang. Sie kann auf mittlerweile zwei Full-length-Alben und diverse EPs zurückblicken, aus denen ein schöner Querschnitt geboten wurde, mit leichter Konzentration auf die Alben Occasus (2004) und nOn (2008). Songs wie „Sekem“, „Mictlan“, „Erebus“ oder „Vermin“ wurden sehr sauber, präzise und brachial gespielt, die Band ist definitiv erfahren und routiniert, doch konnte sie leider das Publikum nur zu vereinzeltem Kopfnicken animieren, da der Wiedererkennungswert der Stücke doch etwas gering war. Kein schlechter Auftritt, aber nichts für die Ewigkeit. Nach einer halben Stunde Spielzeit räumten sie die Bühne für die zweite Band des Abends.

Psycroptic

Psycroptic - 2012-12

Ebenfalls vom anderen Ende der Welt angereist, präsentierten die 1999 im tasmanischen Hobart gegründeten Psycroptic eine hämmernde Mischung aus technischem Death Metal, Grindcore und einigen Hardcore-Anleihen, die die ersten Besucher vor die Bühne locken konnte. Die Band agierte sehr routiniert und präzise, Sänger Jason Peppiatt brüllte sich die Seele aus dem Leib bei Titeln wie „Carriers of the plague“, „Sleepers have awoken“ oder „Euphorinasia“. Die Songauswahl konzentrierte sich auf das aktuelle Album The inherited repression und den Vorgänger Ob(Servant) aus den Jahren 2012 bzw. 2008.
Auch hier ein grundsolider, engagierter Auftritt, der einige begeisterte Reaktionen im Publikum hervorrufen konnte, im Gegensatz zu The Amenta schienen Psycroptic etwas bekannter gewesen zu sein. Ein einsamer „Zugabe“-Ruf verhallte nach einer guten halben Stunde Spielzeit allerdings ungehört.

Macabre

Macabre - 2012-12

Um viertel nach neun betrat mit Macabre aus Chicago eine Band mit einem doch recht speziellen Thema die Bühne, die ihre Musik als „Murder-Metal“ bezeichnet. 1985 gegründet, hat man sich von Anfang an auf die berühmtesten Serienkiller der Menschheitsgeschichte konzentriert und vielen davon eigene Lieder oder sogar ein eigenes Album (Dahmer) gewidmet. Sänger Corporate Death gab dann auch zu jedem Song eine liebevoll-schwarzhumorig-augenzwinkernde Einführung in die thematischen Untiefen, was den Auftritt – gepaart mit den sehr eingängigen Death-Metal-lastigen Stücken – zu einem großen Vergnügen machte. Man gab einen schönen Querschnitt durch alle bisher erschienen Alben (u.a. mit den Songs „The Iceman“, „Nightstalker“, „Hitchhiker“, Scrub a dub dub“), würdigte auch die deutschen Serienmörder Fritz Haarmann („Fritz Haarmann der Metzger“) und den „Vampir von Düsseldorf“ Peter Kürten („Vampire of Düsseldorf“) und begeisterte die mittlerweile doch ordentlich gefüllte Halle mit einem gelungenen Venom-Cover („Countess Bathory“). Ein wirklich guter und unterhaltsamer Auftritt der seit Bandgründung in unveränderter Besetzung spielenden und entsprechend kauzig wirkenden Truppe!

