Erwachsen geworden

Nur ein Jahr nach ihrem Debütalbum gibt es neuen Stoff aus Estland – Defrage, die sechs baltischen Hardrocker, die in den Fußgängerzonen Europas CDs verkaufen, melden sich mit ihrem neuen Silberling The Sick Letter zu Wort. Nachdem sie daheim nach Hotelrandalen in alter Rockermanier Hausverbot hatten, verbrachten sie den größten Teil des letzten Jahres auf Tour, was sie allerdings nicht davon abhielt, ein neues Album aufzunehmen. Gerade waren sie zurück daheim (wo sie genächtigt haben? Keine Ahnung!) und haben den Videoclip zu Track vier des Albums, We are Metal aufgenommen, und dieser Track beinhaltet die Kernaussage des neuen Machwerks.

mõõdud [Converted]


Bereits aufs erste Hören fällt auf, dass Defrage sich selbstbewusster zeigen, härter. Die Gitarren verzerrter, die Riffs metallischer, die Shouts präsenter, dabei fehlen aber nicht die eingängigen Melodien, die mich bereits an ihrem ersten Album Jackal gereizt hatten. Doch wo der Vorgänger noch eher harmloser Rock war, fließen nun immer mehr Metal-typische Elemente in die Songs ein, einige davon sind mir persönlich fast etwas zu plakativ, gerade mit den langen Shout- und Scream-Passagen kann ich persönlich weniger anfangen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – treten die sehr klaren Melodieteile stärker hervor und bekommen einen ganz neuen Reiz und die ruhigeren Parts schaffen einen interessanten Gegenpol zum Metal. Die Stücke sind abwechslungsreicher und bieten mehr Überraschungen, als auf Jackal, verträumte Melodien werden von rasenden Powermetal-Elementen gejagt, die in bombastische Finale aufgehen.

Eine dieser Überraschungen bietet One World, One Dream, das bereits vom ersten Album bekannt ist, diesmal allerdings als „Metal-Version“. Das ursprüngliche One World, One Dream war geprägt von akustischen Gitarren und einem Layback, das zum Entspannen einlud. Das neue reißt den Hörer mit, schreit ihm ins Ohr und schüttelt ihn kräftig durch, es nimmt den Charakter seines Vorgängers und dreht ihn kräftig durch den Wolf – ist aber auf seine ganz eigene Art durch den krassen Wechsel von Screams und verzerrten Gitarren mit der altbekannten Melodie faszinierend. Vielleicht bin ich ein Gewohnheitstier und tue mich schwer mit Neuem, aber ich muss zugeben, dass mir das alte, akustische Stück etwas besser gefiel.
Umso überraschender ist Anti-Ballad, hinter dem ich zunächst einen krassen Nackenbrecher vermutete, das sich dann aber doch als kraftvolle Ballade herausstellt, die bewusst mit kitschigen Elementen spielt und sie so mitreißend mit Metal unterlegt, dass man den unbestimmbaren Drang hat, ein Feuerzeug zu schwenken.
Mit Infinity 8 bewiesen Defrage bereits auf Jackal, dass sie selbst komplett genrefremden Songs ihren eigenen Stil aufdrücken können, und diesen Geniestreich wiederholen sie auf The Sick Letter mit dem Lana del Rey-Cover Video Games, das zusammen mit Anti-Ballad, Bonfire Song und Lullaby einen Ruhepol des Albums bildet und irgendwie zum Träumen einlädt, auch wenn die Träume schwermetallisch und beinahe episch sind.
The Sick Letter ist insgesamt weniger easy listening als sein Vorgänger es war, kann dafür aber mit energiesprudelndem Metal punkten. Es lässt das chillige akustische Pendant zu einem Roadmovie hinter sich, behält aber einen unbestimmten Defrage-Charakter. Die Stücke sind eindeutiger, haben mehr Individualität und unterscheiden sich stilistisch stärker voneinander. Dadurch wird The Sick Letter zu einem extrem abwechslungsreichen Album, das viele Überraschungen bereithält. Akustische, entspannte Stücke kommen diesmal ebenso zum Einsatz wie harter, mitreißender Metal, trotzdem spürt man in jedem Stück deutlich den dicken DEFRAGE-Stempel, den sich diese junge Band bereits erarbeiten konnte.
The Sick Letter ist ein rundum gelungenes und rundes Album, das nun auch die Metalheads besser bedienen dürfte, als Jackal das tat.
Für mich eine echte Entdeckung. Ich muss wirklich öfter durch die Fußgängerzone gehen.

Für den Moment ist das auch der einzige Weg, an den Silberling heran zu kommen – die Veröffentlichung über Amazon, iTunes und Co ist für Mitte Juni geplant und wird hier nochmal extra angekündigt werden.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Anspieltips:
Bonfire Song
The Sick Letter
Men of Honor 1914

Defrage – The Sick Letter, 2013
Independent
voraussichtlich ~15€

Tracklist:
1.    Bulgaria
2.    The Sick Letter
3.    Turn Back Time
4.    We Are Metal
5.    Secret of Life
6.    One World, One Dream
7.    Anti-Ballad
8.    Video Games
9.    Sign of the Times
10.    Bonfire Song
11.    Men of Honor 1914
12.    Lullalby
13.    Re In Carnations
14.    The Facebook
15.    Etiquette 2

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