Im Jabel der Welt

25 Jahre lang ist Tine Wittler zufrieden mit ihrer Wahlheimat Hamburg. Hier ist sie Mensch, hier darf sie sein, hier hat sie ihre Auftrittsmöglichkeiten, ihre Leute und ihr Leben. Aber eines Tages ist ihr das alles zu viel. Wozu stundenlang im Stau stehen? Wofür der Citybungalow und all der Plunder, von dem sie all die Jahre dachte, sie würde ihn brauchen? Mehr und mehr kommt sie zu der Erkenntnis, ihr Unwohlsein hat einen Namen: Es heißt Großstadt.

Die Wittlerin, wie sie sich selbst nennt, merkt, ein ostwestfälisches Landmädchen kriegt man auch nach einem Vierteljahrhundert nicht aus sich heraus. Es verschafft sich wieder Zutritt. Es will wieder frisch gemähten Rasen unter den Fußsohlen spüren und sich im hohen Mais verstecken können. Es will nach all der Zeit wieder eine überschaubare, kleine Welt. Nun müssen nur noch der Mann und die Katze überzeugt werden, dass es auf dem Land ungleich schöner ist, und los kann es gehen, das Abenteuer Land! Ach ja, und eine geeignete Butze muss man auch noch finden. Ausgiebige Onlinerecherchen im Radius „Hamburg + 150 km“ bringen sie schließlich ins Wendland nach Jabel, einem 60-Seelendorf (inklusive Ferienhausbewohner!). Ein alter Fachwerkkasten hat es ihr angetan. Es ist ein Haus, in dem einst auch ein Café betrieben wurde. Das würde ihre Kneipe werden, dann wäre auch das Hamburg-Heimweh nicht groß. Der Mann und Smörchen kennen nichts anderes als die Großstadt, weswegen die Wittlerin erst einmal eine Woche alleine zur Probe wohnt. Offen, wie sie ist, schließt sie schon mal Freundschaften, gleich vorneweg mal mit skurrilen aber liebenswürdigen Nachbarn wie Shreki und Wurm nebst Gattinnen und allerlei Getier. Nach und nach gewöhnt sie sich ein, auch der Mann kann sich an den Wochenenden ans Dorf- und Kneipenleben gewöhnen. „Wittlerins Wohnzimmer“ ist geboren. Es ist eine erdige Kneipe, in der ohne Chichi gegessen, getrunken und geplaudert werden soll. Gequirlte Latte zum Preis eines Kleinwagens wird es bei ihr nicht geben! Aber Tine Wittler muss auch eines zugeben: Auch auf dem Land ist nicht immer alles Gold. Es gibt viel zu tun, der Winter ist kalt, es gibt zwar viele Straßenlaternen und doch ist es immer dunkel, und es gibt kaum Netz. Doch es gibt Ruhe, und es gibt kein Aufbrezeln, weswegen Tine so ziemlich all ihre Fummel und Schminksachen entsorgen kann. Downshifting ist das Zauberwort! Die Wittlerin kann sich ganz und gar dem Wohnzimmer widmen, es wird zu einer kleinen Berühmtheit mit auftretenden Künstlern und Chanson- und Musikkabarettprogramm.
Und dann kommt Corona. Wir wissen alle, was diese Pandemie mit uns macht, allen voran mit Kunst- und Kulturschaffenden. Eine Tine Wittler ist hier nicht außen vor. Im Frühjahr 2020 hat man noch Hoffnungen. Hier gibt es Alternativen, Abstandskonzerte, Außengastronomie, To Go. Im Sommer gibt es noch einmal ein richtiges Highlight im Wohnzimmer, als Marla Glenn auftritt, die Tine seit vielen Jahren aus Hamburg kennt. Doch seit November 2020 ist alle Kultur tot. Tine hofft, dass es auch nach der Pandemie noch Kneipen, Kultur, Konzerte geben wird. Sie ruft dazu auf, alles Kulturelle anzunehmen, auch wenn es noch so dürftig erscheint. Hinter jedem kleinen Hinterhof-Abstandskonzert mit Fassungsvermögen von acht Menschen steckt Lust und Leidenschaft, aber auch Not.

Ich habe mir von diesem Buch heitere Lektüre versprochen, und das war es auch. Luftig, locker und süffisant schreibt hier eine sympathische, weltoffene Frau über ihr Leben und das Anderer. Der Ausblick auf die Kulturszene aber bringt einen auf den Boden der Tatsachen zurück und gibt einem zu denken.

(Christine) Tine Wittler, geboren 1973 im ostwestfälischen Rahden, ist eine deutsche Schriftstellerin, Filmproduzentin, Schauspielerin, Sängerin und Fernsehmoderatorin. Von 2003 bis zur Einstellung der Sendung 2013 moderierte sie die RTL-Sendung Einsatz in 4 Wänden – womit sie mir persönlich auffiel.

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Tine Wittler: Suche Heimat – biete Bier!
Knaur TB , 1. April 2021
256 Seiten
Paperback 14,99 Euro
eBook 12,99 Euro

https://www.facebook.com/WittlerinsWohnzimmer

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