WHOLE – das sind Thomas Schernikau (Forced to Mode, Forced Movement) und Alexander Leonard Donat (Vlimmer, Fir Cone Children, ASSASSUN). Die beiden Berliner Soundtüftler sind seit 2014 gemeinsam aktiv und haben kürzlich ihr aktuelles Album Hydra über Blackjack Illuminist Records veröffentlicht. WHOLE zeigen hier eindrucksvoll ihre musikalische Bandbreite. Die Atmosphäre ist vielschichtig, die Tracks sind voller Emotionen und  mit vielfältigen Genrefarben in den einzelnen Kompositionen – komplexe und fesselnde Songs, die komplexe Stimmungen transportieren  und uns tief  in WHOLES fantastischen Klangkosmos hineinziehen. Whole_02

Ihr seid in verschiedenen Musikprojekten aktiv. Wie habt ihr euch kennengelernt? Wie ist euer gemeinsames Projekt WHOLE entstanden?

Thomas: Wir haben uns 2009 im Rahmen der gemeinsamen Europatour unserer beiden damaligen Bandprojekte Forced Movement und Leonard Las Vegas kennen- und schätzen gelernt. Nachdem wir dann den ein oder anderen Remix für den jeweils anderen erstellt hatten und lose im Kontakt blieben, fragte ich Alex 2014, ob er Lust hätte, gemeinsam an ein paar Skizzen und Ideen zu arbeiten, ohne schon an ein gemeinsames Bandprojekt zu denken. Daraus entstand dann WHOLE.

Was verbindet euch?
Alex: Mich fasziniert, wie wir trotz unterschiedlicher Backgrounds völlig natürlich und mühelos einen Sound kreieren, der unsere Vorlieben vereint. Radiohead und Nine Inch Nails waren direkt zu Beginn unseres Kennenlernens der gemeinsame Nenner, eine Art Brücke zwischen unseren musikalischen Sozialisationen. Ansonsten empfinde ich uns, was Genre-Präferenzen betrifft, als recht unterschiedlich. Das macht es unglaublich spannend beim gemeinsamen Musikmachen.
Thomas: Die Liebe zu melodiöser aber auch überraschender und herausfordernder Musik. Nicht in Schubladen zu denken und alles ausprobieren zu wollen und auch die eigenen (musikalischen) Grenzen auszuloten … Des Weiteren haben wir schnell gemerkt, dass wir uns gut ergänzen und es selten Konflikte gibt und es insgesamt ein sehr positiv aufgeladenes Gemeinschaftswerk ist. Es ist einfach ein sehr kreatives und freundschaftliches Verhältnis.

Was sind eure ersten musikalischen Erinnerungen? Woher kommen euer Interesse und die Faszination für Musik?
Alex: Ich mit einem Wienerwürstchen auf der Rückbank unseres Autos, nachdem mich meine Mutter vom Geigenunterricht abgeholt hat, der irgendwo im 15. Stock eines Hochhauses unweit des Berliner Rathauses stattfand. Da war ich vier oder fünf. Ich wuchs in einer Musikerfamilie auf. Mein Großvater Siegfried Stöckigt war klassischer Pianist, mein Vater Michael ebenso. Ich wuchs bis zum zehnten Lebensjahr mit rein klassischer Musik um mich herum auf, bevor ich eine Kassette mit dem Soundtrack von „Turtles II – The Secret of the Ooze“ in die Hände bekam. Ich liebte es, auch wenn es mich musikalisch überhaupt nicht prägte. Wirklich tiefgehende Leidenschaft für Musik entwickelte sich erst mit etwa 17 oder 18, als ich in der Schule mit alternativer Musik in Berührung kam, irgendwie KoRn, Limp Bizkit und Deftones entdeckte und ein Mitschüler eine Ausgabe des VISIONS-Magazins dabei hatte, in dem ich mehr über die genannten und ähnliche Bands erfuhr. Ich öffnete diese Tür und fand ein unfassbar großes Angebot an unterschiedlichen Genres dahinter. Alternative Rock, Emo, Post-Rock, Indie Rock, damit ging es los. Spätestens mit der Entdeckung des Sub-Genres Shoegaze war es dann komplett um mich geschehen. Krach und Melodie? Ja, bitte!
Thomas: Bei mir war es das Hören der Hörspielplatten (mit Musik) von Pittiplatsch und Schnatterinchen, aber immer im Wechsel auch schon mit „erwachsener“ Musik von Pink Floyd, Mike Oldfield oder auch Kraftwerk aus dem Plattenschrank meines Vaters. Des Weiteren wurde auch viel Radio gehört und ich habe von kleinauf einiges an Musik aufgesogen und unbewusst wohl auch schon analysiert. Bevor ich selbst anfing Musik zu machen, sollten noch ein paar Jahre vergehen, das begann bei mir erst so mit 13 oder 14 mit der ersten Akustikgitarre und dem allerersten (Billig-)Synthesizer, damals noch aus dem Katalog einer großen Warenkette …