Obituary

Obituary - 2012-12

Nach diesmal etwas längerer Umbaupause betraten unter frenetischem Jubel um halb elf dann endlich Obituary die Bühne, vor der sich ein dichter Pulk aus Die-hard-Fans versammelt hatte (Pech für die Fotografin des Abends, da war kein Durchkommen mehr). Instrumente umgeschnallt, beeindruckende Haarprachten ins Gesicht geschüttelt, und los ging es mit „Intoxicated“ vom Debütalbum Slowly we rot. Die Stimmung in der Halle war sofort großartig und ließ auch während der folgenden 100 Minuten nicht nach. Ohne nennenswerte Ansagen (was typisch für die eher distanzierten Amis ist), aber mit einem fetten Grinsen im Gesicht schleuderten Sänger John Tardy (diese Haare!), Gitarrist Trevor Peres (diese Haare!!) und die übrigen Mannen eine Oldschool-Granate nach der anderen ins Publikum und verursachten sicher nicht nur bei mir Herzrasen vor Begeisterung. Ich habe Obituary schon diverse Male gesehen, sie waren immer gut, aber an diesem Abend waren sie großartig. Man merkte ihnen den Spaß an, den sie beim Spielen der alten Klassiker hatten, und dieser Spaß übertrug sich eins zu eins aufs Publikum. „Immortal visions“, „Infected“, „Cause of death“, „Body bag“, „Killing time“, mein Favorit „Back to one“, „The end complete“ … es hörte gar nicht mehr auf. In der Zugabe gab es noch das obligatorische Drum-Solo von Donald Tardy (diesmal ohne die „Unterstützung“ seines Bruders John) sowie „I’m in pain“ und „Slowly we rot“ zu hören, inklusive eines kleinen Ausflugs ins Publikum des zweiten Gitarristen, den seine Bandkollegen grinsend verfolgten. Zum Abschluss bat die sichtlich bewegte und erfreute Band das Publikum vor der Bühne zum Gruppenfoto und bedankte sich vielmals mit Handschlag vom Bühnenrand aus. Generell gaben sie sich an diesem Abend sehr viel fanfreundlicher und offener, als ich sie bisher erlebt hatte, Stagediver wurden geduldet und sogar angefeuert, unzählige Plektren flogen in die Halle, Drumsticks sowieso … ein wirklich schöner und denkwürdiger Auftritt!

 

Schönheit, Mode und (Un-)Glück

 

paris

Hope nimmt schon früh erfolgreich an Schönheitswettbewerben teil, allerdings wird ihr Gesicht im Alter von zwölf Jahren aufgrund eines Unfalls entstellt. Aber ihre großen Träume bleiben: Mode, Schönheit, Paris. Vier Jahre nach ihrem Unfall ist sie an ihrem Ziel angekommen. Auf Hopes zukünftigen Weg begleiten sie Chastity, die sich aufgrund ihrer Schönheit an Männer verkauft und somit ihren Lebensunterhalt sichert, sowie Faith, die sich ihren Weg zur zukünftigen erfolgreichen Sängerin hart erarbeiten muss. Drei Frauen haben große Ziele – werden sie erfolgreich sein?

Eine überraschende und doch wieder nicht überraschende Geschichte (Models eben), schöne Frauen mit prägenden Kindheitserinnerungen, dies alles locker, aber auch tragisch, düster erzählt. Bekannte Gesichter aus den Hochglanz-Zeitschriften und Modelabels kommen hierin genauso vor wie die Gehässigkeiten einer Modelagentur-Chefin, Sex ebenso Drogen.
Die Erzählung liest sich gut und schnell. Aber diese Geschichte überzeugt mich vor allem dadurch, wie sie dargestellt wird: durch eine Graphic Novel (Näheres dazu siehe unten) mit Schwarz-Weiß Zeichnungen, die sehr gut gelungen sind und das Geschriebene besser rüberbringen können als nur Worte. Überrascht war ich von den beruflichen Entwicklungen der niederländischen Autoren, die am Ende des Buches amüsant erzählt werden.

:buch:  :buch:  :buch:  :buch:  :buch:

Maarten Vande Wiele, Peter Moerenhout, Erika Raven: Paris
Carlsen Verlag, 2012
216 Seiten, Hardcover mit Spotlack und Gummiband
€ 19,90
Amazon

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Graphic Novels

Auf die Graphic Novels wurde ich bereits im Oktober durch Herrn Ronald Hanke, Bücher am Schloss (Oberschleißheim) aufmerksam gemacht. Hier ein Auszug aus seinem damaligen Bericht während der Bibliothekswochen:

Der aus den USA stammende Begriff Graphic Novels ist nur eine andere Bezeichnung für Comics, Comics für Erwachsene oder auch Comics in Buchformat. Graphic Novels unterscheiden sich vom normalen Heftcomic aufgrund des thematischen Anspruchs und der Komplexität der Geschichten.
Der neue Ausdruck wurde vorwiegend für literarisch ausgerichtete Comics als Abgrenzung zum Mainstream gebildet.

Was bedeutet Comic? Hier findet eine Überschneidung von Literatur und bildender Kunst statt. Das Wort ist eine Ableitung von comic strip „komischer Streifen“. Der französische Literaturwissenschaftler Francis Lacassin ordnete 1971 den Comic als neunte Kunst in den Kanon der bildenden Künste ein.

