Extreme Vergangenheitsbewältigung

Kinga, eine alleinerziehende Mutter und Anwältin, fährt nach Hamburg, um einen Vortrag zu halten. Sie reflektiert im Zug über sich selbst und ihre Generation. Die Generation Eigenschaftslos, Babyboomer, die vielen Gezeugten, um die Lücken der Kriegstoten zu stopfen. Kingas Fachgebiet ist Erbrecht. Und auf dem Vortrag in Hamburg will sie über ihre Mutter reden, Alissa, die ein Kriegskind war, geboren in einem Lebensborn in München-Solln. 

Nach dem Vortrag wird sie von einer Frau namens Dorota angesprochen. Kinga entdeckt also einen polnischen Zweig in der Familie und erbt überraschend von ihrer Mutter eine Wohnung in Wroclaw (Breslau). Schnell werden sie vertraut. Und sehr schnell kommt eine verzwickte Familiengeschichte ans Tageslicht. Der Nationalsozialismus und der Weltkrieg haben das zustandegebracht. Flucht, Migration, Verfolgung, Vertreibung, Ermordung, Täuschung und Verwandlung entstanden daraus.

Wir lesen von den Umständen in einem Lebensborn, der letztendlich nichts anderes war als eine Zuchtmaschinerie für Arier. Uneheliche Kinder konnte man vielleicht noch dort verstecken und für eine Adoption bereitstellen, wenn sie blond und blauäugig waren. Wir lesen von den Familien Valerius und Schücking, die eine in Polen ansässig, die andere in Deutschland. Wie die Vorzeigenationalsozialisten Gerda und Gerd leider keine Kinder bekommen konnten, und deshalb an Alissa aus dem Lebensborn kamen, die sie danach Gerhild nannten. Wer in Wirklichkeit Alissas Mutter war, die arme Adele, die im Haushalt Valerius Else und Marolf dienen musste. Nachdem die kleine Alissa Marolf immer mehr ähnelte, wurde sie weggegeben. Immerhin war da ja noch das eigene Mädchen, Reni, da.

Von jeder Protagonistin wird detailreich berichtet, in der Zeit vor und zurück, die Perspektiven wechselnd. Sehr verwirrend ist das anfänglich, aber man kann das Buch tatsächlich nicht mehr aus der Hand legen. Es ist wirklich ein Jahrhundertroman über Familien vor, während und nach dem schrecklichen Krieg. Erzählt wird von Müttern und Töchtern, Deutschen und Polinnen im 20. Jahrhundert, denn natürlich sind es immer die Frauen, die am meisten leiden müssen. Von bestialischen tage- und wochenlangen Massenvergewaltigungen auf der Flucht oder auf der Suche. Wie man damit umzugehen lernt, wie man danach wieder leben soll. Selbst wenn man körperlich wieder auf dem Damm ist, gibt es Situationen, die Weichen für eine Zukunft stellen. Deutsche Eltern werden aus Polen ausgewiesen, das Kind bleibt zurück und verwandelt sich fast perfekt in eine Polin. Doch die Angst bleibt für immer.

Die Verwandelten ist schwer zu lesen. Bilder brennen sich ein. Ich bin bedrückt beim Lesen. Aber es hat mein Interesse an der Geschichte mehr denn je geweckt. Ich will unbedingt bald einmal nach Breslau und dort an der Oder sitzen.

Ulrike Draesner (*1962) schreibt Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays, Hörspiele, Libretti, und wurde vielfach ausgezeichnet. In ihren Werken fasst sie in Sprache, was kaum sagbar ist, Sehnsüchte, Abgründe und Traumata. Mehr unter www.draesner.de

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Ulrike Draesner: Die Verwandelten
Penguin Verlag, Originalausgabe Edition, Vö. 8. Februar 2023
Gebundene Ausgabe: 608 Seiten
26 Euro

 
 

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