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Was ist Klang für euch?
Thomas: Für mich sollte der Klang etwas Eigenes/Originelles haben, so in etwa wie eine hörbare Visitenkarte. Somit war mir Sounddesign und Klangforschung immer schon wichtig und in allen bisherigen eigenen musikalischen Projekten ein zentraler Bestandteil, sei es bei Forced Movement oder natürlich auch bei WHOLE. Es muss dabei nicht zwangsweise elektronisch oder kompliziert sein, am Ende geht es immer darum bei sich und dem Hörer Emotionen und Assoziationen zu wecken, das macht guter und interessanter Klang für mich aus.
Alex: Klang ist selten ein einzelner Ton oder ein loses Geräusch für mich, sondern vielmehr das Zusammenspiel aus mehreren, gern konträren Geräuschen, entscheidend ist generell die richtige Kontextualisierung. Damit will ich sagen, dass mich beispielsweise eine einzelne Akustikgitarre für gewöhnlich nicht reizt, wenn darüber aber beispielsweise weißes Rauschen liegt, Dreck oder die Illusion einer hallenden Fabrikhalle, dann hat es die Macht, mich emotional zu berühren. Klang ist dann übermächtig.

Beschreibt euren Sound mal außerhalb aller Genre-Schubladen. Wie klingt eure Musik?
Alex: Wir streben eine ausgewogene Mischung aus anspruchsvoller und eingängiger Musik sowie Vergangenheit und Gegenwart an und benutzen dabei vorwiegend elektronische Sounds, die Emotionen transportieren sollen.
Thomas: Wie der Bandname schon suggeriert: es klingt nach „allem“. Ich glaube, anfänglich waren wir da noch etwas ziellos und wankelmütig, mittlerweile hat sich ein WHOLE-Sound entwickelt, der im Kern elektronisch und atmosphärisch ist, gerne auch mal etwas kantiger, aber es gibt weiterhin kein Dogma irgendwas auszuschließen. Mein Ziel auch für die Zukunft ist es, unseren Klang noch mehr zu optimieren bzw. auf das absolut Wesentliche zu reduzieren ohne dabei langweilig oder vorhersehbar zu werden.

Welchen Einfluss hat eure Umgebung auf eure Musik?
Thomas: Natürlich hat alles um uns herum einen Einfluss auf uns und damit indirekt auch auf die Musik, aber bewusst sehe ich keine direkten Inspirationen. WHOLE ist für mich ein in sich natürliches Gebilde, das sehr authentisch und ohne Zwang oder Plan für sich selbst steht und auf gesunde Art wächst und gedeiht.
Alex: Mein musikalisches Umfeld und dann die Entdeckung der alternativen Musik war in den ersten 20 Lebensjahren sicherlich am entscheidendsten: Musik im Elternhaus; Menschen, die mir Musik zeigten; die CD-Abteilungen im Media Markt und WOM. Da ich aber nicht die immergleichen Alben hören will, bin ich nonstop an neuen Veröffentlichungen interessiert. Dabei helfen mir vor allem Musikmagazine (Print), Websites, Social Media, Spotify und Konzertbesuche, auf denen auch mal Bands überzeugen, die man nicht auf der Rechnung hatte. Und alles, was ich konsumiere, hat letztlich auch indirekt oder direkt einen Einfluss auf das eigene musikalische Schaffen.

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Ihr lebt in Berlin, was gefällt euch an dieser Stadt? Inwieweit inspiriert euch urbane Kultur und ggf. die Auseinandersetzung damit?
Thomas: Die Toleranz und Offenheit in Berlin ist absolut kreativitätsfördernd, manchmal nervt das Gewimmel, der Lärm und der Schmutz natürlich, aber insgesamt passt Berlin als Band-Basis sehr gut zum Sound und Feeling von WHOLE. Grundsätzlich ist es auch toll, so ein großes kulturelles (Über-)Angebot in der Stadt zu haben. Das inspiriert und spornt auch an.
Alex: Zwar bin ich in Berlin geboren, aber gelebt habe ich dort nie. Da ich in Neukölln arbeite, WHOLEs Proberaum in Berlin ist, ich 80 % aller besuchten Konzerte hier sehe, ist Berlin trotzdem in meiner DNA. Ich liebe die Atmosphäre, den chaotischen, kreativen, weltoffenen Charakter. Zwar ist es schade, dass immer wieder auch liebgewonnene Clubs verschwinden (zum Beispiel Knaack und Magnet), aber ich habe das Gefühl, dass sich immer neue Gelegenheiten auftun und überraschende Türen öffnen. Mich inspirieren Konzerte genauso wie moderne Museen. Und davon hat Berlin einige.