In Europa entwickelte sich der Comic in langen Geschichten, Reihen und Fortsetzungen, wie zum Beispiel Tim und Struppi, Spirou & Fantasio, Asterix oder Lucky Luke.
Es entstand auch eine Form von Underground-Comics, herausgegeben von kleinen unabhängigen Verlagen, die oftmals scharf am Rand der Zensur entlang schrammten.
Was in Amerika undenkbar gewesen wäre, wurde in Europa ohne Altersfreigabe verkauft (Schwermetall, U-Comix und Pilot). Ebenfalls zu erwähnen sind im Genre Comics zum Beispiel die Edelwestern Leutnant Blueberry und Comanche, im Genre Krimi beispielsweise Torpedo. Gerade diese und viele andere zeichnen sich durch ihre Authentizität und teilweise brutale Kompromisslosigkeit aus.

In Brüssel gibt es seit 1989 sogar ein Comic-Museum für belgische Comics, das Belgische Comic-Zentrum (Centre belge de la bande dessinée (CBBD).

Aktuell gibt es viele Comiczeichner, sowohl in Nordamerika als auch in Europa, die eine stetig wachsende Fangemeinde haben. Beispiele: Alan Moore und David Lloyd (V wie Vendetta), Alan Moore und Dave Gibbons (Watchmen), Robert Kirkman (Walking Dead) und Steve Niles (30 Days of Night).

Einer erfolgreichen Comicreihe folgt in der Regel bzw. im günstigsten Falle eine erfolgreiche Verfilmung. In vielen Fällen ist das leider nicht so, die Verfilmungen blieben weit hinter den Erwartungen zurück, trotzdem die Macher sehr ambitioniert gearbeitet haben.
Im Gegensatz dazu steht die Verfilmung der Comicreihe The Walking Dead, die bei der ersten Ausstrahlung in den USA enorme Einschaltquoten verzeichnen konnte und somit als eine der erfolgreichsten Dramaserien bezeichnet werden kann. Aktuell läuft in den USA auf dem Sender AMC die dritte Staffel. In Deutschland strahlt der Pay-TV-Sender FOX die aktuellen Folgen nahezu zeitgleich aus. Im Free-TV kam RTL II Anfang November 2012 zum Zug und zeigte die ersten beiden Staffeln der Serie in einem Serienmarathon.

Josef Wilfling, Münchner Mordkommission

 

07.12.2012, VHS-Unterschleißheim
Josef Wilfling, Unheil: Warum jeder zum Mörder werden kann
Unheil ist Josef Wilflings zweites Buch, 2010 erschien sein Erstling Abgründe. Beides sind seine Erfahrungsberichte.

Josef Wilfling war bis 2009 als Ermittler und zuletzt Leiter der Münchner Mordkommission tätig; hier hat er die höchste Aufklärungsquote aufzuweisen. Am 07.12.2012 sitzt mir ein fülliger Herr gegenüber, seine fränkische Sprachfärbung, die Art und Weise wie er meist offen über seine Arbeit spricht, kommen bei mir gut an.

Nach eigenen Angaben war Josef Wilfling zu gutmütig für die Verkehrspolizei und wurde daher bei der Mordkommission eingesetzt. Die „Faszination des Bösen“ trat damit in sein Leben. Wenn man das Böse kennengelernt hat, ist die Faszination allerdings weg und die Angst kommt zum Vorschein. Für den Zeitungsleser oder Nachrichtenhörer ist es auch nur faszinierend, wenn die Geschehnisse weit weg sind.

Obwohl der Polizist viel Schreckliches gesehen hat, verlor er nie den Glauben an die Menschheit, denn es gibt immer noch genug gute Menschen. Wilfling spricht auch davon, dass man ein intaktes (privates) Umfeld braucht und nach dem Dienst abschalten können muss sowie mit Kollegen über die beruflichen Schrecknisse sprechen soll, um sich dem Bösen immer wieder stellen zu können. Mit seiner Frau ist er seit über 40 Jahren verheiratet, aber zuhause wurde nie vom Dienst gesprochen. Er geht davon aus, dass seine Frau seine Bücher bisher nicht gelesen hat – obwohl sein Neuling bei ihr auf dem Nachttisch liege.

In der Zeit von 1987 bis 2009 gab es in München und im dazugehörigen Landkreis über 300 Morde und 800 Mordversuche. Bei der Mordkommission ist Teamarbeit angesagt, um die Fälle von Sexualmord, Raubmord und andere mit den ER-Tötungsarten (erschlagen, ersticken, erschießen) lösen zu können.

