Ein anderes Deutschland in der Zukunft

Die Küsten sind überschwemmt, weite Teile Deutschlands sind entvölkert, und die Natur erobert sich verlassene Ortschaften zurück. Berlin ist nur noch eine Kulisse für Touristen. Regierungssitz ist Frankfurt, das mit dem gesamten Rhein-Main-Gebiet zu einer einzigen Megacity verschmolzen ist. Dort, wo es eine Infrastruktur gibt, funktioniert sie einwandfrei. Nahezu das gesamte Leben wird von Algorithmen gesteuert. Allen geht es gut – solange sie keine Fragen stellen.
Liina, Rechercheurin bei einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale, wird in die Uckermark geschickt, um eine, wie sie glaubt, völlig banale Meldung zu überprüfen. Dabei sollte sie eigentlich eine brisante Story übernehmen. Während sie widerwillig ihren Job macht, hat ihr Chef einen merkwürdigen Unfall, der ihn fast das Leben kostet, und eine Kollegin wird ermordet. Beide haben an der Story gearbeitet, die Liina versprochen war. Anfangs glaubt sie, es ginge darum, ein Projekt des Gesundheitsministeriums zu vertuschen, aber dann stößt sie auf die schaurige Wahrheit: Jemand hat die Macht, über Leben und Tod fast aller Menschen im Land zu entscheiden. Und diese Macht gerät nun außer Kontrolle.

Zoë Becks neuestes Buch wird als Thriller eingeordnet, für mich ist Paradise City eine Symbiose von Science Fiction und Thriller. Wie die Autorin bereits mit Die Lieferantin bewiesen hat, bewegt sie sich geschichtlich gern in der näheren Zukunft (die oftmals schneller Wirklichkeit wird als man glauben möchte, man nehme Drohnen-Lieferungen). Wollen wir mal hoffen, dass sie mit den Gegebenheiten im aktuellen Buch nicht völlig ins Schwarze getroffen hat: Ein Smartcase und die KOS-App, damit wird das Leben des Einzelnen bis ins Kleinste überwacht und gegängelt – Lütten Klein, ein realer Ort, der im Thriller zum großen Gefängnis bzw. zur Integrationsunterbringung wird – gereist wird nur mehr über Computersimulationen etc.
Das Entwerfen der Protagonistin und das Setting ist ihr dieses Mal wieder hervorragend gelungen. Liina ist eine vielschichtige Person, die ein großes Geheimnis birgt, das nach und nach aufgedeckt wird. Sie zeigt auch Gefühle, aber das ist nicht vordergründig und doch intensiv. Es geht um Ungereimtheiten, die es in diesem anderen Deutschland und in Bezug auf den Verunglückten und die Tote aufzudecken gilt – koste es was es wolle. Es gibt im Umfeld von Liina Personen, die nicht auf der Ja-Sager- und Mitläufer-Schiene fahren, sondern sich für das Warum und Wieso interessieren und ihr zur Seite stehen.
Ist diese neue Weltenordnung und Paradise City wünschenswert? Ein Deutschland nach überstandenen Pandemien, mit vollkommener Überwachung, ein Ausscheren des Einzelnen bzw. der Bürger ist nicht gewollt, Krankheiten und Behinderungen sind so gut wie nicht vorhanden, und diese Megacitys? Wohl kaum, obwohl man bereits Gemeinsamkeiten erkennen kann. Wir sollten die Augen aufhalten, wohin der Weg in den nächsten Jahren geht, uns nach Möglichkeiten engagieren, ähnlich wie Zoë Beck als Frau und Verlegerin. Ich bin oft von ihrer Energie beeindruckt, davon hat sie Liina auch etwas mitgegeben.
Trotz des Buchtitels ist nicht alles so wie es scheint, und das ist auf jeden Fall höchst interessant zu verfolgen und vielleicht auch ein Anreiz für den Leser, mehr zu tun und hinzuschauen.

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Zoë Beck: Paradise City
suhrkamp taschenbuch Verlag, Vö. 20.06.2020
281 Seiten
16 €

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