Welche künstlerischen Einflüsse außerhalb der Musik haben eure Herangehensweise an eure Musik beeinflusst?
Thomas: Da ich früher in der Medienbranche eher im Bereich der Bildbearbeitung gearbeitet habe, ist für mich Musik auch immer mit Bildern verbunden, ob mit Grafiken, Videos oder nur im eigenen Kopf, daher ist mir eine gewisse filmische Qualität in der Musik wichtig und ich liebe es, gute Filme mit ansprechender Musik zu schauen und als Gesamtkunstwerk zu genießen.
Alex: Losgelöst vom rein Musikalischen haben vor allem soziale Erlebnisse einen großen Einfluss auf das Lyrics-Schreiben. Wie ich erst vor drei, vier Jahren feststellte, kann ich darüber negative Gefühle entsorgen und abhaken.

Kürzlich habt ihr euer zweites und großartiges Album HYDRA veröffentlicht. Wie war der Weg von der ersten Idee bis zum fertigen Album? Wie haben sich die Songs während dieser Zeit entwickelt? Gab es besondere Momente, die euch und eure Kreativität herausgefordert haben?

Alex: Wenn ich genau drüber nachdenke, ist es krass, dass HYDRA ein Schaffensprozess war, der bereits begann, bevor unser Debüt BIAS rauskam. Große Teile des Closers „Morricone“ zum Beispiel entstanden vor 2017, aber erst 2023 hatte Thomas die zündende und notwendige Idee für den Schluss. Das war sicherlich eine Herausforderung, aber aufgrund des reichhaltigen Materials, hätten wir wohl einfach eine andere Tracklist zusammengestellt – ohne den Song. BIAS entstand ohne Idee für eine Live-Umsetzung, zumindest bei mir. Das war bei HYDRA grundlegend anders, hier sah ich uns vor dem geistigen Auge auf der Bühne, während ich an den Songs saß. Unser Sound hat sich deswegen auch eher präzisiert, als komplett gewandelt. Wir sind ein Duo, das elektronische Musik spielt, weswegen der Anteil an Gitarren zum Beispiel noch mal ab- und der Anteil an Synthpop-Charakter zunahm. Prominente Ausnahme: Die schon fast als funky zu bezeichnende Akustikgitarre von „Dead deer“ und mein Sprechgesang. Mal schauen, wie wir das live machen. Vor meinem inneren Auge wird’s geil!

Thomas: Der Startschuss zu HYDRA fiel eigentlich direkt nach dem ersten Album BIAS, und als wir anfingen 2019 mit WHOLE Konzerte zu geben und mit unseren Live-Versionen eine Schärfung im Band-Sound hin zu mehr Elektronik und entschlackten Arrangements vorzunehmen. Außerdem wurden schon erste HYDRA Songs in ihrer Urform im Rahmen der ersten Konzerte gespielt wie „Ten commandments“ oder „Flood marker“. Durch Corona gab’s dann etwas Verzug bei den Arbeiten am Album, bevor dann 2022 das Grundgerüst stand und in den folgenden Monaten neben unseren anderen Projekten, sei es musikalisch, beruflich oder familiär, nach und nach vervollständigt und verfeinert wurde.  

Was sind für euch thematische Inspirationen, die sich auch in den Texten niederschlagen?
Alex: Soziale Konflikte jeglicher Art, persönlich sowie global. Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum die Menschheit es nicht hinbekommt, aus den Verfehlungen der Vergangenheit zu lernen und friedlich miteinander zu leben. Ich beschreibe jedoch eher Zustände, als Lösungsansätze zu präsentieren. Ich bin dennoch ein Fatalist der optimistischen Sorte.
Thomas: Alles kann und wird zumindest unbewusst in die Texte einfließen, das kann gesellschaftlich, kreativ oder auch persönlich sein. WHOLE hat kein klares Themenfeld, und bis jetzt haben die Texte und auch die Musik immer ganz automatisch gut zueinander gepasst.