Die Motivlage der Täter wird unterschieden in emotional (aus Leidenschaft) und rational (eiskalter Mörder). Ebenso hat Wilfling drei Serienmörder-Fälle bearbeitet und aus jedem Fall gelernt. Diese Taten sind meistens sexuell motiviert. Eine besondere Kategorie sind für ihn die Ehrenmorde. Sechs davon musste er unter die Lupe nehmen, sie haben ihn sehr erschüttert.

Bei diesem Vortrag geht es um das Böse im Alltag. Was ist böse? Der Mensch kommt nicht als Mörder zur Welt. Jeder hat gute Seiten, wie auch böse, letztendlich ist das eine persönliche Entscheidung, für welche man sich entscheidet.

Ein Mörder will nicht gefasst werden, er würde ansonsten alles verlieren. Jeder probiert den perfekten Mord. Gibt es diesen? Nein, vollkommen, perfekt ist nur Gott (besagt eine philosophische Antwort). Fehlerfrei? Ja, fehlerfrei ist möglich. Es gibt viele unentdeckte Tötungsdelikte, vor allem in Zusammenhang mit älteren Menschen. Nicht umsonst fordern die Ermittler eine zweite Obduktion vor der Beisetzung der Opfer; allerdings sieht der Gesetzgeber dafür keinen Handlungsbedarf. Die Regierung will das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung nicht beunruhigen.

Es hat mich nicht überrascht, dass der Mörder meist im Nahbereich des Opfers zu suchen ist. In der Anfangsphase der Ermittlungen werden zuerst Ehemann, -frau, Lebensgefährte, -in verhört. Ein Ausspruch von Herrn Wilfling an diesem Abend ist: „Erst Rosamunde Pilcher, dann TATORT“.
Eine bedenkliche Entwicklung stellt der eskalierende Konflikt zwischen Eltern und Kindern dar. Man erkennt eine zunehmende Verrohung, und dass den Kindern keine Werte mehr vermittelt werden.
Einen weiteren Krisenherd birgt die Erbschaft. Wenn Gier, Neid und Missgunst aufkommen, die Enterbung droht, entwickelt sich das Böse. Das konnte Wilfling auch bei den Untersuchungen zum Mord des Schauspielers Walter Sedlmayr verfolgen.
Eine hohe Dunkelziffer gibt es in der Altenpflege. Nicht jeder Fall, bei dem ein/eine Altenpfleger(in) die zu pflegende Person tötet, wird entdeckt.
Nachbarschaftskriege (Orginalton Wilfling: „Gibt es eigentlich noch gute Nachbarschaften?“) werden auch vielfach blutig beendet. Auslöser kann der Ast sein, der über den Zaun hängt, und enden kann es bei dem großen Blumentopf, der auf dem Kopf von einem der Kontrahenten landet. Der Tod, das Gefängnis, die Zerstörung von Familien sind die Folge.
Mobbing hat sich mittlerweile zum riesigen Problem entwickelt. Nicht nur im Beruf und am Arbeitsplatz, auch an Schulen, vor allem Mädchenschulen, wird dank Internet anonym agiert.

Die schlimmsten Verbrechen in Bayern und Deutschland wurden durch Polizisten und Postboten verübt. Man nehme als Beispiel den BND-Mitarbeiter, der 2001 seine Frau grausam mittels zwei Hämmer tötete oder auch den Mädchenmörder von Krailling (Postbote), der seine zwei kleinen Nichten schrecklich zugerichtet hat (vom Täter wurden drei Tötungsmöglichkeiten angewendet).

An diesem Abend gibt es auch ein paar wissenswerte Zahlen:
Jährlich flüchten 45.000 Frauen in Frauenhäuser.
2011 wurden 146 Kinder umgebracht, das sind drei pro Woche! 2010 waren es noch 183; zweidrittel der Opfer waren jünger als sechs Jahre. 70.000 Kinder wurden schwer verletzt. Wo ist das passiert? In der Familie! Totgeschüttelt, erschlagen, verhungert …
Unter den Senioren gibt es 12.000 Opfer; wie oben schon beschrieben ist allerdings die Dunkelziffer groß.

Wie wird man zum Mörder? Leider reduziert sich die Hemmschwelle immer mehr, negative Emotionen kochen hoch, das Böse schwappt über – ein Schwelbrand.
Wer sind die Täter? 10 % sind Frauen, 90 % Männer.
Warum passiert ein Mord? Ein Hauptgrund ist die Verlustangst. Aus Neid, Hass und Rache, Habgier, Raffsucht oder zur materiellen Bereicherung: Dafür geht man über Leichen.

Laut Herrn Wilfling ist Deutschland die Insel der Glückseligkeit und München ist das Paradies! Als Gegensatz nennt uns der noch immer engagierte Ermittler Zahlen aus Honduras bzw. Mexiko: Jährlich passieren dort 80 bis 120 Morde.
In München gab es 37 Morde im Jahr 1987 – 15 Morde von Januar bis Juli, einer im Dezember 2005 – 2009 drei Morde, 2012 zwei.
Sind die Menschen besser geworden? Mag sein, aber die verbesserten sozialen Verhältnisse tun das ihre.

Könnte auch ich zum Mörder werden? Emotionen sind nicht kontrollierbar. Eine Empfehlung des Redners ist: Sollte man bei Hass- und Rachegedanken nach drei Tagen immer noch nicht frei davon sein, sollte man professionelle Hilfe annehmen.

Ich hoffe, demnächst Unheil hier rezensieren zu können.

Es irrt der Mensch, solang er strebt

howard_seelenfaenger

Johannes Cabal ist Nekromant, und versteht noch dazu überhaupt keinen Spaß. Um sein geheimes Wissen zu erlangen, verschacherte er dereinst seine Seele an den Teufel, doch ein Bund mit diesem Zeitgenossen geht bekanntlich nie so aus, wie man es gern hätte. Deswegen will Cabal seine Seele zurück, und da Geduld nicht gerade zu seinen Stärken zählt, macht er sich auf in die Hölle, um dort etwas Unfrieden zu stiften und schließlich mit dem Satan um seine Seele zu wetten: Bringt er ihm innerhalb eines Jahres 100 andere Seelen, so bekommt er seine eigene zurück. Klingt doch fair. Und als Hilfe gewährt der Leibhaftige ihm sogar Unterstützung durch einen Jahrmarkt, denn wo könnte man den Menschen schließlich besser das Geld und die Seele aus der Tasche ziehen? So macht sich Johannes auf eine verrückte Reise, um mit seinem Bruder Horst, einer Krähe und einem Haufen wahrlich jahrmarkt-tauglicher Mitarbeiter die Wette zu gewinnen.

Die Story von Seelenfänger ist natürlich keine neue, bereits Goethe hatte die Idee mit dem Wissenschaftler, der seine Seele verkauft. Und genau da liegt der Hund begraben (oder vielleicht auch nicht, bei einem Totenbeschwörer?) – denn wie so oft sind die simpelsten Geschichten doch die, die uns am meisten beeindrucken.
Wie auch Faust im weltberühmten Drama, so ist Johannes Cabal nicht unbedingt der sympathischste Typ von Hauptcharakter. Genau genommen hat fast jede andere Person freundlichere Wesenszüge abbekommen. Sein triefender Sarkasmus und die Absurdität seiner vollkommen analytischen Denkweise sorgen zwar für einige Lacher, aber kaum jemand würde diese Sorte Mensch als „nett“ beschreiben. Unterstrichen wird dies dadurch, dass Howard nur sehr selten seinen Vornamen benutzt, meist ist schlicht von „Cabal“ die Rede – sein Bruder wird jedoch stets Horst genannt. Es ist nicht schwer zu bemerken, dass sogar Horst, der sicher auch seine Leichen im Keller hat und sogar selbst eine solche war, menschlicher ist als der Nekromant. Sogar Satan kommt als bemerkenswert nett beim Leser an. Trotzdem schafft Howard es auf wundersame Weise, dass man dem gewissenlosen Nekromanten nichts Böses wünscht und irgendwie auch Mitleid mit ihm hat.
Große Überraschungen bietet Seelenfänger zwar nicht, doch bei dieser Art von Geschichte ist es nahezu unmöglich, sie so hinzudrehen, dass tatsächlich etwas gänzlich Unerwartetes passiert. Es gibt Dinge, die müssen geschehen, und es gibt Geschichten, die nur einen möglichen Ausgang nehmen können. Howard schreibt dennoch mitreißend genug, dass man ständig hofft und still fleht, Cabal möge Einsicht haben und zu einem guten Menschen werden. Und schließlich muss er erst beinahe alles verlieren, fast sogar sich selbst, bevor der gefühlskalte Nekromant zeigt, dass er sich seine Seele doch irgendwie verdient hat.
Neben Faust sind auch Anspielungen an H.P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos zu finden, und ich meinte sogar, kleine Zitate von Monty Python und aus Charles Dickens‘ Klassiker A Christmas Carol zu entdecken.
Der aberwitzige Stil und tiefschwarze Humor erinnert zum Teil an Neil Gaiman oder Terry Pratchett, generell ist Howards Roman aber düsterer, sowohl thematisch als auch im Detail. Der Zombie-Zirkus hat einen geradezu burtonesquen Hauch und bietet eine so herrliche Vorlage, dass man sich wünschen würde, jener Filmemacher würde sich des Buches annehmen.
Johannes Cabal: Seelenfänger ist eine schwarzbunte Achterbahnfahrt, die die Lachmuskeln schwer beansprucht. Eine alte Geschichte mit einem modernen Antihelden, den man wirklich nur mögen kann, wenn man ihn nicht persönlich ertragen muss. Ein garantierter Lesespaß für Fans von Tim Burton, Neil Gaiman und den guten, alten Geschichten über das Austricksen des Teufels. Macht definitiv Lust auf Teil zwei und drei der Reihe!