In welcher Beziehung steht und/oder repräsentiert der visuelle Aspekt eure Musik?
Alex: Da ich bislang für den visuellen Teil unserer Releases verantwortlich war: Ich möchte entschieden vermeiden, irgendwelchen Genre-Klischees hinterherzurennen. Seien wir mal ehrlich: Oft erkennen wir schon anhand des Cover-Artworks, um welches Genre es sich musikalisch handelt. Das gilt vor allem in klar definierten Genres wie Metal, Goth, Industrial, Hiphop und Country, um nur einige zu nennen. Es gibt bei frischeren Bands aber einen Trend – oder zumindest einen Ansatz – hin zu einer neuen Visualisierung. Der Menschen Liebe zum Schubladendenken wird diesbezüglich aber eine Revolution zu verhindern wissen. Bei der Masse an wöchentlich veröffentlichter Musik ist es ja auch nicht verwunderlich, wenn Hörer und Hörerinnen schon anhand der Verpackung an die Hand genommen werden: „Hier, obskures Metallbesteck auf rostigem Untergrund. Sind das Blutreste, ist das Erde? Egal, muss Industrial/EBM sein.“ Oder: „Guck mal, Typ mit Cap vor bouncendem Auto. Hochglanzpoliert! Lust auf Hiphop?“ Klar, beim Artwork von HYDRA wird man wohl keine Happy-People-Musik erwarten, dazu ist der verstörende Charakter inmitten einer südeuropäisch anmutenden Altstadtkulisse zu präsent. Aber zumindest auf dem Cover muss man genauer hinsehen, um die Verbindung zum Albumtitel zu ziehen. Spätestens im Booklet wird daraus übrigens eine visuelle Erzählung hin zum totalen Unheil. Eine „in-your-face“-Abbildung einer Hydra auf dem Cover wäre mir jedenfalls zu platt gewesen.
Thomas: Alex ist unsere Art Director innerhalb der Band und überrascht mich immer wieder (positiv) mit seinen Ideen und Vorschlägen. Eine ansprechende und auch individuelle „Verpackung“ ist uns beiden wichtig, und in Zukunft hoffen wir da auch unser Spektrum noch zu erweitern, sei es im Bereich der Releases und Packages oder auch ob man auch mal mit Bewegtbild arbeitet (Musikvideo o.ä.).

Was beutet es für euch live auf der Bühne zu spielen / der Kontakt zum Publikum?
Alex: Live zu spielen setzt Energien in mir frei, von denen ich nicht genug bekommen kann. Auf der Bühne fühle ich mich zuhause, kann tun, was ich will, etwas präsentieren, auf das ich stolz bin. Dabei liebe ich die Rolle des Underdogs, der nichts zu verlieren hat und dabei das Publikum unterhalten möchte. Niemand soll nach einem Konzertabend nach Hause gehen und erzählen, dass WHOLE nichts geboten haben. Nach den Shows bin ich zudem gern am Merch-Stand und unterhalte mich mit interessierten Menschen.
Thomas: Sehr viel. In gewisser Weise war der Moment des Live-Spielens für WHOLE so etwas wie die echte Geburt dieses Projektes als eigenständiges Geschöpf. Gerade für Alex, der bis jetzt mit seinen anderen aktuellen Projekten (Vlimmer, Fir Cone Children, ASSASSUN, Feverdreamt) nicht live auftritt und auch für mich, da es eigene Musik ist und eben kein Cover/Tribute-Projekt wie bei Forced To Mode, mit denen ich pro Jahr zwischen 60-70 Shows spiele.

Was sind eure Pläne? Worauf freut ihr euch am meisten?
Thomas: Erstmal noch ein wenig das aktuelle Album promoten, vielleicht mit dem ein oder anderen Remix sowie noch mit einigen Live-Auftritten Ende dieses/Anfang nächsten Jahres. Dafür werden wir noch ein paar der bisher nie gespielten Songs neu mit ins Programm nehmen. Darauf freue ich mich schon sehr. Und ich denke auch, das wir zeitnah die Arbeit zum dritten Album aufnehmen werden, ein paar Ideen und Songansätze gibt’s schon, das wird auf jeden Fall spannend. Ich habe ein sehr gutes Gefühl.
Alex: Ich freue mich wahnsinnig darauf, die neuen Songs auf der Bühne zu präsentieren. Ab Herbst sind wir endlich wieder zurück on stage.

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