:buch:  :buch:  :buch:  :buch:  :buch:

Jonathan L. Howard – Johannes Cabal- Seelenfänger
Goldmann, Taschenbuch, 2009
384 Seiten
12,00€

Johannes Cabal: Seelenfänger bei Goldmann

Johannes Cabal: Seelenfänger bei Amazon
Jonathan L. Howard 

 

“We’re going to be free”

rabia-sorda

Wütend, anklagend und unbequem, so präsentiert sich das Soloprojekt von Hocico-Fronter Erk Aicrag. Was 2003 als Ein-Mann-Ding begann, ist mittlerweile von vielen eher als Trio angesehen, Grigory Feil gehört dazu, ehemaliger Mitstreiter der Electro-Industrial-Formation UnterArt, und Jeans. Erk Aicrag ist kein Unbekannter; der Mexikaner macht leidenschaftliche Electro-Musik, die unter Insidern sehr beliebt ist.
Nun melden sich die drei mit einer Scheibe zurück, die ein richtig guter Vorgeschmack auf das kommende Album Anatomia Frenetica ist.
Doch der Reihe nach. Zuerst sollte man sich nämlich auf youTube das Video zur Single anhören, die am 30.11.12 in die Läden kam. Eye M The Blacksheep klingt schon nach Sünde und Vergehen, nach Schuld und Anklage, aber wenn man nun ein ganz plakatives Video erwartet, täuscht man sich. Die Szenen spielen in einem Wald, durch den zwei junge Frauen in roten Kleidern laufen, die einen jungen Mann beobachten, der mit einer Augenbinde umherirrt. Etwas später gibt es einige homoerotische Einblendungen der beiden Schönheiten, einen Feuerkreis, Alkohol, ja, fast eine kleine Orgie. Dieser Clip gehört zu denjenigen, die man nicht wirklich in Worte fassen kann, sondern einfach selbst sehen muss, um zu spüren, was alles darin steckt. Mehrfach anschauen lohnt sich auf jeden Fall – dabei sollte man dann auch ein Augenmerk auf die Lyrics lenken. Da geht es nämlich um haltlose Vorurteile und wie sich einer dagegen wehrt. Es ist vorbei damit, immer der Schuldige zu sein, es ist aber vor allem damit Schluss, blind, stumm und angepasst der Gesellschaft anzugehören, über die man doch nur hinter vorgehaltener Hand jammert. „No one’s gonna shut me up“ singt Erk Aicrag und hat damit einen Text verfasst, den man zeitweise aus voller Kehle durch die Straßen schreien möchte. Es ist ein Protestsong, der auf harte Musik und Brutalität verzichtet, sondern durch Worte glänzt und überzeugt.
Dieser Song befindet sich sechsmal auf der Single, fünfmal sind es Remixes, die mal härter, mal elektronischer einschlagen. Chris „The Lord“ Harms hat es sich nicht nehmen lassen, den Song selbst zu interpretieren, mit dabei war Corvin Bahn, der unter anderem am aktuellen Lord Of The Lost-Album mitgewirkt hat und definitiv ein Händchen für Kompositionen hat. Da Erk Aicrag sich an der Die Tomorrow-Scheibe beteiligt hat, ist diese Retoure keine Überraschung.
PankowAbsolute Body ControlKuroshio und Officers heißen die anderen Interpreten, die sich an den Song gewagt haben. Vielleicht nur wenigen bekannt, lohnen sich aber die unterschiedlichen Varianten des Stückes, die die verschiedene Facetten mal mehr, mal weniger betonen.
Erk Aicrag kann auch anders. Ein wundervolles, emotionales Lied hat er geschrieben. Darin nimmt ein Sohn Abschied von seinem Vater. Dieser Text gipfelt in der Bitte: “When we meet one day just hold me…“. Mir fällt es da doch schwer, keine Träne zu verdrücken.
Zuletzt findet der Zuhörer ein Cover von „She’s Lost Control“ auf der Scheibe. Joy Devision haben das Original geschrieben und performt und sind vielen wohl kaum noch bekannt. Es ist eine schöne Hommage an eine Band, die leider viel zu früh schon wieder aufhören und unter anderem Namen in anderer Besetzung weitermachen musste, nachdem sich Sänger Ian Curtis im Mai 1980 erhängt hatte.

Rabia Sorda – auf Deutsch in etwa „taube Wut“ – haben eine gute, auf 1000 Stück limitierte Single veröffentlicht. Sie besticht nicht durch musikalische Glanzleistungen, sondern durch textliche Höhenflüge, Ausdruckskraft und Kampfgeist, die es vielleicht schaffen, den ein oder anderen aus seiner Lethargieaufzuwecken.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

Rabia Sorda – Eye M The Blacksheep (Single)
Out Of Line, 2012
6,99 €
Amazon

Tracklist:
1. Eye M The Blacksheep
2. Father
3. Eye M The Blacksheep (Lord Of The Lost Remix by Chris Harms & Corvin Bahn)
4. Eye M The Blacksheep (Pankowremix)
5. She’s Lost Control (and me too)
6. Eye M The Blacksheep (Absolute Body Control Remix)
7. Eye M The Blacksheep (Kuroshio Pitch Black remix)
8. Eye M The Blacksheep (Officers Remix)

Katzen, Schuhe, Doppelleben

grimes_all-die-schoenen-tote

Im kleinen Örtchen Chesham wird die beeindruckend elegant gekleidete Leiche einer jungen Frau gefunden. Die Suche nach ihrer Identität gestaltet sich als überraschend schwierig für Superintendent Richard Jury von Scotland Yard, und es stellt sich heraus, dass die junge Dame ein interessantes Doppelleben geführt hat. Doch in Chesham ist der einzige Mordzeuge die schwarze Pubkatze, die kurz darauf verschwindet. Als in London eine weitere, und schließlich eine dritte junge Frau erschossen aufgefunden werden, beginnen für Jury höchst verworrene Ermittlungen und er taucht ein in eine Welt aus schönem Schein, Eifersucht und Schuhen.

Anfangs ist Martha Grimes‘ Stil etwas verworren, ich hatte Schwierigkeiten, bei Dialogen den roten Faden zu behalten. Doch man gewöhnt sich schnell ein und die Geschichte nimmt zügig Fahrt auf, um den Leser mitzureißen. Von Anfang an wird klar: Die Schuhe müssen der Schlüssel zum Geheimnis um den Tod von drei jungen Frauen sein, denn sie alle trugen nur die edelsten Treterchen. Dennoch fand ich das plötzliche Interesse eines hochrangigen Polizisten in seinen 40ern an Manolo Blahnik etwas übertrieben. Auch seine Frauengeschichten konnte ich nicht ganz durchblicken, wobei das vermutlich daran liegt, dass All die schönen Toten mein erster Roman von Martha Grimes ist.
Die Geschichte um Jurys Ermittlungen wird immer wieder unterbrochen von netten und kurzweiligen Episoden um Morris, die schwarze Katze, die aus dem Pub verschwunden ist, vor dem der Mord geschehen ist. Diese stellt sich als entführt heraus und schließt Freundschaft mit Mungo, dem Hund von Jurys Lieblingsfeind Harry Johnson. Doch was diese goldigen Einwürfe nun mit der eigentlichen Kriminalgeschichte zu tun haben – keine Ahnung. Eventuell ist es auch hier hilfreich, die Vorgeschichte zu kennen, denn ganz schlau wurde ich aus der Beziehung zwischen Harry und Jury nicht. Die Art, wie der Polizist sich von einem potentiellen Mörder auf der Nase herumtanzen lässt, war zumindest sehr merkwürdig. Auch die Rettung eines streunenden Hundes und die Diskussion über dessen Namen, der sich durch etwa zwei Drittel des Buches zieht, brachten mich mehr als einmal zum Stirn runzeln. In diesen Episoden geht der Bezug zur Handlung und der rote Faden dermaßen verloren, dass ich mehrmals zurückblättern musste, um den Handlungsverlauf im Auge zu behalten.
Martha Grimes punktet mit einem herrlich bissigen Humor und Bemerkungen, die mich mehrmals laut auflachen ließen. Sie schreibt flüssig, doch in manchen Teilen kamen mir die Dialoge extrem gestellt vor. Außerdem stört die penetrant häufige Benutzung des Wortes „ausklamüsern“ den Lesefluss.
Die Hauptgeschichte, von allen Tieren und Harrys mal abgesehen, ist fesselnd und interessant. Die Schlüsselrolle von Mode und Schuhen bietet wahrscheinlich besonders Frauen einen Anreiz, doch der Fall, an dem Jury hier zu knabbern hat, geht weit über diese oberflächlichen Themen hinaus. Im Grunde spiegelt dieser Gegensatz genau den Inhalt des Romans wieder: zwei Welten, zwei Leben, nebeneinander. Glanz und Glitzer an der Oberfläche, doch was liegt darunter? Genau dies ist der Schlüssel zur Lösung des Rätsels, denn der erste Eindruck ist nicht immer der richtige.

Alles in Allem ist All die schönen Toten ein gelungener Krimi und ein kurzweiliger Lesespaß. Die Handlung entwickelt sich flüssig und bleibt spannend, wird jedoch von Tiergeschichten und dem mir nach wie vor vollkommen schleierhaften Charakter des Harry Johnson unnötig in die Länge gezogen und auf eine harte Probe gestellt. Vielleicht ist dies aber für Fans der Serie weniger störend, als für einen Einsteiger. Der sprachliche Stil macht Spaß, und die Episoden mit Mungo und Morris, die sich so gar nicht wie Hund und Katz‘ benehmen, sind immerhin für ein Schmunzeln gut.

:buch:  :buch:  :buch:  :buch2:  :buch2:

Martha Grimes – All die schönen Toten
Goldmann, Taschenbuch, 2012
382 Seiten
9,99€
ebook: 8,99€

All die schönen Toten bei Goldmann

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Martha Grimes

„Jetzt und ehedem“

 

wittEhedem begann der Lebensweg von Joachim Richard Carl Witt am 22. Februar 1949 in Hamburg. Er ist ein introvertierter Mensch, der schon früh mit Musik in Berührung kommt und sich seinen Zugang zur Musik selbst entwickelt. „Der goldene Reiter“ und „Die Flut“ bilden die musikalischen Erfolge in seinem Leben. Die Arbeit und Geschichte zu seinen Alben, anfangs mit der Band Duesenberg, bis zu dem 2012 erschienen DOM sind keine durchgehend aufsteigende Siegesstraße, sondern haben auch viele Talfahrten. Witt gibt nicht viel Privates preis, aber dafür hat er sich bei seiner Arbeitsweise über die Schulter schauen lassen.

Und wen interessiert diese Biografie? Fans, Freunde seiner Musik, die vielleicht den „Goldenen Reiter“, „Herbergsvater“, „Das geht tief“, „Jetzt und ehedem“, die Alben POP, Eisenherz oder Teile der Bayreuth-Reihe im CD-Regal haben. Vielleicht auch Interessierte, die wissen wollen, wer hinter dem viel diskutierten „Gloria“-Video steckt.
Witts Entwicklung vom kleinen Jungen, der vor der Familie dirigiert, über den ersten Fernsehauftritt beim Musikladen im Jahr 1982, bis zu den vielen musikalischen Misserfolgen, in denen sein Herzblut und unter anderem auch Geld steckte, und dem privaten Herzschmerz, der ihn auf neue Wege gebracht hat, ist in der Rückschau verfolgbar.
Diese Biografie hat mich dazu gebracht so manche LP und manches Video von Joachim Witt anzuhören, anzusehen, hinzuhören und hineinzudenken.

Jetzt bleibt mir nur noch zu sagen: „Danke“, Herr Witt, für einen neuen Blick auf Ihre Musik. Und mein Urteil abzugeben:

:buch:  :buch:  :buch:  :buch:  :buch:

Thomas Bleskin, Joachim Witt – DOM – Eine Biographie [Kindle Edition]
Isabel Regehr (Herausgeber)
44 Seiten
4,11 €
Amazon